Sachsen-Classic 2008: Fest-Preise
Bei der 6. Sachsen Classic kämpften 186 Teams drei Tage lang um Meter und Sekunden. Die Rallye-Route führte über die schönsten Nebenstraßen Sachsens, durch Tschechien und Polen. Den ersten Preis sicherten sich Luciano Viaro und seine blinde Beifahrerin Alessandra Inverardi im Lancia Stratos.
Wie fährt man eigentlich eine Rallye, wenn das Rallye-Auto
bereits vor dem Start nicht mehr fährt? Diese Sonderprüfung der
eher unmöglichen Art drohte Roy Freiherr von Koenig und Elinor
Kaempfe am ersten Trainingstag, als die 6. Sachsen Classic noch gar
nicht losgegangen war. Ihr Buick 40 CC aus dem Jahr 1930 ließ sein
Kühlmittel schon während des von Motor Klassik angebotenen
Beifahrer-Lehrgangs durch eine defekte Wasserpumpe ab, schickte dem
feinen Strahl nach getaner Arbeit noch ein Dampfwölkchen hinterher
- und blieb auf dem Sachsenring stehen.
Intensivstes Trösten lässt die Panne in den Hintergrund
treten
"Fahren wollten wir die Rallye aber auf jeden Fall, schon
wegen ihrer Streckenführung", erzählt von Koenig, "und da haben wir
uns um eine Genehmigung als Service- Fahrzeug bemüht." Die bekam
er, hängte seinem Range Rover flugs den Transporter mit dem
aufgeschnallten Havaristen an - und fuhr dem Rallye-Tross vom Start
weg drei Tage lang hinterher. "Es ist unglaublich", resümiert er im
Ziel, "wie viele Leute an der Strecke mit Gesten und
Gesichtsausdrücken signalisiert haben, wie leid es ihnen tut, dass
unser Auto nicht mehr aus eigener Kraft läuft. So intensiv bin ich
noch nie getröstet worden." Das sächsische Publikum bildet an der
gesamten Strecke in der Tat ein Spalier aus fröhlichen, lachenden
und einfach positiv gestimmten Zuschauern, die jedem Rallye-Team
das angenehme Gefühl vermitteln, im südöstlichen Freistaat von
Herzen willkommen zu sein.
Bernd Rosemeyer, gleichnamiger Sohn des Grand-Prix-Stars der
Auto Union aus den 30er Jahren und diesmal im Jaguar C-Type von
Chronoswiss-Chef Gerd-Rüdiger Lang unterwegs, machte einmal mehr
die Erfahrung, dass weder sein Vater noch die großen Marken der
Auto Union in Sachsen vergessen sind: "Ein junges Paar hat sich bei
einem Ampel- Halt schier vor unser Auto geworfen und den Weg erst
wieder freigegeben, als ich im hingehaltenen Rosemeyer-Buch meiner
Mutter die Seite mit dem Bild von mir auf dem Arm meines Vaters
signiert hatte. Danach musste ich dann noch mindestens 20 Mal
Bücher signieren."
Autobegeistertes Sachsen
Der Rallye-Wagen des Motor-Klassik- Teams hingegen zählte
diesmal zu den großen Unbekannten zwischen Kuhschnappel, Schlunzig,
Hundshübel und Ehrenzipfel, um nur einige der trefflichen Ortsnamen
an der Route zwischen Neiße und Erzgebirge zu nennen. "Den genn'
ich gor nich", lautet der Standardkommentar bei jedem Halt. Klar,
die sächsischen Behördenfahrzeuge kamen vor 40 Jahren eher von
Wartburg, Lada oder Barkas, nicht von Volkswagen.
Die Wolfsburger Marke, jetzt mit dem Werk Mosel bei Zwickau
und der Gläsernen Manufaktur in Dresden ein in Sachsen gern
gesehener Arbeitgeber, unterstützt die Sachsen Classic seit Jahren
enthusiastisch, und auch diesmal brachten das Zeithaus aus der
Autostadt und das Volkswagen-Stiftungsmuseum mehr als ein Dutzend
historische Modelle an den Start.
Unterwegs im Post-Fridolin
Darunter Käfer aller Art, offen und geschlossen, Golf, der
brasilianische Sportwagen SP 2, der Prototyp des VW 1500 Cabrio
sowie Busse und Pritschen der Nutzfahrzeugsparte. Und Fridolin.
