Voller Kalender, harte Entwicklung
Alfa Romeo-Sportdirektor Beat Zehnder blickt auf eine turbulente Corona-Saison zurück. Er spricht über das Leben in der Blase, über Flüge, die heute noch stattfinden und morgen nicht mehr und davon, dass wir uns auch in der ersten Saisonhälfte 2021 auf viele Änderungen vom Plan einstellen müssen.
Was war rückblickend das Schwierigste an der Corona-Saison 2020?
Zehnder: Das eine war der permanent geänderte Rennkalender. Da ist im Hintergrund viel mehr abgelaufen, als in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Während des 63-tägigen Lockdowns vor der Saison gab es mehrere Kalender-Möglichkeiten im Angebot. Eine davon hätte bedeutet, dass nach dem GP Japan der Grand Prix von Vietnam oder von China gefahren wird. Die Schwierigkeit war, dass ich mich permanent der Situation anpassen musste. Ich habe dauernd Flüge und Hotels neu gebucht, umgebucht, gestrichen. Kaum hatte ich eine Bestätigung, dass wir von Nagoya nach Hanoi fliegen können, wurde das Rennen gestrichen. Das war relativ aufwendig und kompliziert, es so zu organisieren, dass man keine Stornogebühren zahlen musste. Die andere Herausforderung war mit dem Virus zu leben.
Inwiefern?
Zehnder: Die Wahrnehmung gegenüber den Gefahren des Virus hat sich ständig geändert und damit musste man sich auch ständig anpassen. Es war schon sehr viel Arbeit zusammen mit der Formel 1, das Covid-Protokoll auszuarbeiten, um eine Basis zu schaffen, dass wir so sicher wie möglich fahren können.
Wie viel schwieriger war die Arbeit an der Strecke?
Zehnder: Nicht so viel. Man gewöhnt sich an gewisse Dinge. Das Team war eine Blase mit Untergruppen mit so wenig Kontakten wie möglich. Was aber in der Praxis nicht immer eingehalten werden konnte. Wenn kurz vor der Qualifikation ein Auto bereit steht und das andere Probleme hat, dann nimmst du logischerweise die Mechaniker-Crew des anderen Fahrzeugs mit dazu. Für mich war das sekundär. Uns war wichtig, dass das Team als ganzes sicher ist und regelmäßig getestet wurde.
Wir haben über die 17 Rennen in 23 Wochen wirklich nur in unserer Blase gelebt. In den meisten Fällen hatten wir ein Hotel für uns alleine. Dort, wo das nicht möglich war, haben wir uns abgetrennte Räume zum Essen organisiert. Zwei, drei Mal gab es Anlässe. Da haben wir jeweils ein Restaurant nur für uns allein reserviert. Wir hatten keine Möglichkeit, uns mal vom Team zu entfernen. Es war bis auf die wenigen freien Wochenenden dazwischen wie im Schullager.
Wie haben Sie die Fahrer geschützt?
Zehnder: Gleich wie den Rest des Teams. Das größte Risiko lag immer nach den freien Wochenenden, egal ob beim Fahrer oder irgendeinem anderen Teammitglied. Da hatten wir keine Kontrolle über die Leute, und das wollten wir auch nicht. Da habe ich an die Vernunft und die Verantwortung jedes einzelnen appelliert, dass sie keinen Blödsinn machen, nicht in Bars oder zum Stammtisch gehen. Man kann keinem verbieten, dass er Familienmitglieder oder enge Freunde trifft. Man sollte aber schon wissen, wie die unterwegs sind. Die Fahrer waren gleich instruiert. Alle haben sich wirklich vorbildlich verhalten. Wir hatten nach den freien Wochenende nur einen einzigen Fall.
Wie viele positive Fälle hatte Sauber insgesamt im letzten Jahr?
Zehnder: In der Fabrik weiß ich es nicht genau. Ich glaube, es waren fünf. Im Rennteam hatten wir sieben. Vier allein nach Sotschi. Dort hat es einige Teams erwischt. Da hat nachweislich der Dolmetscher vom Catering-Service teamübergreifend Leute angesteckt. In Portugal hatten wir einen Fall aus dem Nichts heraus in der Aufbautruppe der Hospitality. Wir wissen trotz genauer Nachverfolgung des Falls bis heute nicht, wo sich der Kollege infiziert hat. Er war immer mit der Gruppe zusammen. Vielleicht ist es auf dem langen Weg im Truck vom Nürburgring nach Portugal passiert, beim Tanken oder beim Essen. Aber eine genaue Nachverfolgung war nicht möglich.
Einer wurde in Imola zwei Mal positiv getestet. Das war nachweislich falscher Alarm. Wir haben ihn in den vier Tagen darauf zuhause jeden Tag getestet, und er war immer negativ. Einen Fall hatten wir noch in Bahrain zwischen den beiden Rennen. Und eben einen nach einem rennfreien Wochenende. Da bin ich schon stolz darauf, wie diszipliniert sich alle verhalten haben. Es ist nicht einfach, über so lange Zeit in einer Blase zu leben. Da will man auch mal Dampf ablassen.
