Trainingsanalyse GP England 2019
Mercedes ist wie erwartet überlegen. Red Bull fordert Ferrari im Kampf um Platz 2 heraus, und McLaren führt weiter das Mittelfeld an. Nicht viel Neues in Silverstone. Doch alle Teams machen sich Sorgen um die Reifen. Sie verschleißen schneller als erwartet.
Charles Leclerc kam zwei Mal mit dem gleichen Funkspruch an die Box. „Ich habe ein Problem links vorne.“ Das Problem konnte man mit freiem Auge erkennen. Mitten auf der Lauffläche des linken Vorderreifens war ein etwa vier Zentimeter breiter schwarzer Streifen erkennbar. Nicht nur Ferrari war davon betroffen. Auch auf anderen Autos zeigte sich der ominöse Streifen. Je nach Balance meistens vorne, aber auch mal hinten. Je nach Radsturz und Vorspur weiter außen oder weiter innen. Selbst Mercedes kam nicht ungeschoren davon. Allerdings weniger stark ausgeprägt als bei Ferrari. Die Verfärbungen waren ein Indiz für extrem hohen Verschleiß. Dort, wo der Reifen schwarz wird, kommt bereits die untere Gummischicht zum Vorschein.
Mercedes konnte das nicht bremsen. Die Silberpfeile waren auf eine Runde knapp, im Longrun dramatisch viel schneller als Ferrari. Red Bull liegt auf eine Runde im Bereich von Ferrari, schlägt sie aber in der Rennsimulation. Sebastian Vettel gab zu: „Heute war noch nicht so gut. Wir müssen zulegen.“
Im Mittelfeld machte erneut McLaren die beste Figur. Toro Rosso war ebenfalls gut bei der Musik, doch das muss bei Red Bulls B-Team noch nicht viel heißen. Guten Freitagen folgte oft die Enttäuschung am Samstag. Der erste Trainingstag war von vielen Ausrutschern gekennzeichnet. Schuld daran war ein heftiger Wind. So wurden auch die Longruns immer wieder durch gelbe Flaggen unterbrochen. Ein Mal bremste sogar eine VSC-Phase die Fahrer ein. Daniel Ricciardo rollte mit einem Motorschaden aus.
Sechs Dinge, die Sie wissen müssen
1) Warum gab es so viele Abflüge?
Das Protokoll zählte 19 Ausrutscher. Nur einer endete in der Mauer. Und das ausgerechnet in der Boxenausfahrt. Romain Grosjean dreht sich, weil er zu früh auf dem Gas stand. Auf der Strecke blieb es bei demolierten Unterböden. Die Fahrer retteten sich jedes Mal durch die Auslaufzonen. Im schlechteren Fall führte die durch die Wiese. Alle Top-Fahrer kamen mindestens ein Mal vom rechten Weg ab. Schuld war in vielen Fällen ein böiger Wind, der im zweiten Training in der Becketts-Passage von hinten wehte. Das schob die Fahrer speziell in der langsamsten der vier Highspeed-Kurven an. Lewis Hamilton gab auch dem neuen Asphalt die Schuld: „Er ist so glatt, dass es war schwierig war, die Reifen in ihr Arbeitsfenster zu bringen. Mal waren sie drin, mal draußen.“ Valtteri Bottas ergänzte: „Dann hast du von einem Moment zum nächsten dramatisch Grip verloren.“
2) Wie ernst ist das Reifendrama?
