So funktionierte der Kvyat-Trick
Selten war ein Taktikcheck so kompliziert. Der GP Deutschland war ein Rennen, bei dem die Strategegen alles falsch und wenig richtig machen konnten. Das Timing der Boxenstopps war entscheidend.
Das Hockenheim-Rennen zu lesen war eine Doktorarbeit. Selbst die Teams blickten nicht immer durch. Und so mancher Fahrer ließ sich von seiner Box fernsteuern, weil er selbst den Überblick verloren hatte. Bei 78 Boxenstopps und 63 Überholmanövern kein Wunder. Das Rundenprotokoll gleicht wilden Fieberkurven, die von einem Extrem zum anderen pendelten.
Nur bei einem verläuft die Linie relativ konstant. Für Sieger Max Verstappen ging es nach einem schlechten Start fast immer nur nach vorne. Aber schon Sebastian Vettels Aufholjagd zeigte, wie wild die Schwankungen im Feld ausfielen. Zur Verdeutlichung hier mal die Positionen , die Vettel beim Start, vor und nach seinen fünf Boxenstopps und im Ziel eingenommen hat: 20-12 (Regen -> Inter) – 18-8 (Inter -> Soft) – 11-7 (Soft -> Inter) – 8-7 (Inter-> Inter) – 10-3 (Inter -> Soft) – 9-2.
Wie verrückt das Rennen war, zeigen ein paar Kuriositäten. Lance Stroll führte das Rennen für zwei Kilometer an. Der drittplatzierte Daniil Kvyat lag bei Halbzeit noch auf Platz 11. Lewis Hamilton führte in Runde 47, und lag nur eine Runde später auf Rang 12. Er kam sechs Mal zum Reifenwechsel und verbrachte mit 2.58,866 Minuten mehr Zeit als jeder andere in der Boxengasse. Carlos Sainz vergeudete mit drei Boxenstopps die geringste Zeit an den Boxen. Mit 1.04,038 Minuten nur fast ein Drittel von Hamilton.
Es macht wenig Sinn, diesen Grand Prix mit vier Safety-Car-Phasen chronologisch abzuarbeiten. Die Aufzählung der Ereignisse würde nur noch für mehr Verwirrung sorgen. Die SafetyCar-Abschnitte in den Runden 2 bis 4, 28 bis 33, 41 bis 45 und 57 bis 59 luden zum Gratis-Boxenstopp ein. Nicht alle haben sie immer genutzt. Manchmal war es einfach auch besser auf der Strecke zu bleiben.
Die 64 Runden von Hockenheim lassen sich in fünf Phasen einteilen. Regenreifen bis zur dritten Runde, Intermediates bis Runde 23, ein kurzes Slick-Intermezzo bis Runde 29, dann ein längerer Intermediate-Abschnitt bis zum 46. Umlauf, in dem viele gleich zwei Mal auf die Mischreifen gingen, weil sie auf der halb trockenen, halb nassen schnell in die Knie gingen. Ab der 47. Runde war jeder auf Soft-Reifen unterwegs.
Entscheidend für das Ergebnis waren nicht die Rundenzeiten, sondern das Timing der Boxenstopps und die Reifenwahl. Wegen der vielen Safety-Car-Phasen wurden die Abstände immer wieder auf Null eingedampft. Wichtig war zur richtigen Zeit am richtigen Platz zu sein. Je später im Rennen die richtigen Entscheidungen getroffen wurden, desto besser.
So bügelten Carlos Sainz oder Lance Stroll noch locker Fehler aus dem ersten Renndrittel aus. Und Lewis Hamilton konnte sich für seine frühe 8,7 Sekunden-Führung am Ende nichts kaufen. Deshalb haben wir uns zu einem anderen Taktik-Check als sonst entschlossen. Wir gehen Teilnehmer für Teilnehmer durch und erklären, warum der jeweilige Fahrer am Ende auf seinem Platz gelandet ist.
Max Verstappen
Der Sieger war auch der schnellste Mann im Feld. Valtteri Bottas hielt ihn 25 Runden lang auf. Hamilton schenkte dem zweifachen Saisonsieger die Führung durch seinen Fehler. Den Rest erledigten die Strategen von Red Bull. Die fünf Reifenwechsel kamen alle zum richtigen Zeitpunkt. Drei davon in einer neutralisierten Rennphase. Immer früh, aber nie zu früh. Red Bull ließ mit einer Ausnahme jedes Mal einem anderen den Vortritt, reagierte dann aber schnell.
Nur beim Wechsel von alten auf neue Intermediates in Runde 41 führte Verstappen den Massenansturm an die Boxen an. Er konnte sich bei 9,7 Sekunden Vorsprung auf die Mercedes den Luxus eines Sicherheitsstopps leisten. Die Entscheidung für Medium-Reifen beim zweiten Boxenstopp war ein Fehler, den man fünf Runden später ohne große Verluste während der zweiten Safety-Car-Phase wieder korrigieren konnte. Der Dreher im Motodrom kostete nur eine Sekunde.
