Horch, da kommt er her
Eine Reise durch Chemnitz und Zwickau erinnert an Marx und Horch, das Manchester Deutschlands und die Frühzeit der Auto Union. Unterwegs im Audi Front 225 von 1937.
Es wäre so einfach, an Zwickau vorbeizufahren. Der Reiseführer würde keine Reue wecken („Die viertgrößte Stadt im Freistaat Sachsen war lange ein hässliches Entlein“), aber er hat ja auch keinen besonderen Sinn für die jüngere Industriegeschichte.
Wie gestrandeter Ozean-Dampfer
Das Gewandhaus aus dem Mittelalter kennt er und den Dom. Eine Kathedrale der Automobilgeschichte ist ihm keine Zeile wert. Wie ein gestrandeter Ozeandampfer erhebt sich der einstige Horch-Hochbau über eine Industriebrache, die heute zur Sachsenring AG gehört.
Das riesenhafte Gebäude steht leer, aber auch unter Denkmalschutz, was seine zukünftige Nutzung nur wenig gewisser macht – bei einer Vergangenheit, die sichtbar geblieben ist: „ Horch-Werke“ steht auf der Fassadenfront, in schwindelnder Höhe und mit Farbe übermalt, der das Unsichtbarmachen nicht gelingen wollte.
In den Fenstern der früheren Meisterbüros vergilben Gardinen aus der DDR-Zeit. „Behälterplatz 1/14, Härterei“ steht auf einem Schild, das an die einstige Trabant-Produktion erinnert. Erst Achtzylinder-Limousinen, dann Zweitakter aus Duroplast, deutsche Gegensätze: Die Zuversicht der Jahrhundertwende wird an diesem Ort so spürbar wie die spätere Tristesse des staatlich verordneten Stillstands.
Der Blues ist ein interessanter Wegbegleiter
Der Blues ist manchmal ein interessanter Reisebegleiter, auch wenn leichter Swing viel besser zu dem weiß-grauen Audi Front 225 aus der Ingolstädter Werks-Kollektion passen würde.
Der Audi, 1937 in den Chemnitzer Horch-Hallen montiert, hat dem Hochbau zumindest das Glück voraus, einmal restaurierbar gewesen zu sein. Das lässt sich von den tragenden Teilen seiner Fertigungsstätte nicht unbedingt behaupten: „Die Decken sind weich von Öl“, erzählt ein einstiger Trabant- Monteur aus der Nachbarschaft. „Da haben sie in den Achtzigern Wannen daruntergehängt, damit nichts durchtropft.“ Die rustikaleren Erinnerungen ändern nichts daran, dass sie in Zwickau bis heute das Gedächtnis an ihr Papp-Auto hochhalten: Ein Trabant-Denkmal findet sich mitten in der City, „Schäferhund-Zwinger von der Trabi-Stadt“ steht in Folien-Buchstaben auf der Heckscheibe eines parkenden BMW Touring.
Der Mann, mit dem die Zwickauer Automobilgeschichte begann, ist ebenfalls unvergessen: Das August- Horch-Museum liegt nur ein paar Straßenzüge von seinem ersten Werk entfernt. Weiter weg zog es ihn nicht, als er sich 1909 mit seinen Partnern überwarf und unter dem Namen Audi einen Neubeginn einleitete.
Das erstaunlich bescheidene Wohnhaus des Autopioniers war zuletzt Betriebskindergarten des VEB Sachsenring, heute ist es restauriert wie die Halle, in der die Holzteile Horchs früher Automobile zusammengefügt wurden. Den internationalen Architekten-Wettbewerb des Museumsbaus gewannen Planer aus Zwickau, die den Boden des Kellergeschosses absenkten und eine breite Glasfront zum Hof einzogen, um genug Licht und Luft zu schaffen für neun Dekaden sächsischer Automobilgeschichte.
