Natascha Kampusch: "Es ist möglich, zu überleben"
Am 12. August erscheint Natascha Kampuschs neues Buch. Es trägt den Titel "10 Jahre Freiheit". Im Magazin "stern" spricht sie über ihre Zeit in Freiheit, ihr Verhältnis zu ihren Eltern, den Hass, der ihr entgegenschlug und warum sie immer noch das Haus ihres Peinigers besitzt.
Vor zehn Jahren hat es Natascha Kampusch (28) geschafft, ihrem Entführer zu entkommen. Achteinhalb Jahre wurde sie von Wolfgang Priklopil in dessen Haus in der Nähe von Wien gefangen gehalten. Auf dem Weg zur Schule hatte er sie als Zehnjährige entführt. Mittlerweile gehört ihr das Haus. "Es ist mein kleiner Sieg. Und ich wollte es auch, damit niemand damit irgendeinen Unfug anstellen kann", erklärt die heute 28-Jährige im Interview mit dem Magazin "stern". Sie wollte verhindern, dass "Gruseltouren durch das Verlies der Natascha Kampusch oder eine Kultstätte für Perverse" entstehen.
Das Verlies ist im Jahr 2011 zugeschüttet worden, die Behörde hat sie dazu aufgefordert. Kampusch hätte es eine Weile noch gelassen. Schließlich sei es ihr Leben gewesen, "auch im Verlies". Ansonsten hat sich im Haus kaum etwas verändert. Es finden sich sogar noch etliche Habseligkeiten ihres Entführers darin, seine Bücher etwa und Zettel, die er geschrieben hat. Die Sachen aus dem Verlies hat die 28-Jährige teilweise ebenfalls aufgehoben. "Jedes Ding, das ich hatte, war kostbar für mich", erklärt sie. Was sie in Zukunft damit anstellen werde, ist noch offen. Dort zu sein, fällt ihr aber schwer.
"Ich kam nie zur Ruhe"
Kampusch erinnert sich noch genau an die erste Zeit in Freiheit. Damals sei alles zu viel gewesen. "Zu viel Licht, zu viel Lärm, zu viele widerstreitende Gefühle", rekapituliert sie. Außerdem hätten so viele Leute an ihr gezerrt und versucht, ihr einzureden, was für sie das Beste sei. Alle wollten ein Stück vom Kuchen abhaben, von ihrer unglaublichen Geschichte. Nicht einmal ihre Eltern konnten ihr dabei helfen. "Man hielt sie, so gut es ging, von mir fern", so Kampusch. Sie gesteht, sie sei voller Tatendrang gewesen nach ihrer Flucht, wollte anderen helfen. Doch dabei habe sie übersehen, dass sie sich erst einmal selbst hätte helfen müssen.
Nach ihrem ersten Fernsehinterview damals und nachdem immer mehr Details ihrer Gefangenschaft durchsickerten, kippte die Stimmung gegen Kampusch. In der Öffentlichkeit wurde diskutiert, dass sie zu selbstsicher und gebildet auftrete, dass sie sich nicht wie ein typisches Opfer verhalte. "Mir schlug mehr und mehr Hass entgegen", erinnert sich die Österreicherin. Eine Tatsache, die sie bis heute nicht verstehe. Sie wurde als Lügnerin hingestellt. Die andauernden Untersuchungen halfen ihr nicht wirklich. "Ich kam nie zur Ruhe. Ich musste immer wieder aussagen, immer wieder alles hervorholen", so Kampusch weiter.
"Meine Familie ist wirklich auch durch die Hölle gegangen"
Es wurde in alle Richtungen ermittelt: War der Entführer kein Einzeltäter? Hat die kleine Natascha die Entführung selbst inszeniert? Hat ihre Mutter die Finger im Spiel gehabt? Jedes Detail wurde zerpflückt. Sei es eine Haarsträhne, die sie sich abgeschnitten hatte oder die Verwunderung, dass sie nicht früher geflohen sei. "Mir hatte der Täter erzählt, das Haus sei mit Sprengfallen gesichert und er habe immer eine Waffe dabei und würde sofort alle erschießen. Es gab keinen Grund, ihm nicht zu glauben", so Kampusch. Ein Problem könnte ihrer Meinung nach sein, dass durch seinen Selbstmord nur der Fall Kampusch blieb. Sie war die einzige, die zu ihrem Peiniger befragt werden konnte.
Sie selbst habe manchmal gehofft, dass noch jemand Bescheid wisse. Denn wäre dem Täter etwas zugestoßen, wäre sie im Verlies verloren gewesen. Im Zuge dieser Verdächtigungen und Ermittlungen wurde auch die Familie von Natascha Kampusch in Mitleidenschaft gezogen. Die Eltern sind getrennt. Der Vater machte ihre Mutter mitverantwortlich. Das habe sie ihm "wirklich übel genommen". Ihre Mutter dagegen schrieb ein Buch mit dem Titel "Mein Leben ohne Natascha". Ihre Tochter erfuhr davon erst, als sie das vollständige Werk vor dem Druck lesen durfte.
Ihre Mutter hatte sich vertraglich auch zum Stillschweigen gegenüber ihrer Tochter verpflichtet. Eine Tatsache, die Natascha Kampusch als "nicht gut" empfand. Vieles, was darin zu lesen ist, gefällt der heute 28-Jährigen zudem nicht. Es lese sich eher wie eine Groschenoper und nicht so, wie die Jahre in den Erzählungen ihrer Mutter geklungen haben. Ihre simples Resümee: "Wir kommen klar." Die Mutter wollte eben auch Profit aus der Geschichte schlagen. Etwas, was die Öffentlichkeit Natascha Kampusch ja vorwirft. Sie vermarkte ihren Leidensweg zu ausführlich. "Wer soll denn an allererster Stelle draus Kapital schlagen, wenn nicht ich?", gibt sie kess zurück.
Ihr Leben im hier und jetzt
Sie habe lediglich am ersten Interview, den Filmrechten und den Buchrechten verdient. Ausgesorgt habe sie aber nicht. "Ich weiß ja noch nicht, was mal aus mir wird", gibt sie zu bedenken. Natascha Kampusch hat einige Ideen für ihre Zukunft. Sie wolle das Abitur machen, ihre Goldschmiedeausbildung beenden und studieren. Das mache sie aber für sich, nicht für die Öffentlichkeit. Ihr Leben sieht derzeit so aus: Sie habe eine Wohnung in Wien, gehe zweimal die Woche zur Therapie und nehme Gesangsstunden, um Blockaden zu lösen. Außerdem reite sie. Sie habe auch Freunde und sehe hin und wieder ihre Familie. Sie sei aber auch gerne für sich.
Über das Leben in der Gesellschaft sagt sie, dass es schon gehe. "Ich habe unterschätzt, wie lange ich gezwungen sein würde, der Vergangenheit so einen großen Platz einzuräumen in meinem Leben", so Kampusch. Ein Umzug oder eine Namensänderung kommen aber nicht in Frage: "Der Entführer hatte mir meine Namen genommen und mich Bibi genannt. Das sehe ich gar nicht ein." Freiheit sei für sie etwas Subjektives: "Objektiv sind wir alle unfrei." Sie könne nur frei sein, wenn sie sich innerlich frei mache. Das neue Buch hat sie geschrieben, weil für sie nun ein neuer Lebensabschnitt beginne. Und eines hat sie gelernt in den letzten zehn Jahren: "Es ist möglich, zu überleben."