Lancia Lybra
Der Lancia Lybra soll die italienische Traditionsmarke mit klassischem Stil und moderner Technik wieder auf Kurs und in Form bringen.
In der gehobenen Mittelklasse, wo Lancia früher einen klangvollen Namen hatte, scheinen die Italiener schon seit 27 Jahren mit ihrem Latein am Ende zu sein. Seither versuchen sie, den Wortschatz der Europäer über Alfa hinaus um Beta, Gamma und Delta zu bereichern, doch die verstehen nur Ypsilon.
Rund 70 Prozent der Verkäufe entfallen auf das kleinste Modell der Palette, und nur ein Viertel der vergleichsweise bescheidenen Jahresproduktion (rund 120 000 Autos) geht ins Ausland. Nun soll mit der Abkehr von griechischen Modellbezeichnungen auch die Zeit der Isolation beendet sein. Der Name der Chose, mit der sich die feine Fiat-Tochter über die Landesgrenzen hinaus als Edelmarke des Konzerns profilieren will, klingt zwar noch griechisch, ist aber ein reines Kunstwort. Und genauso kunstvoll bemüht sich der neue Lybra, die Zukunft von Lancia mit Zitaten aus der glorreichen Firmengeschichte zu sichern. Auch wenn der Nachfolger des Dedra wiederum auf zahlreiche Konzernbauteile zurückgreifen muss, verrät nichts die technische Verwandtschaft mit Alfa 156 oder Fiat Marea.
Zwei unterschiedlich große Rundscheinwerferpaare und der in die Motorhaube integrierte Traditionsgrill übertragen die Gesichtszüge des Aurelia in die Gegenwart, dezenter Chromschmuck unterstreicht die betont konservative Eleganz der Linienführung. Ein Blickfänger wie der ähnlich große Alfa 156 ist die knapp 4,5 Meter lange, etwas pummelige Limousine allerdings nicht. Dafür macht die Karosserie von den soliden Alu-Türgriffen bis zur Steifigkeit auf holprigen Straßen einen qualitativ höherwertigen Eindruck. Sind die Türen erst einmal mit dumpfem Klang ins Schloss gefallen, umgibt die Insassen eine stilvolle, unaufdringliche Noblesse. Optisches Highlight im zweifarbigen, weich genarbten Kunststoff- Cockpit ist die silberglänzende Mittelkonsole im Jukebox- Look der fünfziger Jahre, der man eher als den Holzapplikationen nachsieht, dass sie aus schnödem Plastik besteht. Erfreulicherweise wurde die Funktionalität nicht der Schönheit geopfert.
Die Bedienung für Radio und Bordcomputer (oben) sowie Klimatisierung (unten) wirkt ebenso überzeugend wie die Ablesbarkeit der Instrumente, irritierend ist allein die Trennung von Schalter (außen am Sitz) und Kontrollleuchte (hinter dem Handbremshebel) bei der optionalen Sitzheizung. Ansonsten zeigt die Ausstattung nicht nur Opulenz (siehe Seite 71), sondern auch Liebe zum Detail.
Was Lancia unter „Wohlbefinden an Bord“ versteht, scheint in kleinen Annehmlichkeiten wie der Mittelarmlehne vorn, dem Fahrersitz mit elektrisch verstellbarer Lordosenstütze oder der Nachtbeleuchtung von Türinnengriffen und Ablagefach auf. Zusätzlich zum LX-Paket (serienmäßig für die Fünfzylinder-Modelle) hält die Aufpreisliste noch zahlreiche Verführungen von der geschmackvollen Lederausstattung bis zum Navigationssystem bereit, aber Sicherheitsmerkmale wie ESP, Kopf- oder Seitenairbags hinten fehlen. Auch das Raumangebot hat trotz größerer Außenlänge und -breite gegenüber dem Vorgänger nicht wesentlich gewonnen. Die Messwerte entsprechen jetzt etwa denen von Audi A4 und BMW Dreier, aber für lange Menschen ist die Kopffreiheit vorne wie hinten zu knapp.