Was haben Sie nach einem positiven Test gemacht?
Zehnder: Zuerst einmal den individuellen Fall nachverfolgt. Wer infiziert war, wurde zehn Tage isoliert. Wir haben geschaut, welche Personen in näherem Kontakt mit dem Infizierten standen. Die wurden dann getestet. Nach Sotschi haben wir das mit dem ganzen Team gemacht. Alle, die im Verdacht standen, wurden in Quarantäne geschickt. So haben wir die Ketten unterbrochen.
Wie haben sich die Abläufe im Team verändert?
Zehnder: Ich habe gelernt, dass man nicht wegen jedem Meeting nach London fliegen muss. Man kann das auch digital machen. Das ist am Anfang eine Gewöhnungssache, aber in den meisten Fällen reicht es. Trotzdem hat es sich auch gezeigt, dass direkte soziale Kontakte wichtig sind. Wir sprechen bei den Sportdirektor-Meetings ja nicht nur offen, sondern handeln auch mal im Hintergrund Dinge aus. Wir haben auch gelernt, dass im Team viele Bereiche gut im Home Office arbeiten können. Die größte Umstellung hatten wir bei den Medienkontakten und bei deren Betreuung. Da gab es einfach viel weniger.
Gab es weniger Upgrades als sonst?
Zehnder: Wir haben das 2021er Reglement auf 2022 verschoben und die Budgetdeckelung verschärft. Das ist alles aus Kostengründen passiert. Aus dem gleichen Grund und wegen des gedrängten Kalenders haben wir auch weniger Upgrades gebracht. Das Barcelona-Upgrade ist weggefallen, auch das für Baku, das wegen der speziellen Strecke immer eine eigene Spezifikation verlangt. Ich glaube, dass viele Teams zurückgeschraubt haben. Wegen der kürzeren Saison, und weil es nicht so viele Ausnahme-Strecken gab.
Die Teams haben weniger Geld eingenommen. Hat Ihr Team auch weniger ausgegeben?
Zehnder: Wir haben nicht so viel weniger ausgegeben wie wir weniger eingenommen haben. In meinem Bereich haben wir natürlich am meisten bei der Luftfracht und den Flügen gespart. Wir hatten nur fünf statt 13 Überseerennen. Dann gab es noch drei Mal zwei Rennen am selben Ort. Da musste man zwischendrin nicht umziehen. Das spart massiv Geld.
Wie konnte das Team trotz der eingeschränkten Möglichkeiten die Boxenstopps so stark verbessern?
Zehnder: 2018 waren wir sehr gut. Bis zur Saisonhälfte lagen wir unter den Besten. Dann haben wir die Radträger geändert mit einer Luftdurchleitung durch die Achsen. Dadurch ging die Felge nicht mehr so schön auf die Radnabe. Die Nabe war dann nicht mehr so angeschrägt wie vorher. Das hat für viele Probleme beim Boxenstopp gesorgt. Ein Mal bei Charles Leclerc in Silverstone war ein Rad lose, was uns viele Punkte gekostet hat. Und durch die Probleme ging auch ein bisschen das Selbstvertrauen verloren. Die Sicherheit war nicht mehr da, schnelle Boxenstopps durchführen zu können. Die mentale Seite ist da sehr wichtig.
Zudem hatten wir von 2018 auf 2019 einen großen Wechsel in der Mannschaft. Es dauert seine Zeit, bis man drei oder vier neue Leute einarbeitet und bis jeder Handgriff wieder sitzt. Wir haben uns daraufhin externe Hilfe geholt, was uns mental und ergonomisch geholfen hat. Es wurde zum Beispiel ausgetüftelt, wie man sich am besten hinstellt, wenn man ein Rad runter nimmt oder eines draufsteckt. Zusammen mit der Universität Zürich haben wir ein Gerät entwickelt, an dem die Crew separat Boxenstopps trainieren kann, ohne dass man dafür ein Auto braucht. Das Teil fährt in die gewünschte Position, und die Mechaniker können achsweise damit üben. Und so langsam kam das Selbstvertrauen zurück.
Fühlen Sie sich acht Wochen vor Beginn der neuen Saison wieder so wie im letzten Jahr nach der Melbourne-Absage? Es gibt zwar einen Kalender, aber keiner weiß, ob er auch so kommt?
Zehnder: Was wir wissen ist, dass Melbourne verschoben ist. Das China und Vietnam abgesagt sind. Ich persönlich glaube, dass wir die Saison nach dem Start in Bahrain Schritt für Schritt nehmen müssen. Nach heutigem Stand könnten wir nach Imola gehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung in England bei der derzeitigen Infektionslage uns einen Grand Prix fahren lässt. Wir könnten, Stand heute, wahrscheinlich auch nicht zum Nürburgring. Die ganze Situation ist sehr volatil. Die Impfung wird irgendwann nützen, aber es geht halt doch nicht so schnell, wie wir uns das alle erhofft haben. Ich denke, dass uns das erst in der zweiten Saisonhälfte entlasten wird. Im Moment sehe ich auch noch nicht, dass wir auf temporären Strecken fahren können, auch wenn Monte Carlo versichert hat, dass sie das Rennen durchführen wollen. Es wird wieder ein Segeln auf Sicht mit einigen Änderungen.