Eigentlich heißt er ja Typ 147 - der 1964 ursprünglich für die
Schweizer Post entwickelte kleine Transporter auf Käfer- Basis mit
der Karmann-Bodengruppe und dem Post-Kasten als Aufbau von
Westfalia. Im Volksmund bekam er sehr geschwinde einen neuen, viel
treffenderen Namen: Fridolin. Auch die Bundespost stieg als Kunde
ein, der Beifahrersitz wurde schwenkbar, um den Laderaum im
Sitzumdrehen in ein rollendes Büro zu verwandeln. Und so gehört der
147 unverbrüchlich als postgelbes Element in die Erinnerung an das
Straßenbild der 60er und 70er Jahre.
Für Stadtverkehr war Fridolin bestens präpariert: Das
Getriebe hält mit seinen sehr kurz übersetzten ersten beiden Gängen
die korrekte Stop-and-Go- Abstufung für den Großstadtdschungel
parat. Zum zügigen Überlandverkehr will dann der riesige Sprung zur
dritten Fahrstufe gemeistert werden, aber wenn der Motor den Schock
der abfallenden Dreh- zahl erstmal überwunden hat, rauscht Fridolin
schließlich im Vierten mit knapp 100 km/h und pfeifendem
Kühlgebläse wacker durch Wald und Feld. Er lenkt sich recht
passabel, er bremst, er wankt, nickt und giert – und er massiert.
Heute muss die Automobil-Industrie zum Durchkneten der Besatzung
teure elektrisch- pneumatische Sitzsysteme erfinden, um auf langer
Fahrt so etwas wie den Lockerungs- Effekt zu erzielen, den Fridolin
im Chassis-Konzept schon mit eingebaut hat. Ganz ohne Elektrik und
Pneumatik. Für die 18 Wertungsprüfungen (WP) würde man ihm 20 PS
mehr wünschen. Denn wer sich mit Fridolin eingangs einer WP
verpeilt, hat danach kaum mehr Chancen, durch beherztes Gasgeben
wertvolle Meter zurückzugewinnen.
Vermeintlich leichte Prüfungen zeigen ihr wahres
Gesicht
Pro Rallye-Tag stehen fünf offiziell gelistete WP im
Roadbook. Die sechste Prüfung ist geheim und begegnet dem
Rallye-Piloten einmal pro Tag: 100 Meter in 15 Sekunden, Schlauch
und Lichtschranke gemischt, das Ziel mal sichtbar und mal wieder
nicht. 34 Käfer-PS aus 1.192 Kubikzentimeter schieben beim Gasgeben
nicht gerade den Asphalt nach hinten. Fridolin verlangt also kühle
Vorbereitung der gezeiteten WPs und ihrer listigen Teilstrecken,
die der sportliche Rallye-Leiter und zugleich erfolgreiche
Roadbook-Autor Jens Meinig in der Manier eines erzgebirgischen
Kunstwebers rätselhaft miteinander verstrickt hat.
Die gleichzeitige Kombination aus Nach-vorne-Schauen und Ziel
orten, die unterschiedlichen Uhren zu stoppen oder zu starten,
vermeintliche Fehler aus der Hüfte heraus zu korrigieren sowie das
unerbittliche Herunterzählen der sich blitzartig auflösenden
Sekunden-Guthaben führen dem Rallye fahrenden Amateur ja immer
wieder vor Augen, dass der Mensch als Multi-tasking-Maschine doch
nur über begrenzte Kapazitäten verfügt. Der erste Tag ist dabei der
kleinen Zwickau-Schleife mit einem ausführlichen Besuch des
Sachsenrings gewidmet. Wer bis jetzt geglaubt hat, drei gezeitete
Runden seien einfach zu fahren, muss nur einmal all jene fragen,
die aus heute nicht mehr analysierbaren Gründen schon nach zwei
Umläufen den Ring verließen.
Sie sind am Ende des Tages ähnlich grimmig drauf wie jene,
die im Eifer des Sekundengefechts vier Runden vorlegten. Aber der
zweite Tag. Über Schneeberg und den Fichtelberg - Sachsens Dach! -
geht es zur Augustusburg; dann über Altenberg und Königstein bis
nach Bad Schandau an der Elbe, der Grenzstadt zu Tschechien.
