Hat Red Bull den Sieg verschenkt?
Kommt diese Chance je wieder? Hätte Red Bull Max Verstappen auf der Strecke gelassen, hätte der Holländer wahrscheinlich gewonnen. Doch es wäre eine Aktion mit hohem Risiko gewesen. Weil auch bei Verstappen die Reifen am Ende waren. Und weil es keine Anzeichen gab, darauf zu hoffen, dass auch Hamilton der Reifen platzt.
Wäre der GP England mit der 49. Runde zu Ende gewesen, hätte es in diesem Taktikcheck nicht viel zu schreiben gegeben. Es war ein Rennen wie aus dem Lehrbuch. Mit Ausnahme von Lando Norris, Carlos Sainz, Daniel Ricciardo, Esteban Ocon und Sebastian Vettel fuhren alle Fahrer auf Medium-Reifen los. Freiwillig wollte den Soft-Reifen keiner anfassen. Weil ihm die Experten nicht viel mehr als zehn Runden gaben. Dann wären die Rundenzeiten dramatisch angestiegen. Tatsächlich wurde der Soft-Gummi am Ende nur noch von den Fahrern eingesetzt, die durch Reifen.chäden oder aus Angst davor zwangsweise an die Boxen kamen.
Wie schlecht der Soft-Reifen wirklich war, werden wir nie erfahren. Von Runde 2 bis 5 fuhr das Feld nach dem Crash von Kevin Magnussen hinter dem Safety Car. In Runde 13 wurde die wilde Jagd nach dem Unfall von Daniil Kvyat auch schon wieder eingebremst. Das war für alle bis auf einen das Zeichen zum Boxenstopp. Für die Medium-Fraktion kam er ein bisschen zu früh, für die Soft-Starter genau richtig. Die Tatsache, dass alle auf die harten Reifen gewechselt haben, zeigt, dass es zu diesem Zeitpunkt nur eine richtige Taktik gab. Durchhalten bis zum bitteren Ende – 39 bis 40 Runden lang.
Ocon der Verlierer des Safety Cars
Das Timing des Stopps spielte für den weiteren Rennverlauf keine Rolle. Für Hamilton, Bottas, Verstappen, Leclerc und Sainz kam das Safety Car-Signal zu spät. Sie mussten noch eine Runde dranhängen, verloren dadurch aber keine Positionen. Racing Point hielt Lance Stroll freiwillig eine Runde länger auf der Bahn, was dem Kanadier aber auch nichts brachte. Verlierer war Esteban Ocon, der beim Boxenstopp auf Daniel Ricciardo warten musste. Das kostete 1,2 Sekunden. Genug für Sebastian Vettel, um an dem Renault vorbeizugehen. Auch Mercedes machte einen Doppelstopp. Bottas verlor 1,8 Sekunden. Was bei 4,6 Sekunden Vorsprung auf Max Verstappen aber kein Beinbruch war.
Einziger Querschläger im Feld war Romain Grosjean. Haas hielt seinen Fahrer auf der Strecke, in der leisen Hoffnung, einen ähnlich Coup zu landen wie beim GP Ungarn. Risiko ist für den US-Rennstall die einzige Möglichkeit, Punkte zu sammeln. Teil eins der Strategie funktionierte. Grosjean rückte auf Platz 5 vor. Und der Franzose konnte sich mit seinen Medium-Reifen auch erstaunlich lange in den Punkterängen halten.
Das Ziel war klar. Haas betete um ein weiteres Safety Car, das Grosjean dann einen Gratis-Boxenstopp verschafft hätte. Es kam nicht. Nach 36 Runden waren die Reifen platt. Schon da registrierte Pirelli, dass es für alle anderen zum Schluss eng werden könnte. "Die Reifen von Grosjean waren praktisch komplett abgefahren", bestätigte Pirelli-Sportchef Mario Isola.
Verstappen hielt sich wach
Jetzt wäre die Geschichte eigentlich schon zu Ende gewesen. Alle weiteren Platzverschiebungen bis zur 49. Runde fanden auf der Strecke statt. 19 an der Zahl. Für die entsprechenden Speedunterschiede war hauptsächlich das Reifen.anagement verantwortlich. Bestes Beispiel war das Duell Norris gegen Ricciardo. Norris legte nach dem Boxenstopp los wie die Feuerwehr. Gleich beim Re-Start ging er an Ricciardo vorbei. Doch dann spielte der Australier seine ganze Routine aus. Am Ende hatte er die besseren Reifen. In Runde 49 war Norris fällig. Die letzten drei Runden hängte Ricciardo seinen Gegner noch um 2,6 Sekunden ab. Da waren ganz klar noch Reserven vorhanden.
Auch das Duell der Mercedes.Piloten wurde über die Behandlung der Reifen entschieden. 2019 hatte Valtteri Bottas das Rennen verloren, weil er die Startgarnitur zu früh kaputtgefahren hatte. Das war ihm eine Lehre. Diesmal konnte der Finne bis zur 40. Runde mit Hamilton mithalten. Doch dann ließen die Vorderreifen am Mercedes mit der Startnummer 77 stärker nach als am Schwesterauto.
Hamilton hatte als Spitzenreiter natürlich den Luxus einer freien Strecke vor sich, aber der Engländer war auch so wieder reifenschonender unterwegs. Die Mercedes.Ingenieure stellten fest, dass Bottas seine Vorderreifen besonders in den ersten beiden Kurven zu stark beanspruchte. Da geht es um Nuancen beim Einlenken. Die bestimmen, wie stark sich die Reifen.chulter aufheizt.