Buchen Sie Flüge und Hotels so als würden die Rennen alle wie geplant stattfinden?
Zehnder: Wenn das so einfach wäre. Hotels sind kein Problem. Da ich habe ich sehr gute Kontakte. Das Fliegen ist schwieriger. Heute gibt es einen Flug, der morgen gestrichen wird. Wir wollten zum Bahrain-Test mit der Linie fliegen, haben alles gebucht, und dann erfahren, dass zuerst der Zubringer von Zürich nach Frankfurt, und dann auch noch der Flug von Frankfurt nach Bahrain gestrichen wurde. Das ist die Schwierigkeit beim Fliegen. Es gibt zur Zeit keine verlässlichen Angaben. Deshalb sind wir letztes Jahr auf Charter umgestiegen. Auch um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Bei Linienflügen ist es schwierig, die ganze Mannschaft vom Rest zu isolieren.
Wie ging das?
Zehnder: Wir haben von Edelweiss, das ist eine Tochter der Swiss, zu allen Rennen 2020 eine Maschine nur für unsere Mannschaft gechartert. Auch nach Bahrain und von Abu Dhabi zurück. Dazu hatten wir Glück, dass wir die neuen Rennen in Mugello, Imola und am Nürburgring mit dem Auto abdecken konnten.
Erwarten Sie wie 2020 eine dicht gedrängte zweite Saisonhälfte, auf die Rennen verlegt werden, die am Anfang noch ausfallen?
Zehnder: Viel Spielmöglichkeiten zum Verschieben gibt es da nicht. Da müssten andere Rennen abgesagt werden. Der Kalender in der zweiten Jahreshälfte nach der Sommerpause ist schon voll. Wir haben drei Triples hintereinander. Zuerst Spa, Zandvoort und Monza. Danach Sotschi, Singapur und Japan. Dann geht es auf die andere Seite der Welt nach Austin, Mexiko und Sao Paulo. Und wieder auf die andere Seite nach Melbourne. Das sind zwölf Rennen von Ende August bis Mitte Dezember. Da kann man nichts mehr reinpacken.
Warum geht man zum Testen nach Bahrain zwei Wochen vor dem Rennen? Wäre es nicht besser nur eine Woche dazwischen zu haben oder in Barcelona testen?
Zehnder: Das Material bleibt drüben, die Mannschaft fliegt zwischendurch nach Hause. Die Gründe für die zwei Wochen Pause sind andere. Die Formel 1 will zwei klar getrennte Events vermarkten. Außerdem hätten wir das sportliche Reglement kurzfristig ändern müssen, weil zwischen dem letzten Testtag und dem Rennen mindestens zehn Tage Pause sein müssen. Das verlangt Einstimmigkeit. Es gab ein paar Teams, die nicht dafür waren. Warum nicht Europa? Wir haben mit Bahrain das beste Gefühl. Unsere Erfahrungen aus dem letzten Jahr in Bezug auf die Corona-Krise haben gezeigt, dass Bahrain die größte Sicherheit garantiert hat. Sie waren für mich der Musterschüler. Nirgendwo sonst wurde bei Ankunft so effektiv getestet, nirgendwo sonst gab es so schnell Ergebnisse. Bei Fragen gab es innerhalb von Minuten Antworten.
Wird die Saison 2021 mit Corona, der Entwicklung von zwei Autos und dem Start der Budgetdeckelung die härteste aller Zeiten?
Zehnder: Das ist schwer zu sagen. Wir wissen einfach nicht, was uns erwartet. Was passiert zum Beispiel, wenn England die Wirtschaft für drei Wochen runterfährt? Dann haben auch alle Teams einen auferlegten Lockdown für drei Wochen und alles verzögert sich. Wenn man bedenkt, dass wir bei 23 Rennen das 2021er Auto noch ein bisschen entwickeln müssen und das 2022er mit Vollgas, dann wird das schon ein strenges Jahr.
Dazu kommt für fünf Teams ein harter Einschnitt, weil sie sich für den Budgetdeckel fitmachen und schrumpfen müssen. Ist das ein Vorteil für den Rest?
Zehnder: Ja, aber nicht für 2022. Wir sind sehr effizient. Wenn ich mir die Mitarbeiterliste aller Teams anschaue und vergleiche, dann haben wir permanent die wenigsten Mitarbeiter an der Rennstrecke. Der Vorteil wird sich aber erst 2023 und 2024 bemerkbar machen. Die großen Teams entlassen ja ihre 300 bis 400 Leute nicht von heute auf morgen. Sie werden die Übergangsphase nutzen, um mit mehr Mitteln und Personal die neuen Autos für 2022 zu entwickeln. Bei Reglementsänderungen hatten die reichen Teams schon immer Vorteile. Bei den Abläufen kann es aber schon sein, dass die großen Teams sich in der Anpassungsphase schwerer tun werden als die Teams, die nichts ändern müssen.