Carl Hahn erzählt aus seiner Jugendzeit
Carl Horst Hahn, der einstige VW-Chef und Sohn des
Auto-Union-Mitbegründers Carl Hahn, fährt die Rallye am Lenkrad
eines 80 PS starken VW-Porsche 914 mit. Die Erinnerungen des
82-Jährigen an das Erzgebirge seiner Jugend sind präzise: "Es wird
eine Kammfahrt geben mit wunderbaren Blicken über das Land." Doch
die Realität macht manchmal die schönsten Erwartungen zunichte. Auf
dem 1.214 Meter hohen Fichtelberg und der begierig erwarteten
Kammfahrt stellen wir fest, dass die Bäume früher deutlich
niedriger gewesen sein müssen als heute; und da, wo sich eine Lücke
bietet, verstopft sie blickdicht ein schwerer, feuchter Nebel. Die
Gesprächsqualität bleibt trotzdem Superplus. "Nach dem Krieg",
erinnert sich Hahn, "hatten wir im Fuhrpark meines Vaters als
einziges Auto ohne Holzvergaser einen Lancia Aprilia. Ein
wunderbares Auto mit einem sehr kompakten, engwinkligen V4-Motor.
Als Jahrzehnte später meine VW-Entwickler kamen und mir als Spitze
unserer Quermotoren-Reihe das VR6- Konzept vorstellten, brauchten
sie mich nicht lange zu überzeugen. Ich erinnerte mich an den
Lancia."
Höhepunkte am laufenden Kilometer
Der dritte Tag rückt die Rallye-Welt mit einem
verschwenderischen Angebot von Sonne wieder ins Lot. Über das
tschechische Krasna Lipa führt die Tour nach Zittau, auf den
Görlitzring und dann erstmals ein kurzes Stück durch Polen. Zum
Glück gibt es keine Strafpunkte für das falsche Aussprechen der
passierten Orte: Radmierzyce, Osiek Luzyki, Kozlice, Zgorzelec.
Dann wieder zurück nach Görlitz, weiter nach St. Marienstein,
Bischofswerda und schließlich nach Dresden, wo sich die Rallye zur
großen Abschlussgala an der Wiege aller VW Phaeton trifft.
An Gesprächsstoff ist mindestens so viel zusammengekommen wie
an Strafpunkten auf den hinteren Rängen. Albrecht Mugler etwa wird
nicht müde, vom Abenteuer seiner Reise mit dem automobilen Senior
des Feldes zu erzählen, einem Oldsmobile Curved Dash von 1903. Dem
bereits 1904 in Sachsen zugelassenen Veteran traut Mugler mehr zu,
als nur einmal im Jahr im November von London nach Brighton zu
fahren: "Wir probieren sogar die Steile Wand von Meerane." Dieses
hinter einer Kurve unvermittelt im Ort auftauchende Steilstück
zieht sich mit etwa 15 Prozent Steigung ein paar hundert Meter
himmelwärts. Sein hochbetagtes Pflaster galt einst als
Schicksalsberg bei den großen Fahrradrennen in der einstigen DDR –
wie der Mont Ventoux bei der Tour de France.
Auch der Kleinste schafft den Berg - mit 6,5 PS
Der Benjamin im Feld ist ein Kleinschnittger F 125. Der kaum
200 Kilo leichte Roadster verfügt über nur 6,5 PS aus einem
175er-Zweitakt-Einzylinder und muss immerhin die 150 Kilogramm der
Besatzung schleppen. Fahrer Christian Malorny geht die Wand von
Meerane taktisch an: "Unser Auto schafft im ersten Gang etwa zehn
Prozent, deshalb brauchen wir es gar nicht zu versuchen. Wir fahren
außen rum." Mugler mit dem Oldsmobile macht es ihm nach - sein
uralter Einzylinder verfügt sogar nur über 6 PS, und der Curved
Dash wiegt das Doppelte vom Kleinschnittger.
