Die schwerste aller Aufgaben
Für Mercedes kann es nur ein Ziel geben. Der achte Titel muss her. Das wird Mercedes so schwer wie noch nie gemacht. Homologationsvorschriften, die Budgetdeckelung und die große Regelreform 2022 bestrafen den am härtesten, der am meisten hat.
Welches Ziel setzt sich ein Team oder ein Sportler, der sieben Mal hintereinander Weltmeister geworden ist? Es kann nur der achte Titel sein. Alles andere wäre ein Abstieg. Ein Verrat an den eigenen Ansprüchen. Das Resultat von zu viel Selbstgefälligkeit. Mercedes-Teamchef Toto Wolff muss das Saisonziel nicht explizit in den Mund nehmen. Es reicht zu erklären, wie sich seine Mannschaft seit 2014 jedes Jahr aufs Neue für das gleiche Ziel motiviert. Man muss nur die Aufgabe immer ein bisschen anders definieren, so dass alle Mitarbeiter das Gefühl haben, alles beginne wieder bei null.
Wolff musste diesmal die Köder für sein Team nicht lange suchen. Die Regeln spielten sie ihm zu. 70 Prozent des Autos sind homologiert. Das schränkt den Entwicklungsspielraum der Ingenieure ein. Die Budgetdeckelung verlangt von Mercedes, seine 1.000 Mitarbeiter starke Chassis-Truppe abzuspecken und alle Prozesse auf Effizienz zu trimmen. Der technische Neustart 2022 zwingt die Team. früher als sonst auf das nächstjährige Modell umzuschwenken. Mercedes wird dabei 22 Prozent weniger Windkanalzeit zugesprochen als dem letztplatzierten Team.
Das trifft zunächst einmal alle Teilnehmer, vor allem die direkten Mitbewerber Red Bull und Ferrari. Doch das Team, das am meisten von allem hat, hat auch am meisten zu verlieren. Und genau das ist der Ansporn für den Titelverteidiger. Allen Widerständen zum Trotz.
Sorge, dass Konkurrenten besser sind
Toto Wolff warnt vor der Schlussfolgerung, dass das beste Auto des Vorjahres wegen der eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten auch das beste in der Saison 2021 sein muss: "Die Regeländerungen mögen klein erscheinen, aber sie haben einen großen Einfluss auf die Rundenzeit. Unsere guten Resultate 2020 sind kein Ruhekissen. Jeden Winter haben wir die Sorge, dass ein anderer einen besseren Job gemacht hat. Diese Skepsis und der Hunger nach Erfolg treiben uns an."
Der 49-jährige Österreicher kennt die Fallstricke, die Siegern ein Bein stellen können. "Das Team kann auseinander fallen, Mitarbeiter können das Team verlassen, ein Gefühl der Selbstgefälligkeit könnte sich einschleichen, der stetige Stress kann die Leute ausbrennen. Zum Glück hat unser Team bis jetzt keinerlei Anzeichen davon gezeigt. Ich sehe die gleiche Leidenschaft wie 2013, als ich zum ersten Mal in Brackley durch die Tür gegangen bin."
Dass es auch für Mercedes ein besonderes Jahr ist, zeigte eine für den Klassenprimus ungewöhnliche Geheimnistuerei. Man will den Gegnern nichts, aber auch gar nichts schenken. Mercedes verrät zum Beispiel nicht, in welche Bereiche es seine zwei Entwicklungs-Token investiert hat. Dabei wäre es eigentlich egal, weil die anderen Team. sowieso nicht mehr reagieren können.
Mercedes betreibt Versteckspiel
Mercedes deckte bei der Präsentation auch seinen Unterboden ab, mit dem Hinweis, dass man dort einige Innovationen eingeflochten hat, die man so spät wie möglich zeigen will. Technikchef James Allison ließ lediglich durchblicken, dass man das um sechs Kilogramm gestiegene Mindestgewicht und die drei Kilogramm, die der Wegfall der Spurverstellung DAS einbrachte, in neue aerodynamische Geometrien gesteckt hat. "Wenn wir heute alles zeigen, was wir haben, dann hat die Konkurrenz zehn Tage extra Zeit sich alles anzuschauen, zu evaluieren und in der CFD-Simulation zu berechnen", erklärt der Team.hef. Was die Spekulationen, Mercedes habe einen Trick gefunden, weiter anheizt.
