"Anomalisa": Zutiefst berührendes Puppentheater

Wunderschöne Melancholie kann Charlie Kaufman einfach. Das bewies er bereits mit "Vergiss mein nicht!" und schafft vergleichbar rührendes Kino in "Anomalisa" sogar mit Puppen.
Welche tieferen Einblicke in den Alltag und die Gefühlswelt einer unglücklichen Person kann ein Animationsfilm schon liefern? Nach den 90 durchweg berührenden Minuten von "Anomalisa" aus der Feder von Charlie Kaufman wird klar: eine ganze verdammte Menge. Und so ertappt man sich während des Abspanns ob der Tatsache zutiefst verwundert, dass einem gerade zwei animierte Puppen eine Lehrstunde in Menschlichkeit erteilt haben.
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Zu Tode betrübt
Michael Stone (Tom Noonan) ist ein berühmter Buchautor, ein Verkaufsguru, eine Legende im Kundendienst, doch vor allem ist er eins: todunglücklich. Bei einer Dienstreise versucht er, zumindest für kurze Zeit seine verlorengegangene Freude wiederzuerlangen. Doch das Treffen mit einer alten Flamme in der Hotelbar verkommt zum Desaster. Michael, auf dem Papier ein Experte im Umgang mit Menschen, ist emotional schon lange zum Einsiedler verkommen - trotz Frau und Kind, die zuhause auf ihn warten.
Himmelhoch jauchzend
Doch eine schicksalhafte Begegnung soll schon wenig später alles verändern. Ganz beiläufig hört er im Hotelflur eine Frauenstimme, die ihm im Einheitsbrei seines Lebens plötzlich Abwechslung verheißt. Die wesentlich jüngere Lisa (Jennifer Jason Leigh) ist anders, als alle anderen Menschen in seinem Leben. Ausgerechnet in der tollpatschigen und unsicheren Frau steckt der Schlüssel zu seinem Glück, dessen ist sich Michael sicher. Sie ist seine "Anomalisa".
Für Melancholiker
"Anomalisa" ist einer dieser Filme, die umso besser sind, je weniger man im Vorfeld über sie weiß. Daher sei nur so viel gesagt: Die Art und Weise, wie Michaels monotones Leben dargestellt wird, mag zu Beginn des Films zwar leicht verwirrend sein, ist in seiner Gesamtheit und der damit einhergehenden Symbolik aber nicht minder als ein Geniestreich. Das Gefühl von Einsamkeit trotz unzähliger Mitmenschen so zu visualisieren, wie es "Anomalisa" macht, ist nicht nur clever und herzzerreißend gelöst, sondern in dieser Form einmalig.
So schwermütig die Hauptfigur ist, so melancholisch gestaltet sich auch der gesamte Film und ist mit seiner sehr ruhigen Art kein Popcorn-Streifen. Viele kleine visuelle Gags und charmante, weil so überaus bekannte, Alltags-Skurrilitäten lockern die Stimmung zwar immer wieder auf. All das kann aber nicht davon ablenken, dass "Anomalisa" ein Film für romantische Melancholiker ist und damit in bester Tradition von Kaufmans anderen Drehbüchern, etwa "Vergiss mein nicht!" oder "Being John Malkovich".
Es kommt auf die Details an
Was sofort auffällt ist die Detail-Verliebtheit von Kaufmans Film, die ihn trotz seiner artifiziellen Hauptfiguren so ungemein menschlich macht. In "Anomalisa" werden dem Zuschauer die kleinen Längen des Alltags vor die Nase gehalten, die einen immer wieder begegnen und in Hollywood so gerne aus dem Leben der Film-Helden verbannt werden. Und so sehen wir Michael beim Pinkeln, beim Kampf mit der Key-Card oder dem Wärmeregler der Dusche und dem wenig grazilen Abtrocknen mit dem Handtuch zu. All das dauert, keine Frage, aber ohne langatmig zu werden. Schwer zu sagen, wann der bloße Alltag einer Person realistischer dargestellt wurde, als in "Anomalisa". Von Puppen, wohlgemerkt...
Dass derart einzigartige Filmkost gut ankommt, beweist die Nominierung als bester Animationsfilm bei den diesjährigen Oscars. Wie der Favorit in dieser Kategorie, "Alles steht Kopf", zeigt auch "Anomalisa", dass Trickfilme zu mehr dienlich sein können, als für reine Klamauk-Unterhaltung. Beim direkten Vergleich ist Kaufmans Streifen aber wesentlich deutlicher an ein erwachsenes Publikum gerichtet, als Pixars Pendant einer Erforschung der Gefühlswelt.
Fazit:
Mit "Anomalisa" kommt wohl schon Mitte Januar der ungewöhnlichste Film des Jahres heraus. Eine rührende Geschichte, tolle Inszenierung und mit den menschlichsten Puppen seit Pinocchio garniert, ist Charlie Kaufmans Film eine willkommene Abwechslung zu dem oft so durchgekauten Hollywood-Output. Für Cineasten eine "Anomaliebe" auf den ersten Blick.