Das hat die Formel 1 noch nie gesehen. Die Pirelli-Reifen verschleißen rasend schnell. Man sieht es an schwarzen Verfärbungen auf der Lauffläche. Der Streifen war nicht wie sonst Anzeichen von Blasenbildung oder Körnen. „Es handelt sich um reinen Verschleiß“, verrät Pirelli-Sportchef Mario Isola. Die Streifen ist deshalb schwarz, weil er die zweite Gummischicht markiert. Die ist widerstandsfähiger und schützt die Karkasse. Das ist eigentlich auch der Punkt („Klippe“), an dem die Rundenzeiten drastisch ansteigen müssten. Tun sie aber nicht. „Es ist eine Frage, wie lange du dich traust, damit zu fahren. Irgendwann ist kein Gummi mehr da“, erklärte Renault-Technikchef Marcin Budkowski. Sebastian Vettel wusste sogar eine Zahl: „Bei uns dauert es sieben Runden.“
Und warum ist der außergewöhnliche Gummiabrieb nur auf einen so schmalen Bereich limitiert? „Das ist der Bereich des Reifens, auf dem er in Kurvenfahrt am meisten rutscht“, erklärt Isola. Mögliche Ursachen sind der neue Asphalt und Probleme, genug Abtrieb zu generieren. Selbst bei Mercedes wusste man noch keine Antwort, wie das Problem zu lösen ist. Wird es vielleicht besser mit mehr Gummiauflage auf dem Streckenbelag? „Möglich, aber nicht sicher. Wir können Stand heute noch nicht einmal sagen, wie viele Boxenstopps wir brauchen“, antworten die Mercedes-Ingenieure.
Einige Teams können sich wohl ein Einstopp-Rennen abschminken. Ferrari.Teamchef Mattia Binotto fürchtet: „Das Problem wird uns bis Sonntag verfolgen. Wir werden an allen Stellschrauben am Setup drehen, um das Problem in den Griff zu bekommen.“ Vettel macht nicht einmal Unter- oder Übersteuern für den abnormal hohen Verschleiß verantwortlich: „Das ist uns schon am Morgen bei normalem Tempo passiert. Als hätte der Asphalt den Reifen aufgefressen.“ Der neue Streckenbelag von Silverstone war nur kurz rutschiger als der alte. Dann legte mehr und mehr Grip zu. Vettel wunderte sich: „Zum Schluss hat der Asphalt unheimlich Grip entwickelt, mehr als im letzten Jahr.
3) Ist Mercedes wirklich so überlegen?
Auf eine Runde sieht es nach Spannung aus. Valtteri Bottas war in seiner schnellsten Runde nur 0,197 Sekunden besser als Charles Leclerc. Max Verstappen steckte im Verkehr. Wenn man einrechnet, dass der Holländer normalerweise mindestens vier Zehntel schneller ist als sein Teamkollege, dann wäre Verstappen auch die Ferrari.Zeiten gefahren. Doch die engen Abstände täuschen. Mercedes verlor auf den Geraden sechs Zehntel auf Ferrari und eine halbe Sekunde auf Red Bull. Funksprüche lassen darauf schließen, dass die Gegner bereits am Freitag die Motorleistung hoch gedreht haben.
Im direkten GPS-Vergleich der schnellsten Runden wird die Überlegenheit der Mercedes deutlicher. Valtteri Bottas holt die verlorenen sechs Zehntel gegen Leclerc komplett in den langsamen Kurven auf. Den Rest macht der Finne in den Highspeed-Kurven gut. Bis zur Hangar-Geraden lag Leclerc noch gleichauf. Dann verlor er zwei Zehntel in drei Kurven. Allein in Stowe Corner war Mercedes um 20 km/h schneller als Ferrari. In Becketts betrug das Delta 12 km/h.
Auch Red Bull muss noch Speed in den Kurven finden. Vor allem in den langsamen Ecken. Pierre Gasly büßte in Brooklands 10 km/h und in Vale 8 km/h auf Bottas ein. Auf dem Medium-Gummis sind die Unterschiede größer. 20 km/h in Stowe und 15 km/h in Becketts im Vergleich Verstappen gegen Bottas. Die Longruns zeichnen ein besseres Bild vom wahren Kräfteverhältnis. Lewis Hamilton ist auf den weichen Reifen im Schnitt um vier Zehntel schneller als Max Verstappen. Auf dem Medium-Gummis beträgt der Vorsprung auf die Red Bull fast eine Sekunde.