Die Sammlung beginnt mit dem knallgelben Audi Typ C Alpensieger von 1914, beinhaltet auch Requisiten wie die DDR-Schlagersingle „ Mein himmelblauer Trabant“ und endet derzeit mit dem ersten VW Polo, der 1990 im neuen Werk Mosel vom Fließband fuhr: auch schon Geschichte, wenn auch ganz junge.
Ein romantische Gegend, wenn man Industrie romantisch findet
Eine romantische Gegend ist das, sofern Industrieromantik dazugezählt werden darf. Aber sie gehört zur diesem Teil Sachsens wie die kleinen, nicht immer komfortabel ausgebauten Landstraßen durch fast endlosen Mischwald: Zwischen dem Grün erheben sich in fast jedem Dorf die Bauten jener Boom-Epoche des 18. und 19. Jahrhunderts, als Sachsen zu den europäischen Zentren der Textil- und Maschinenbauindustrie zählte. Eine frühere Strumpffärberei in Zwönitz, gebaut 1914, ist heute das Domizil von Werner Zinke, einem der führenden Oldtimer-Restaurateure Europas. Den Gewerbeschein beantragte er noch im November 1989, heute hat er 30 Angestellte, keine freien Kapazitäten bis 2008 und nicht selten normal verdienende Kunden, die jahrelang für 2000 Stunden seiner Zeit sparen. „Technische Restaurationen“ steht lakonisch auf dem Firmenschild. Kenner wissen auch so Bescheid. Vielleicht zieht es sie gerade deshalb nach Chemnitz:
Als deutsches Manchester galt die drittgrößte Stadt Sachsens einmal, als Ort der Villen und Mietskasernen – sie haben bis heute überdauert wie zahllose Relikte der lokalen Industriegeschichte. Das riesige Areal der einstigen Wanderer-Werke gehört dazu, ein Stück spätere Auto Union im Originalzustand, an der Zwickauer Straße gelegen, mit teilweise zu genagelten Türen und blinden Fensterscheiben, aber einer Ausstrahlung unantastbaren Stolzes. Nur wenige Chemnitzer Industriebauten hatten bisher das Glück einer kongenialen Umnutzung: Die große, vierschiffige Halle der einstigen Gießerei C. A. Richter mit ihren typischen Sheddächern gehört dazu. Heute beherbergt das Bauwerk der 1870er Jahre die umfangreiche Sammlung des Sächsischen Industriemuseums.
Der strenge Blick von Karl Marx
Der Audi Front verbringt den langen Nachmittag auf dem Parkplatz, seine Insassen kommen so schnell nicht wieder ans Tageslicht zurück. Das ist nur der Anfang, weil das Museum außerhalb des Stadtkerns liegt, dessen architektonische Melange kaum weniger anregend wirkt: Im Zentrum der strenge Blick des Karl Marx, dessen sieben Meter hohes Bronze-Antlitz die Betrachter mustert, in unmittelbarer Nähe verspielte Jugendstil- Ensembles, optimistische Gründerzeit-Bauten und funktionale Bauhaus-Kühle, die hier in einem Fall sogar wörtlich zu nehmen ist.
Bauhaus-Kühle und Gründerzeit-Flair
Das denkmalgeschützte Stadtbad gehört zu den herausragendsten Zeugnissen des Neuen Bauens. Im Reiseführer steht das nicht. Er kennt sich dafür bestens mit wirklichen Antiquitäten aus, etwa dem nahen Wasserschloss Klaffenbach oder Schloss Augustusburg. Lohnende Ziele außerhalb der Stadt, sehr idyllisch – und doch, typisch für die Gegend, mit einer innigen Zuneigung für Fahrbares. Im mittelalterlichen Küchenhaus von Augustusburg befindet sich eines der weltweit größten Motorradmuseen. Und im Anbau des Wasserschlosses Klaffenbach parken 120 sächsische Klassiker aus sechs Jahrzehnten.