Etwas offener war Hywell Thomas von der Motorenschmiede in Brixworth. Der Verbrennungsmotor hat in seiner achten Entwicklungsschleife noch einmal an Effizienz und damit Power zugelegt und man trieb ihm die Gebrechen aus, die vor allem in der zweiten Saisonhälfte für Defekte oder Leistungseinbußen sorgten. Dafür spendierte Mercedes seiner Antriebseinheit einen neuen Turbolader, einen Motorblock aus einer Speziallegierung und eine MGU-K, die in der Produktion weniger fehleranfällig ist.
Mit weniger Budget gleich gut?
Toto Wolffs größte Aufgabe ist es, den Betrieb auf die Budgetdeckelung von 145 Millionen Dollar umzustellen. "Der Kostendeckel verändert die Landschaft der Formel 1. Wir haben die Strukturen in unseren Team geändert, die Arbeitsweise und die Prozesse. Alles muss reibungsloser und schlanker funktionieren." Um den Personalabbau so gering wie möglich zu halten, installierte Mercedes eine Sub-Firma mit dem Namen Applied Science. Die soll Formel 1.Knowhow an Kunden verkaufen. Dieser Bereich soll mittelfristig 100 Millionen Pfund pro Jahr einspielen.
Dieser Gesundschrumpfungsprozess tut auch einer Firma gut, die nach eigener Aussage bis jetzt schon effizient gearbeitet hat. "Der zeigt uns, wo wir Ballast mit uns geschleppt haben und wo Kosten aufgetreten sind, die wir vermeiden können. Wir haben dabei ein System entwickelt, das uns genau anzeigt, was jedes Teil kostet." Das gab es früher nicht. Da bestimmten die Einnahmen das Budget. Jetzt ist es das Reglement.
Sollte es zu einem engen Rennen mit Red Bull um den Titel kommen, stellt sich irgendwann die Gewissensfrage: Soll man noch ein Mal eine Entwicklungsschleife für das aktuelle Auto dranhängen, oder den Titel für einen guten Start in die neue Ära opfern? Das ist ein Dilemma, das am Ende nur der Chef im Haus lösen kann. Die Ingenieure würden am liebsten das Auto immer weiter entwickeln, wenn es die Situation verlangt. "Jeder zusätzliche Tag, den wir in das 2022er Auto stecken können, wird sich im nächsten Jahr auszahlen", ist Wolff überzeugt.
Frühere Vertragsgespräche mit Hamilton
Es gibt noch einen Grund, warum Mercedes ein heißer Sommer erwartet. Beide Fahrerverträge laufen aus. Lewis Hamilton ließ mit seiner Äußerung aufhorchen, dass er in der komfortablen Lage sei, in Zukunft wahrscheinlich immer von Jahr zu Jahr zu entscheiden und dass nach dem Erreichen aller Ziele der Druck geringer geworden sei. Da positioniert sich einer schon wieder für die nächste Verhandlungsrunde. Erstmal Nebel streuen, damit der Ball bei der Gegenseite liegt.
Mercedes will diesmal mit den Vertragsgesprächen nicht so lange warten wie im letzten Jahr. "Wir haben mit Lewis vereinbart, dass wir diesmal früher beginnen, damit sich diesmal das Szenario vom letzten Mal nicht wiederholt und uns dann die Zeit davonläuft", erklärt Wolff. Auf die Frage, ob Max Verstappen eine Alternative sei, antwortet der Miteigentümer des Team.: "Wir werden nicht mit anderen Fahrern flirten, bevor wir nicht wissen, was unsere Fahrer wollen. Lewis wird immer die Nummer eins auf unserer Liste sein. Dafür sprechen schon unsere gemeinsamen Erfolge und das Vertrauen, das wir uns entgegenbringen."
Hamilton selbst macht seine Zukunft nicht davon abhängig, ob er am Ende der Saison ein achtfacher Weltmeister sein wird. Es wäre unter Umständen auch viel zu spät. "Der Titel sollte nicht der entscheidende Faktor für meine Zukunft sein. Ich fahre Rennen, weil ich diesen Sport liebe. Also will ich in dieser Saison in mich hineinhorchen und schauen, ob ich immer noch das gleich gute Gefühl habe, wenn ich den Helm aufsetze oder aus der Garage fahre."
Valtteri Bottas unternahm in diesem Winter einen erneuten Versuch, sich selbst zu finden und den Makel des ewigen Zweiten abzustreifen. Das begann mit einer Aufarbeitung der abgelaufenen Saison: "Es gab immer noch zu viele Rennen, bei denen ich einen besseren Job hätte machen können. Ich muss an meiner Konstanz arbeiten und es schaffen, immer und überall das Maximum aus mir und meiner Mannschaft rauszuholen." Genau davon wird abhängen, ob es noch eine sechste Saison mit Mercedes geben kann.