Ferrari hinkt auf den Medium-Reifen im Schnitt um 1,3 Sekunden hinterher. Den Dauerlauf von Leclerc auf den Soft-Gummis können wir vergessen. Der Monegasse fuhr ihn im zweiten Teil des Trainings mit weniger Sprit im Tank. Lewis Hamilton verlor das interne Duell gegen Bottas um die Tagesbestzeit, weil sich das Heck auf frischen Reifen zu nervös anfühlte. Änderungen am Setup schafften Abhilfe. Für die Longruns war Hamilton mit der Balance seines Autos zufrieden.
4) Wer ist stärker: Ferrari oder Red Bull.
Auf eine Runde könnte es ein heißes Rennen geben. In der Rennsimulation ist Red Bull deutlich stärker. Pierre Gasly sprach sogar vom “stärksten Freitag der ganzen Saison„. Der Fahrer und die Ingenieure haben endlich ein Setup ausgetüftelt, mit dem sich Gasly in seinem RB15 wohler fühlt. Max Verstappen klagte über Balanceprobleme. “Mein Auto war auch ziemlich anfällig im Wind. Mir fehlt Grip auf der Hinterachse.„ Bei Ferrari wurde der Nachmittag von den Reifenproblemen diktiert. Der hohe Verschleiß kündigte sich schon am Vormittag an. “Die Gegenmaßnahmen haben dann aus Untersteuern ein Übersteuern gemacht. Ich bin ziemlich viel herumgerutscht„, klagte Vettel. Viel hat es nicht geholfen. Der hohe Verschleiß der Vorderreifen blieb.
5) Hat Renault ein Motorenproblem?
Daniel Ricciardos zweites Training war nach 17 Runden beendet. Dann stoppte ein kapitaler Motorschaden den Renault. Die Ingenieure vermuten den gleichen Defekt wie bei Nico Hülkenberg in Bahrain. Offenbar ist ein Pleuel gebrochen. Der Motorplatzer kam nicht unerwartet. Es handelte sich um den Spec 1-Motor, der diese Problemzone in seinen Genen hat. Deshalb führte Renault schon beim GP Spanien eine Absicherung ein.
In Frankreich kam dann die erste echte Ausbaustufe ins Auto. Um sich Strafen zu sparen, strampelt Renault in den Freitagstrainings mit den Uralt-Motoren fleißig Kilometer ab. Ricciardo nannte seinen Motor Nummer 1 scherzhaft “Pon„“. Der Australier verlor zwar seinen Longrun, nicht aber seinen Humor: „Ich bin nicht traurig, dass Pony endlich ausgedient hat. Meine schönste Erinnerung an ihn waren die WM-Punkte in China.“ Auch bei Mercedes gab es kurz Alarm. Valtteri Bottas verlor wegen eines Zündkerzenwechsels 32 Minuten in der Box. Die Ingenieure hatten auf ihren Computern Daten entdeckt, die auf ein Problem schließen ließen.
6) Wer hat die Oberhand im Mittelfeld?
McLaren sah wieder stark aus, doch die Abstände waren mit Ausnahme von Lando Norris minimal. Der Engländer stach heraus, weil er Heimvorteil genießt und den neuen Unterboden und die neuen Leitbleche exklusiv am Auto hatte. Der zweite Satz für Sainz soll am Samstag in Silverstone eintreffen. Das könnte den McLaren wieder etwas Luft auf ihre Verfolger verschaffen. Zwischen Carlos Sainz auf Platz 8 und Antonio Giovinazzi auf Rang 17 liegen nur 0,307 Sekunden. Die Longruns im Mittelfeld spreizen sich über eine Sekunde. Toro Rosso zeigte seinen üblichen starken Freitag. HaasF1 war besser als sonst. Die Amerikaner konzentrierten sich nach den jüngsten Pleiten im Renntrim auf die Rennsimulationen. Renault präsentierte sich stärker im Longrun als auf eine Runde. Racing Point überraschte sich selbst. Silverstone ist nicht gerade die Paradestrecke des Autos. Technikchef Andy Green glaubt: „Der glatte Asphalt hilft uns. Je weniger Bodenwellen, umso besser funktioniert unsere Aerodynamik.“