Ähnliches gilt für das Koffer- raumvolumen (420 Liter), das sich allerdings gegen Aufpreis (470 Mark) mittels geteilt umklappbarer Rücksitzlehnen vergrößern lässt. Vier Personen sitzen dennoch gut im Lybra: die vorderen auf großzügig bemessenen, kräftig ausgeformten Fauteuils, die gute Seitenführung bieten, die hinteren auf einer ebenfalls stark konturierten Bank mit ausreichender Schenkelauflage. Vor allem die gute Sitzposition hinter dem vertikal und axial verstellbaren Lenkrad gilt es zu loben, weniger hingegen die Übersichtlichkeit nach hinten – ein Problem vieler moderner Autos, dem Lancia nicht einmal auf Wunsch mit einer Abstandswarnanlage abhilft.
Zumindest der Abstand zum sportlichen Alfa 156 bleibt gewahrt. Entsprechend der konzerninternen Rollenverteilung tendiert die Fahrwerksabstimmung klar in die kommode Richtung, weshalb eine andere Hinterachse mit geführten Längslenkern aus Aluminium zum Einsatz kommt. Sie verringert die ungefederten Massen und sorgt für einen guten Komfort auf langen Bodenwellen, doch regelmäßige Querfugen – auf Betonplatten- Autobahnen etwa – versetzen den Aufbau in unangenehme Nickbewegungen und die Reifen in polterndes Abrollen.
Zum insgesamt harmonischen Gesamteindruck tragen auch die fahrdynamischen Qualitäten des Fronttrieblers bei. Die feinfühlig ansprechende, nur bei Langsamfahrt etwas unpräzise Lenkung verhilft ihm zu einem flinken Handling. Und mit seinem bis zur Grenze der Bodenhaftung neutralen Kurvenverhalten vermittelt er seinem Fahrer stets das Gefühl hoher Sicherheit.
Selbst mit voller Zuladung (441 Kilogramm) absolviert der Lybra schnelle Richtungswechsel kaum langsamer und ohne auffälliges Eigenlenkverhalten, nur bei Lastwechseln drängt das Heck spürbar nach außen. Die hohe Fahrsicherheit unterstreichen wirksame, gut dosierbare Bremsen, die zwar nach mehreren Vollbremsungen aus 100 km/h leichtes Fading zeigen, aber mit ihren Verzögerungswerten immer im grünen Bereich bleiben. Unter den drei Benzinmotoren, die wie die beiden Common-Rail- Diesel aus dem Fiat- Baukasten stammen, erweist sich der 1,8-Liter- Vierzylinder als goldene Mitte. Mit zwei obenliegenden Nockenwellen, variabler Ventilsteuerung und gegenläufigen Ausgleichswellen vereint der Vierventiler gute Leistungsausbeute (131 PS) mit angenehmer Laufkultur. Er hängt gut am Gas, dreht freudig und ohne Vibrationen bis 7000/min und erfreut dabei die Insassen mit einem sonoren, nie störenden Klang. Ein echtes Komforttriebwerk ist er allerdings schon wegen seines geringen Drehmoments (164 Nm bei 3800/min) nicht. Wer etwa einem BMW 318i (118 PS) Paroli bieten will, muß fleißig zum Schalthebel greifen, was vor allem wegen der langen Wege und des hakeligen Wechsels vom vierten in den fünften Gang nicht immer Freude bereitet. Auch der 13 PS stärkere Alfa 156 1.8 ist temperamentvoller, aber im oberen Bereich lauter und ins- gesamt etwas durstiger (Testverbrauch 10,5 statt 9,6 Liter Super pro 100 Kilometer). Seine stilvolle Zurückhaltung gibt der Lybra nicht einmal bei der Preisgestaltung auf. Mit 38 900 Mark steht die gut ausgestattete 1,8-Liter-Basisversion in der Liste, 6000 Mark weniger als der Audi A4 1.8 oder BMW 318i.
Das ist ein Argument, doch nicht unbedingt ein Kaufgrund. Dazu muss man wohl weiterhin ein Faible für Understatement und die italienischen Momente im Leben haben. Aber weil der Lancia auch vor deutscher Gründlichkeit bestehen kann, hätte er etwas weniger Zurückhaltung bei der hiesigen Kundschaft durchaus verdient.