Sebastian Vettel
Auch Ferrari erwischte ein gutes Boxenstopp-Timing. Dabei stand Sebastian Vettels Rennen unter dem Motto, dass es nichts zu verlieren gibt. Also Risiko-Strategie. Vettel war der erste, der die Regenreifen los wurde (Runde 2), der zweite der auf Slicks setzte (Runde 23), unter den ersten, die ihre Wahl wieder zurück auf Intermediates korrigierten (Runde 28), und der Vorreiter von denen, die alte Intermediates gegen neue tauschten (Runde 41). Nur bei der finalen Entscheidung für Slicks (Runde 47) ließ sich Ferrari eine Runde zu lange Zeit. Das kostete Vettel sechs Positionen.
Für den Sieg hätte es auch mit einem früheren Stopp nicht gereicht. In der ersten Rennhälfte kam Vettel nicht so richtig in Schwung. Er pendelte im vorderen Mittelfeld hin und her. „Die Intermediates haben zu stark abgebaut. Ich hatte kein Vertrauen in die Reifen. Wir werden prüfen müssen, was da los war. Auf den Soft-Reifen stimmte dann das Tempo. Zum Schluss wären mir fast noch die Runden ausgegangen.“ Vettel münzte seinen Speedvorteil in den letzten 16 Runden maximal um. Er ging als Neunter in den Schlussangriff und kam als Zweiter ins Ziel.
Daniil Kvyat
Daniil Kvyat bezeichnete den GP Deutschland als ein Zwischending zwischen Horrorfilm und Komödie. Er steuerte zu beiden Genres etwas bei. „Der erste Wechsel auf Slicks war ein Fehler, der zweite goldrichtig.“ Weil Toro Rosso die falsche Reifenwahl nur drei Runden später wieder korrigierte, war der angerichtete Schaden zu Beginn gering. Kvyat konnte wenigstens seine Position knapp außerhalb der Punkteränge behalten. Danach bewegte sich der Russe eher unauffällig zwischen den Plätzen 9 und 11.
Dann erwischten die Toro Rosso-Strategen den perfekten Moment für den endgültigen Wechsel auf Slicks. Runde 45 war früh, aber nicht zu früh. Das Risiko abzufliegen war selbst da laut Kvyat noch hoch genug. „Als ich dann gesehen habe, dass viele andere draußen geblieben sind, wusste ich: Das ist meine Chance.“ Der Moment war deshalb so entscheidend, weil das Feld nach dem Re-Start der dritten Safety-Car-Phase noch eng zusammenlag. Und der Zeitgewinn der Slicks betrug immerhin vier Sekunden. Schon eine Runde war ein massiver Vorteil. Kvyats Leistung bestand darin, dass er Taktikgeschenk 18 Runden lang hartnäckig verteidigte. Nur gegen Vettel war er machtlos.
Lance Stroll
In der 45. Runde war Lance Stroll Letzter. Zwei Umläufe später führte der Kanadier das Feld für zwei Kilometer an. Von Kurve 1 bis zur Haarnadel. Dann zog Lewis Hamilton wieder vorbei. Stroll spielte bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle. Der Wechsel in der 44. Runde auf Slicks war der goldene Griff. Racing Point traute sich als erstes Team.
„Bei vier von meinen fünf Boxenstopps haben wir die falsche Wahl getroffen. Ich war immer auf den falschen Reifen unterwegs. In der ersten Slick-Phase habe ich mich in einer Runde drei Mal gedreht. Und auch der letzte Stopp war ein hohes Risiko. Drei Kurven waren noch richtig nass. Aber da sich keiner im Feld bewegt hat, wussten wir, dass wir etwas anderes machen mussten.“
Carlos Sainz
Nach 18 Runden glaubte Carlos Sainz, dass sein Rennen gelaufen war. Der Spanier war der erste, der in Kurve 16 ausrutschte. Aber er kam wieder zurück. „Meine Rallye-Erfahrung hat mir geholfen“, grinste der McLaren-Pilot, der durch den Zwischenfall von Platz 8 auf Rang 14 abrutschte und schon 20 Sekunden Rückstand auf den letzten Punkteplatz hatte. Sainz ging mit sich hart ins Gericht: „ Ich dachte, ich bin der einzige Depp, aber später ist einer nach dem anderen in der gleichen Kurve ausgerutscht. Und viele konnten nicht mehr weiterfahren. Da sah ich schon nicht mehr so blöd aus.“
Sainz bekam eine zweite Chance. Weil McLaren das Experiment ausließ zwischendurch mit Slicks zu fahren. Das sparte zwei Boxenstopps. Der letzte Reifenwechsel auf Slicks erfolgte in der ersten großen Welle in der 46. Runde. Sainz ging auf Platz 5 ins große Finale. Es hätte schlimmer kommen können. Trotzdem ärgerte sich Sainz: „Stroll und Kvyat sind mit ihrer Risiko-Strategie an uns vorbeigekommen. Das ist bitter, denn die beiden lagen vorher noch weit hinter mir. Ich konnte sie bei den Re-Starts nicht überholen, weil wir mit unserem kleinen Heckflügel Probleme hatten, die Reifen aufzuwärmen. Und dann musste ich noch mit einem gebrauchten Reifensatz in den letzten Stint. Stroll und Kvyat hatten frische Reifen. Sie waren ja schon im Q2 ausgeschieden.“ Der WM-Siebte rettete sich mit einem Vorsprung von nur 0,4 Sekunden vor Alexander Albon ins Ziel.