Tatsächlich ist Hamilton mit dem harten Reifen.atz nur zwei Runden am Limit gefahren. Der Rest war Reifen.anagement. Das heißt aber nicht, dass die Mercedes.Piloten mit Verstappen nur gespielt hätten. Auch der Holländer blieb mit Rücksicht auf die Reifen weit unter seinen Möglichkeiten. Das zeigt Runde 41, als Verstappen wie aus heiterem Himmel mit 1.29,070 Minuten um neun Zehntel schneller fuhr als zuvor. Wahrscheinlich um sich aufzuwecken. Max war langweilig. "Mit dieser Runde hat er seine Ingenieure wahrscheinlich mehr erschreckt als uns. Die lag bestimmt nicht im Marschplan für die Reifen., grinste man bei Mercedes.
Mercedes ließ Fahrer von Leine
Der Zweikampf der beiden Mercedes.Fahrer hat am Ende möglicherweise dazu geführt, dass sich das Rennen in den letzten drei Runden auf den Kopf stellte. Obwohl die Strategen schwören, dass es keinerlei Anzeichen für einen Reifen.chaden gab. Die starken Vibrationen, über die sich Bottas beklagte, rührten zum Großteil von Blasen auf dem rechten Vorderreifen und den Abnutzungserscheinungen an den Reifen.chultern her. Hinterher ist man immer klüger. "Hätten wir gewusst, dass wir so nah am Limit waren, hätten wir unsere Autos an die Box geholt."
Teamchef Toto Wolff ließ seinen Piloten bewusst freien Lauf: "Wir können Valtteri doch nicht sagen: Fahr langsam." Dann nahm er Pirelli in Schutz: "Es ist schwer, Reifen für Autos mit so viel Abtrieb zu bauen." Die Geschwindigkeiten in den Highspeed-Kurven haben sich im Vergleich zu 2019 im Schnitt um 10 km/h erhöht. Trotzdem gab es gute Gründe anzunehmen, dass die Reifen bis zum Ende halten würden.
"Wir sind letztes Jahr auf dem gleichen Reifen.yp 32 Runden gefahren. Die 39 Runden diesmal haben uns deshalb keine Angst gemacht, weil die ersten Runden hinter dem Safety Car gefahren wurden. Wir haben eine Reihe von Systemen, den Reifen.erschleiß zu beobachten und einzuschätzen. Keines dieser Systeme hat uns gewarnt, dass es bei Lewis knapp werden könnte. Jeder kam in Runde 13 an die Box. Das zeigt, dass alle in der Boxengasse mit ähnlichen Reifen.odellen arbeiten", erzählen die Strategen.
Red Bulls Angst vor Schaden
Ein zweiter Boxenstopp war für Mercedes keine Option. Hamilton und Bottas konnten Verstappen nie so weit abschütteln, dass er aus ihrem Boxenstopp.Fenster rutschte. Ein Sicherheitsstopp hätte Bottas auf jeden Fall auf den dritten Platz geworfen. "Hätten wir den Grund für den Bottas-Platzer gewusst, hätten wir Lewis reingeholt. Es gab ein winziges Fenster für Lewis, als Verstappen an die Box kam. Der Grund, warum wir es nicht getan haben war, weil ein extra Boxenstopp immer Risiken birgt. Außerdem wussten wir, dass die Reifen von Lewis in einem viel besseren Zustand waren als die von Valtteri. Er hat von der Führungsposition profitiert. Sein linker Vorderreifen hat weniger gelitten."
Red Bull musste sich am Ende die Frage gefallen lassen, ob man Verstappen nicht besser auf der Strecke gelassen hätte. Das wäre der Sieg gewesen. Doch nicht einmal Verstappen nahm es dem Team übel, dass es nach dem Reifen.chaden von Bottas die Chance genutzt hat, mit einem Satz Soft auf die schnellste Rennrunde loszugehen.
Mercedes hätte übrigens das Gleiche gemacht: "Das war ein logischer Stopp für eine schnellste Runde ohne Risiko", attestierte Wolff. Red Bull-Teamchef Christian Horner erzählte, dass der Reifen.atz von Verstappen mit 50 Schnitten übersät war. "Wer weiß, ob mir nicht auch der Reifen geplatzt wäre", nahm Verstappen sein Team in Schutz. Lieber sichere 19 Punkte als im schlimmsten Fall null.
Am Ende noch eine Überlegung, was passiert wäre, wenn es Nico Hülkenberg zum Start geschafft hätte. Laut Pirelli hatte sich Racing Point als einziges für die harten Reifen am Start entschieden. Das bestreitet Hülkenberg jedoch: "Ich wäre auf Medium-Reifen losgefahren. Mit den harten beim Start kommst du nicht weit. Du verlierst gleich einmal fünf bis sechs Meter und in den Turbulenzen der ersten Runde drei bis vier Plätze. Da fehlt einfach der Grip vom Reifen. Es dauert im Verkehr doppelt lang, den auf Temperatur zu bringen."
Hülkenberg wäre dann vermutlich wie Grosjean in der Safety-Car-Phase auf der Strecke geblieben und hätte sich eine Zeitlang in den Top Ten festgebissen. Sein Problem wäre das gleiche gewesen wie das von Grosjean. Im Verfolgerfeld waren die Abstände zu gering. Grosjean warf der Boxenstopp ans Ende des Feldes zurück. Wäre ihm das Missgeschick mit dem ersten Gang beim Anfahren nach dem Boxenstopp nicht passiert, hätte sich Grosjean zwei Plätze weiter vorne zwischen Latifi und Räikkönen eingereiht. Auch Hülkenberg wäre vermutlich in dieser Region gelandet. Um von dort in die Punkte zu fahren, hätte er noch vier Autos überholen müssen.