Mit 400 PS bei 7.000/min hat Wolfgang Meiser an der Steilen
Wand keine Leistungsprobleme. Der Saarländer pilotiert einen der
seltenen Ferrari 288 GTO. Das rote Juwel hat erst 21.000 Kilometer
auf dem Tacho, und die meisten Fans würden so einen Ferrari, der
noch frei ist von Rennunfällen oder einem der nicht seltenen
Motorbrände, unter einer Kristallkuppel halten. Meiser bewegt ihn
im öffentlichen Verkehr, etwa 1.500 Kilometer im Jahr, und auf
Rallyes offenbar völlig souverän. Obwohl der GTO nicht eben ein
Muster an Übersichtlichkeit ist, fährt er ihn auf der 6. Sachsen
Classic auf Platz vier im Gesamtklassement. Seine Strafpunktzahl
beträgt 745, die des Drittplatzierten, dem mehrfachen deutschen
Rallye-Meister Matthias Kahle, 629. Das Team auf Rang zwei, Georg
Weidmann und Curt Bloss im Bentley Continental R-Type, hat sich
sogar nur 589 Zähler geleistet. Die Liste mit den Resultaten
verzeichnet für den 181. als letzten gewerteten Teilnehmer immerhin
51.000 Strafpunkte, also sind die 589 für Rang zwei wirklich
verdammt wenig. Kaum sechs Sekunden macht das aus, verteilt auf 18
Prüfungen. Wir erinnern uns: Das sind nur drei oder vier Zehntel
pro Prüfung daneben - ein brillantes Resultat für den Bentley
Continental, das gewaltige britische Schlachtschiff.
Profi mit sehbehinderter Beifahrerin holt den
Gesamtsieg
Der Sieger aber nimmt die größte Trophäe, jedoch das
kleinste, kaum glaubliche Strafpunktkonto mit nach Hause: 140
Zähler. Das bedeutet noch einmal eine neue Dimension. Luciano Viaro
und seine blinde Beifahrerin Alessandra Inverardi haben im Schnitt
jede Prüfung mit einer Abweichung von weniger als einer
Zehntelsekunde absolviert, in diesem brüllenden, heißen Blechkeil
von Bertone, dem Stratos mit seiner marmorharten Federung und dem
Ferrari-V6. Viaro hat dreimal die Mille Miglia gewonnen, er ist
sozusagen Vollprofi und sitzt dazu im authentischen
Weltmeister-Wagen von 1976, einem Auto aus dem Lancia-Museum.
Doch zu einem Rallye- Team gehören immer zwei. Alessandra
Inverardi, 27, durch eine Krankheit seit ihren Teenager-Jahren um
das Augenlicht gebracht, liebt Motorsport nicht nur, weil sie in
Brescia gewissermaßen mit der Mille Miglia aufgewachsen ist; sie
findet es cool, als Blinde etwas zu tun, an das sich die meisten
Sehenden nicht heranwagen. Erfolgreich Rallye fahren. Das Roadbook
wurde für sie vorher in die Blindenschrift Braille übersetzt, jetzt
kann sie die Entfernungen und Wegbeschreibungen, die Prüfungen und
die Zeiten ertasten. Praktisch verbringt das außergewöhnliche Paar
seine Zeit im Rallye-Auto mit Reden.
Viaro gleicht auf der gesamten Strecke permanent ab, was er
gerade erblickt, auf jedem der 664 Kilometer - "ich sehe für
Sandra." Seine Copilotin liest dazu das Roadbook mit den Fingern,
und das System funktioniert so gut, dass sich Viaro auf der Sachsen
Classic nicht ein einziges Mal verfährt. Die Sollzeiten für die
Wertungsprüfungen und ihre Reihenfolge speichert der Italiener in
einem von ihm selbst entwickelten und vertriebenen, winzigen
Computer ab: "Der enthält kein Geheimnis, sondern nur 120
Stoppuhren."
Über einen Druckknopf setzt Viaro den Computer in Gang,
sobald er durch die Lichtschranke oder über den Messschlauch rollt:
"In der Wertungsprüfung fahre ich praktisch allein." Ein
elektronischer Piepser zählt dann statt der Beifahrerin die
Sekunden herunter. Das sehende Rallye-Ass und die blinde
Beifahrerin werden von M.I.T.E. unterstützt
(Miteinander-Insieme-Together- Ensemble), einem Projekt, das die
Integration von Sehbehinderten vorantreibt und auf die
Traditionsmarke Lancia als Sponsor zurückgreifen kann. Unschlagbar,
und das mag alle hinter den Italienern ins Ziel gekommene
Teilnehmer der Sachsen Classic moralisch wieder etwas aufbauen,
sind Viaro und Inverardi jedoch nicht. Auf der letzten ADAC Bavaria
Historic leisteten sie sich einen Fahrfehler - und wurden nur
57.