Alexander Albon
Der Thailänder ist zum ersten Mal mit einem Formel-1-Auto im Regen gefahren. Bei der Frage nach der Reifenwahl war Albon völlig überfordert. „Das Team fragte mich, ob es Zeit für Slicks sei. Ich habe ihnen gesagt: Ihr müsst mir helfen. Ich habe keine Ahnung. Gebt mir, was ihr für die beste Wahl haltet.“ Die Toro Rosso-Strategen lagen bei allen vier Boxenstopps richtig. Sie verließen sich bei den Reifen auf die Aussagen von Teamkollege Kvyat. Deshalb war der Russe immer etwas früher an der Box. Was bei dem kurzen Slick-Intermezzo vor Rennhälfte ein Nachteil war.
Albon fuhr nur eine Runde lang mit Slicks und tauschte sich gleich wieder gegen Intermediates ein. Mit dem Ergebnis, dass der Neuling plötzlich mit Hamilton um Platz 4 kämpfte. „Ich konnte es gar nicht glauben und fragte mich: Darf ich den überholen?“ Zu dem Zeitpunkt fuhr Kvyat noch auf Platz 11. Der frühere letzte Boxenstopp drehte das Pendel zugunsten des Russen. Kvyat war Dritter, Albon nur noch Siebter. „So gesehen ist der sechste Platz fast eine kleine Enttäuschung für mich“, gab der Mann zu, der in London geboren wurde aber mit thailändischer Lizenz fährt.
Romain Grosjean
Haas erlebte das übliche Bild: Im Training schnell, im Rennen langsam. Bei dem stark abgekühlten Wetter kamen die Reifen nicht auf Temperatur. Romain Grosjean merkte mit seiner Erfahrung schnell, dass es nur ums Überleben ging. Dann würden WM-Punkte fast automatisch auf dem Silbertablett liegen. So mogelte sich der Franzose mit der Standard-Taktik durch das Rennen. Grosjean machte nichts falsch, aber er riskierte auch nichts. Beim letzten Re-Start lag Grosjean auf Platz 10. Drei Positionen bekam er geschenkt. Durch Gaslys Crash und die Strafe für die beiden Alfa Romeo.
Kevin Magnussen
Im Gegensatz zu seinem Teamkollegen verlegte sich die Crew von Kevin Magnussen aufs Pokern. Der Däne war der letzte, der die Regenreifen ablegte (Runde 8) und der erste, der in der ersten Rennphase auf Slicks ging (Runde 21). Der eine Stopp war zu spät, der andere zu früh. Normalerweise kann man sich dann von WM-Punkten verabschieden, doch die vielen Safety-Car-Phasen stauchten das Feld immer wieder zusammen.
In der dritten Neutralisation versuchte Magnussen erneut, gegen den Strom zu schwimmen. Er holte sich in der gleichen Runde Slicks ab wie Kvyat. Doch er profitierte nicht so davon. Er kehrte zwar auf dem sechsten Platz ins Rennen zurück, doch dann fehlte der Speed. Magnussen wurde innerhalb von nur 10 Runden auf Rang 12 durchgereicht.
Deshalb nutze er die letzte Safety-Car-Phase zu einem sechsten Boxenstopp für einen weiteren Satz Soft-Reifen. Erst drei Runden vor Schluss rutschte Magnussen in die Punkteränge. Nicht aus eigener Kraft. Gasly verabschiedete sich durch Unfall. „Auf trockener Fahrbahn hatten wir keine Chance. Wir haben unsere Zeit in den Phasen gemacht, wo wir mit Slicks auf feuchter Strecke unterwegs waren“, gab Magnussen zu.
