Drei Männer der ersten Runde
Im Jahr 2000 haben wir Ahnenforschung betrieben und in der Startaufstellung des ersten Grand Prix der Geschichte geforscht. Nur drei Männer hatten die 50 Jahre überlebt. Wir haben Emmanuel de Graffenried, Eugène Martin und Geoffrey Crossley und ihre Rennautos besucht.
Sie haben kein Formel 1-Rennen gewonnen, geschweige denn einen WM-Titel. Trotzdem sind sie ein Stück Motorsportgeschichte. Emmanuel de Graffenried, Eugène Martin und Geoffrey Crossley eint ein Datum, an dem die moderne Formel 1-Weltmeisterschaft geboren wurde.
Die Erfolgsstory begann hochoktanig und dünn bereift am 13. Mai 1950 in Silverstone. Mit 21 Startern war das Feld des Grand Prix von Europa beinahe so gut gefüllt wie heute. Den 50. Geburtstag des ersten Grand Prix erlebten nur noch drei Männer der ersten Stunde. Und wir besuchten sie damals im Jahr 2000.
Sie aufzuspüren begann mit dem Studium der Startaufstellung. Wer hat überlebt, und wo sind sie geblieben? Joe Fry war bereits zwei Monate nach dem Rennen tot. Er starb im Juli 1950. Joe Kelly, ein Privatfahrer aus Dublin, lebte bis 1997.
Suche quer durch Europa
Die Suche nach den drei Veteranen und ihren Autos führte quer durch Europa, und sie beginnt in der Nähe von Lausanne. Emmanuel de Graffenried ist mit 86 Jahren der Älteste des Trios. Die Hüfte macht Probleme, weshalb er nicht mehr in seinen Maserati klettern kann. Der Grandseigneur, den alle nur Toulo nannten, lässt erahnen, was mit dem Begriff Herrenfahrer einmal gemeint war.
Mit 22 GP-Starts und neun WM-Punkten zwischen 1950 und 1956 ist der Schweizer der bekannteste Name des Trios. Einziger Schönheitsfehler: Er gewann in Silverstone ein Jahr zu früh. 1949 zählte das Rennen noch nicht zur WM.
Über Geoffrey Crossleys Verbleib wussten nur zeitgenössische Reporter Bescheid. Der 79-Jährige mit der Einstein-Frisur lebt im Umland von Oxford. Mit zwei GP- Einsätzen 1950 in Silverstone und Spa war er der klassische Gelegenheitsrennfahrer. Die Brötchen verdiente er mit einer Tankstelle in Nottingham.
Der Alta, mit dem er zwischen 1949 und 1951 seine Rennen bestritt, kostete 2.000 Pfund. Reifen und Bremsen wurden von der Zubehörindustrie gestellt. Ab der Geburt seiner Tochter beschloss Crossley 1951, das teure Hobby aufzugeben. Er verkaufte sein Rennauto und die Tankstelle und sattelte auf ein solides Metier um. Die Einrichtung von Pubs ist in England ein krisensicheres Geschäft.
Martin, ein Tüftler und Ingenieur
Die Spur zu Eugène Martin führte über einen befreundeten Rechtsanwalt aus Tours. Der Franzose mit der Jockeyfigur hat sich im Rentenalter in La Rochelle niedergelassen. Martin, Jahrgang 1915, rühmt sich, einmal Juan-Manuel Fangio geschlagen zu haben, als der noch Gordini fuhr. Den größten Eindruck hinterließ jedoch Tazio Nuvolari. „In schwierigen Kurven sprach der Meister immer mit sich selbst.“
Martin war ein Tüftler und Ingenieur. Gleich nach dem Krieg rüstete er in Paris mit 27 Angestellten Lieferwagen von Benzin- auf Alkoholbetrieb um. Seine Rennautos modifizierte er eigenhändig. So verpasste er dem Talbot-Lago in Silverstone einen längeren Ganghebel: „Wegen der Vibrationen war es schwierig, mit dem serienmäßig kurzen Ganghebel präzise zu schalten.“
Ein schwerer Unfall am Bremgartenring von Bern besiegelte Martins Formel 1-Karriere. „Die Bremsen zogen einseitig. Ich stellte mich quer und wurde aus dem Auto geschleudert.“ Nachdem der Beinbruch ausgeheilt war, tauchte Martins Name nur noch bis 1954 bei nicht zur WM zählenden Rennen auf.
Das Startgeld betrug 95 Pfund
Das Andenken an den historischen Moment in Silverstone ist geprägt vom Charakter des Einzelnen. Baron de Graffenried, der Aristokrat, sieht sich und seine Kollegen noch heute bei König George VI. Spalier stehen, als wären sie auf Hofbesuch im Buckingham Palace.
