Ein neues Stern-Kraftwerk von AMG
Der Mercedes SL 55 AMG mit 5,5 Liter großem Achtzylinder-Kompressormotor und 476 PS ist das zurzeit stärkste Stern-Kraftwerk. Für eine runde viertel Million D-Mark bietet das Cabrio-Coupés das Temperament eines Supersportwagens.
AMG im Aufwind: Dieses Jahr will die 500 Mitarbeiter starke Mercedes-Tochter aus Affalterbach bei Stuttgart knapp 19.000 AMG-Autos verkaufen – soviel wie nie zuvor. Zur Zeit leistungsstärkster Serien-Mercedes ist der SL 55 AMG mit 476 PS. Für 2002 kalkuliert AMG ein Produktionsziel von 4.300 SL 55 – und das, obwohl der Über-SL mit 242.984 Mark fast 60.000 Mark mehr kostet als ein SL 500. Dabei will AMG mit dem je nach Stellung des formidablen Variodachs als Sportcoupé oder Roadster einsetzbaren Zweisitzer nicht unbedingt im Ferrari-oder Aston Martin-Revier wildern, aber durchaus Porsche- und Jaguar-Kunden ködern. Als Haupt-Zielgruppe gilt jedoch die klassische Mercedes-Klientel, der ein SL 500 im Serien-Ornat nicht zu schlecht, aber zu schlicht ist.
Drei Jahre Sonderentwicklung für die Urgewalt
Obwohl in der Summe der Teile gegenüber dem SL 500 nur wenig geändert wurde (acht Prozent), war eine fast dreijährige Sonderentwicklung nötig. Die tiefgreifendsten Modifikationen betreffen das Fahrwerk und den Antriebsstrang. Wichtigste Änderung: Der Fünfliter-V8-Motor aus dem SL 500 wurde durch eine Kurbelwelle mit verlängertem Hub (92 statt 84 Millimeter) auf 5439 Kubikzentimeter vergrößert und mit einem Kompressor bestückt. Zu den flankierenden Maßnahmen gehören ein durch Querverschraubungen verstärktes Kurbelgehäuse, temperatur- und druckbeständigere Kolben sowie eine modifizierte Ölwanne mit Ölhobel, Frontsumpf und leistungsstärkerer Ölpumpe. Feinschliff erfuhren außerdem die Ein- und Auslasskanäle in den Zylinderköpfen, wo Nockenwellen mit längeren Ventilöffnungszeiten rotieren und der Ventiltrieb mit einem Doppelfeder-Paket ausgerüstet wurde, um die Nenndrehzahl schadlos von 5.600 auf 6.100/min anheben zu können. Eine neu programmierte Motorelektronik kümmert sich um die kennfeldgesteuerte Zuschaltung des Kompressors. Der sitzt zwischen den Zylinderbänken und rotiert mit bis zu 23.000/min, wobei er mit bis zu 0,8 bar Ladedruck stündlich 1.850 Kilogramm Frischluft in die acht Brennräume pressen kann. Das Resultat liest sich verheißungsvoll: 476 PS und 700 Nm Drehmoment bei 2.650/min. Damit diese Urgewalt nicht die Hinterachse herausreißt, ist sie beim AMG-SL nicht aus Aluminium, sondern aus Stahl gefertigt. Das macht das Auto zusammen mit den Triebwerksmodifikationen, den größeren Rädern (18 Zoll) und Bremsen sowie der umfangreicheren Ausstattung inklusive Komfort-Sportsitzen um 110 Kilogramm schwerer als den SL 500.
Beim Losfahren ist das höhere Leergewicht zunächst kaum zu spüren, denn es wird von der brutalen Schubkraft des Motors mühelos überspielt. Zwar geht schon ein SL 500 mit 306 PS nicht schlecht, aber gegenüber dem Gewitter, das im AMG beim Niedertreten des Gaspedals aufzieht, sind die Fahrleistungen des Fünfliters ein Sturm im Wasserglas. Der mit Besatzung an Bord über zwei Tonnen schwere Zweisitzer schießt wie von der Tarantel gestochen davon, begleitet von wohlkomponiertem V8-Trompeten und entgeisterten Blicken zurückbleibender Verkehrsteilnehmer. Die Fünfgang-Automatik ist dabei stets auf Zack, jubelt fast unmerklich bis in die höchste Stufe hoch, um bei Kickdown kurz und schmerzlos herunterzuschalten. Wer beim Gangwechsel lieber selbst Hand anlegt, kann die Tippfunktion am Wählhebel nutzen oder die billig wirkenden Plastiktasten hinten am Lenkrad. Rechts wird hochgeschaltet, links runter. Angesichts der hervorragenden Automatik erscheint das zwar als Spielerei, funktioniert aber gut und kommt ab Herbst 2002 auch in der Mercedes S-Klasse zum Einsatz.
300km/h sind auf Wunsch möglich
Den ersten Fahreindrücken nach zu urteilen, sind die Fahrleistungsangaben absolut glaubhaft: 4,7 Sekunden (SL 500: 6,3) für den Spurt von null auf 100 km/h, 15 Sekunden bis 200 km/h. Und das ist natürlich nicht das letzte Wort. Denn die elektronische Begrenzung (250 km/h) wird auf Wunsch (3.000 Mark Aufpreis) neu definiert – dann läuft der SL 55 AMG 300 km/h. Auch hohes Tempo nimmt man im SL 55 AMG übrigens nur weichgespült wahr: wenig Windgeräusche, geschmeidiger Abrollkomfort, beheiz- und belüftbare Sitze mit Massagefunktion. Emotionen bleiben deshalab ein wenig auf der Strecke. Perfektion ist die Stärke dieses Sportwagens, nicht Faszination.
Auch auf der Landstraße. Obwohl sich der SL 55 AMG trotz seiner unübersichtlichen Karosserie erstaunlich handlich fährt, fallen seine Pfunde hier doch mehr ins Gewicht. Gewiss: Der Motor hängt am Gas wie ein Bungee-Springer über dem Abgrund, und die elektrohydraulische Bremse packt unerbittlich zu. Das elektronisch geregelte ABC-Fahrwerk (Active Body Control) reduziert Wankbewegungen auf ein Minimum und hält einen überraschend guten Federungskomfort bereit, aber in nahezu jeder Ecke muss ESP einbremsend das Heck im Zaum halten. So wirkt der kraftstrotzende SL 55 eingezwängt wie ein Gepard im Kaninchenkäfig. Dazu passt auch der optische Auftritt: nicht halbstark wie zu seligen AMG-Zeiten, sondern eher Typ Wolf im Schafspelz.