Lewis Hamilton
28 Runden lang haben Lewis Hamilton und Mercedes alles richtig gemacht. Der Vorsprung auf Teamkollege Bottas betrug bereits 8,7 Sekunden. Dann trat ein kleiner Fehler eine ganze Lawine von Pleiten, Pech und Pannen los. Das Team hätte besser auf seinen Fahrer gehört. Hamilton wollte nicht auf Slicks wechseln. Sein Gespür sagte ihm, dass es zu nass für die profillosen Trockenreifen war. Er fügte sich, „weil das Team einen besseren Überblick als ich habe.“
Hamilton bekam just in dem Moment Soft-Reifen, als es wieder stärker zu regnen begann. Eine Runde später rutschte er prompt in Kurve 16 aus und beschädigte sich dabei den linken Frontflügel. Damit geriet der ganze Marschplan aus den Fugen. Mercedes wollte eigentlich die Safety-Car-Phase dazu nutzen, Bottas wieder zurück auf Intermediates zu setzen. Doch der Mercedes, der in die Box kam, trug die Startnummer 44. Weder dessen Reifen, noch die Ersatznase lagen bereit. Die Crew wartete ja auf Bottas, und der brauchte keine Nase.
Hamiltons Reifen waren nicht nicht gleich auffindbar, und in der Hektik wurden auch noch Slicks mit Intermediates vertauscht. So vergingen 50,3 Sekunden. Der Schaden war noch nicht einmal so groß. Hamilton ging als Fünfter wieder ins Rennen. Es war für Mercedes ein Déja vu. Im letzten Jahr erwischte es auch in Hockenheim Valtteri Bottas. Für den Finne lagen die falschen Reifen bereit. Einer orderte Intermediates, ein anderer Ultrasoft-Gummis. Bottas wurde damals 17 Sekunden lang aufgehalten.
Es ist tröstlich, dass beim Weltmeisterteam auch nur Menschen arbeiten. Wenn es etwas zu verbessern gibt, dann vielleicht die Choreografie bei Chaosrennen. Trotz des Hamilton-Fehlers war noch nichts verloren. Als Bernd Mayländer in Runde 41 seinen dritten Einsatz hatte, ließ Mercedes zu große Vorsicht walten. „Wir waren mit dem Wechsel auf Trockenreifen zu spät dran und haben dadurch Positionen verloren“, gab Chefingenieur Andrew Shovlin zu. Jetzt fiel Hamilton die Fünfsekunden-Strafe auf den Kopf, die er sich beim Abkürzen in die Boxengasse nach seinem Ausrutscher in Kurve 16 eingehandelt hatte.
Da das Feld in dieser Phase noch dicht zusammenlag, rutschte Hamilton an das Ende der Wagenschlange. Aus der Aufholjagd wurde nichts. Nach einem Highspeed-Dreher in Kurve 1 musste der Weltmeister erneut an die Box. Der letzte Safety-Car-Einsatz brachte ihn zwar noch einmal an das Feld heran, doch die Restdistanz war zu kurz, um daraus Kapital zu schlagen. Nur an den Williams ging Hamilton noch vorbei. Auf Magnussen fehlten ihm 0,9 Sekunden.
Vier Stunden nach dem Rennen schenkten ihm die Strafen für die Sauber-Piloten zwei WM-Punkte. Für Hamilton kein Trost: „Ich habe das Rennen angeführt und wurde nur Elfter. Ich weiß noch nicht einmal genau, wie es genau dazu gekommen ist.“ Teamchef Toto Wolff resümierte: „Unser 200. Formel 1-Rennen war unser schwierigster Tag seit langen Zeiten. Wir müssen unsere Fehler analysieren und daraus lernen.“
Robert Kubica
Um 21 Uhr am Sonntag fand das Nachspiel zum GP Deutschland noch ein sentimentales Ende. Die 30-Sekunden-Strafe für die beiden Alfa-Piloten brachten Robert Kubica einen WM-Punkt. Ein schöner Lohn für einen Kämpfer nach neun Jahren Pause. Da Alfa Berufung angekündigt hat, wird Kubica noch ein bisschen zittern müssen. Die beiden Williams-Piloten haben von den Chaosrennen zunächst einmal durch die sieben Ausfälle profitiert. Und dann dadurch, dass sie dank der vier Neutralisationen nie überrundet wurden.
Taktisch waren die Rennen von Kubica und Russell eine Kopie. Der größte Unterschied bestand darin, dass Kubica seinen dritten Intermediate-Satz 10 Runden früher abholte. Russell mahnte an, dass Williams den Wechsel auf Slicks zu spät vollzog. Der Engländer kam eine Runde nach Kubica an die Box. Er wäre lieber mit Stroll oder Kvyat auf Soft-Reifen umgestiegen. Für ein Team, das nichts zu verlieren hat, kann sich Risiko nur auszahlen. Den möglichen Punktgewinn verspielte Russell durch einen Ausrutscher. In Runde 51 ging Kubica an ihm vorbei.