Martin, der fahrende Ingenieur, ärgert sich 50 Jahre danach über das aufschäumende Öl in seinem Sechszylinder-Talbot-Motor, was ihm den sechsten Platz raubte. Und Crossley, ganz geschäftstüchtiger Brite, räumt freimütig einige Gedächtnislücken ein, aber eines weiß er ganz genau: „Es gab 95 Pfund Startgeld.“
Wenn so manche Erinnerung schon verblasst ist, liegt es daran, dass der erste Grand Prix nur für Nostalgiker die Aura des Besonderen verströmt, nicht aber für jene, die ihn selbst gefahren sind. „Es war“, sagt Eugène Martin, „ein Rennen wie jedes andere. Die historische Bedeutung wurde uns damals nicht bewusst.“
Das Programmheft von Silverstone zitiert den Veranstalter mit einem Verhaltenskodex für Zuschauer und Fahrer. „Rauchen“, steht da, „ist erlaubt. Auch die Rennfahrer tun es. Mit Maß genossen, ist dagegen nichts einzuwenden. Beim Rennfahren entscheidet nicht die Ausdauer, sondern der Kopf.“ Und langsamen Piloten wurde empfohlen: „Halten Sie die rechte Spur. Autorennen wurden in Frankreich erfunden. Deshalb gelten die Verkehrsregeln des Kontinents.“
Der Talbot-Lago war ein wahres Ungetüm
So unterschiedlich wie die Lenker waren auch ihre Autos. Graffenrieds roter Maserati 4CLT/48 stammt aus dem Jahr 1948. Der 1,5-Liter-Vierzylinder-Reihenmotor mit Zweistufen-Kompressor leistete 260 PS bei 7500/min. Mit lediglich 625 Kilogramm Trockengewicht zählte die Rohrrahmen-Konstruktion zu den wendigen Autos im Feld.
Die Talbot-Lago T26C von Konstrukteur Carlo Marchetti waren im Vergleich dazu mit ihren 850 Kilogramm Kampfgewicht wahre Ungetüme. Der 4,5-Liter-Reihensechs Zylinder mit Doppelzündung und drei Doppelvergasern gab bei 5000/ min 280 PS ab. Der Fahrer saß breitbeinig wie in den Vor- kriegs-Mercedes in einer gartenstuhlartigen Schale. „Das Heck“, amüsiert sich Martin, „ machte, was es wollte. Meistens wollte es ausbrechen.“ Talbot-Darraq ließ 14 Autos des Modells T26C bauen. Dagegen ist der Alta von Geoffrey Crossley ein wahrer Exot. Vom GP-Type wurden nur drei Exemplare produziert. Zwei sind verschwunden. Das Dritte stand im jetzt aufgelösten Museum von Donington. Die Autos der Alta Car and Engineering Company aus Tolworth waren so selten wie eigenwillig.
Konstrukteur Geoffrey Taylor versah den Leiterrahmen mit einer Einzelradaufhängung, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Die Querlenker ruhten auf kreisrunden Gummiklötzen, die als Federung fungierten. Das gab dem 650 Kilogramm schweren Auto ein gutmütiges Fahrverhalten. Crossley lobt rückblickend „das besonders stabile Heck“. Der 1,5- Liter-Vierzylindermotor brachte es bei 7000/min auf 230 PS, die über ein voll synchronisiertes Vierganggetriebe auf die Antriebswellen übertragen wurden.
Chancenlos gegen die Alfa Romeo-Armada
Gegen die vier Auto gewaltige Armada der 350 PS starken Alfa Romeo 158 waren die Maserati, Talbot-Lago und Alta genauso chancenlos wie heute ein Minardi gegen McLaren-Mercedes. Eugène Martin trennten auf Startplatz sieben schon 4,6 Sekunden von Nino Farinas Bestzeit. Graffenried fehlten fünf Sekunden, Crossley, dem 17. der Startaufstellung, gar 11,8.
Man startete in Vierer- und Dreier-Reihen. Das komprimierte das Feld bis zur ersten Kurve. Der Start verlief trotzdem ohne Probleme. „Unsaubere Manöver wie Abdrängen oder Blockieren gab es bei uns nicht“, erinnert sich Crossley.
Für de Graffenried, Martin und Crossley verlief das Rennen enttäuschend. Martin stellte seinen Talbot-Lago nach neun Runden wegen Problemen mit der Ölversorgung ab. Graffenried reihte sich in Runde 34 mit einem Motorschaden unter die Zuschauer ein. Crossley sah das Ziel, wurde aber wegen seines Rückstandes von 27 Runden nicht gewertet. „Mitten im Rennen“, schüttelt Crossley sein Haupt, „ haben sie mich an die Boxen geholt. Als ich anhielt, fragten sie mich, ob ich ein Problem hätte. Das Auto lief einwandfrei.“
Bei der Suche nach weiteren Überlebenden fand sich schließlich noch ein vierter Name. Einschränkung: Major Tony Rolt war Teilnehmer, aber kein Starter, was nur scheinbar ein Widerspruch ist. Das Reglement der fünfziger Jahre gestattete es den Fahrern, sich untereinander abzulösen. So kam Rolt zu einem Einsatz, ohne trainiert zu haben. Der Le Mans-Sieger von 1953 übernahm den kränkelnden E.R.A. von Peter Walker und fuhr noch drei Runden damit, bis er ihn mit Getriebeschaden an den Boxen abstellte. Rolt, Jahrgang 1911, starb 2008.
Auch unsere drei Musketiere der ersten Stunde leben nicht mehr. Geoffrey Crossley starb im Januar 2002 im Alter von 80 Jahren, Eugène Martin im Oktober 2006 und Emmanuel de Graffenried im Januar 2007. Der Schweizer wurde 92 Jahre alt.
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