Tatort "Im Schmerz geboren" im Kreuzverhör
Felix Murot (Ulrich Tukur) und Magda Wächter (Barbara Philipp) werden zum Tatort gerufen. © HR/Philip Sichler
Was für ein Fest! Der Autor dieser Zeilen schaut zwar erst seit gut zwanzig Jahren regelmäßig den Tatort, doch mag er sich anmaßen zu behaupten, dies sei der beste, den er je gesehen hat. Das ist selbstverständlich ein Einzelschicksal - nicht jeder Zuschauer wird diesem Tatort so viel Sympathie entgegenbringen. Für Diskussionsstoff ist auf jeden Fall gesorgt...
Der Tatort " Im Schmerz geboren" ist kein Film. Er ist Theaterstück, Oper. Eine Mischung aus Western und Shakespeare-Drama. Die Musik von Beethoven, Dvořák, Verdi, eingespielt vom Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks. Zitate aus Bibel und Hamlet, dazu Freeze-Frame-Übergänge, die Großmeister Quentin Tarantino das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen würden.
Bereits mit dem Preis des Münchner Filmfests und dem Medienkulturpreis Ludwigshafen ausgezeichnet dürften die Nominierungen für Grimmepreis und Deutschen Fernsehpreis (in welcher Form es ihn auch zukünftig geben mag) nur eine Frage der Zeit sein.
Worum geht’s?
Ein einsamer Bahnhof, drei Männer mit Waffen. Ein weiterer Mann steigt allein aus dem Zug. Plötzlich liegen die drei Männer tot im Staub, doch der Reisende hat nicht geschossen. Als LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) auf der Videoüberwachung den Mann erkennt, schwant ihm Unheil. Es ist Richard Harloff (Ulrich Matthes), sein ehemals bester Freund aus der Polizeischule. Die beiden waren einmal in dieselbe Frau verliebt (Lucie Heinze, zuletzt einmalig als Assistentin "Miriam Häslich" im Kölner Tatort dabei), mit der sie wie in ihrem Lieblingsfilm "Jules et Jim" in einer ménage à trois zusammenlebten.
Harloff wurde damals wegen einer Drogengeschichte aus der Polizeischule geworfen und verschwand vor dreißig Jahren mit der Geliebten nach Südamerika, wo er in den folgenden Jahren zum gefürchteten Drogenboss aufstieg. Schnell wird klar, dass sich Harloff zusammen mit seinem Sohn David (Golo Euler) auf einem Rachefeldzug befindet. Noch mehr Morde geschehen. Harloff hat jedoch immer ein Alibi. Murot versucht verzweifelt, die Mordserie zu stoppen. Noch ahnt er nicht, dass er selbst das eigentliche Ziel des teuflischen Plans ist...
Problem-Krimi oder Spaß-Tatort?
Der Tatort ist ein Suspense-Thiller in bester Hitchcock-Manier: Jeder weiß, wie es ausgeht – nur der Hauptdarsteller nicht. Als Zuschauer leidet man mit Felix Murot, wie er zunächst zwischen seinen Gefühlen für den ehemaligen Freund Richard Harloff hin- und hergerissen ist und – ohne zu viel zu verraten – am Ende einen großen Verlust verkraften muss.
Die komischen Szenen kommen aber ebenfalls nicht zu kurz. Murots verzweifelte Versuche, doch noch einer Frau in seinem Leben eine Chance zu geben, die Avancen seiner Sekretärin Magda Wächter (Barbara Philipp), diesen Platz bereitwillig einzunehmen oder Richard Harloff's Einblicke, nach seiner Karriere als Drogenbaron jetzt nur noch ökologisch betriebene Waisenhäuser bauen zu wollen, runden das Bild ab: Es ist für jeden Geschmack etwas dabei.
Ist die Handlung glaubwürdig?
Nein, ganz im Gegenteil. Die Inszenierung erinnert an die "Romeo und Julia" Verfilmung von Baz Luhrmann aus dem Jahr 1996 mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes. Völlig überdimensioniert und waffenstrotzend kommt dieser Tatort daher, ein Setting, das so gar nicht in die beschauliche Idylle Wiesbadens passt. Doch gerade diese Groteske macht den Reiz aus.
Bester Auftritt
Unter allen amtierenden Tatort-Kommissaren nimmt Ulrich Tukur eine Sonderstellung ein. Alle Ermittler sind bundesweit bekannt und auch mehr oder weniger beliebt. Der international gefeierte Tukur aber spielt in einer ganz anderen Liga und stellt im Tatort "Im Schmerz geboren" wieder einmal sein Ausnahmekönnen unter Beweis. Doch in dieser Folge wird er fast von Ulrich Matthes in den Schatten gestellt, der es als aalglatter Oberfiesling Richard Harloff schafft, den Zuschauer mit seiner herzlichen und freundlichen, doch im nächsten Moment wieder berechnenden und eiskalten Darstellung in den Bann zu ziehen. Bekannt wurde Matthes vor allem durch seine Verkörperung des Joseph Goebbels im Film "Der Untergang" und man hat auch hier das unweigerliche Gefühl, dem personifizierten Bösen direkt in die Augen zu sehen.
Fantastisch ist auch der dritte große Name in diesem Stück: Alexander Held als Ex-Drogendealer und jetzigem Autoschrauber Alexander "Don" Bosco, der auch als rahmengebender Erzähler im Stile des epischen Dramas von Brecht in shakespearesker Rede durch die Handlung führt. "Uns Narren dieses Schauspiels bleibt nur der Trost des Jenseits" formuliert er gleich zu Beginn in ahnender Voraussicht.
Was muss man sich merken?
Der Tatort "Im Schmerz geboren" wartet mit einem neuen Leichenrekord auf. Mit 43 Toten (andere Quellen behaupten sogar bis zu 47 gezählt zu haben) ist es die höchste Opferquote in der Geschichte des Formats. Doch was blutig klingt, ist es in Wahrheit gar nicht. Während beim letzten Rekordversuch mit Til Schweiger (" Kopfgeld") jedes Dahinscheiden im vollen Fokus der Aufmerksamkeit inszeniert wurde geschieht das Gemetzel hier wie nebenher, in Zeitlupe, im Hintergrund spielt der Gefangenenchor aus "Nabucco".
Soll man gucken?
"Im Schmerz geboren" wird später einmal im selben Atemzug mit anderen Klassikern der Tatort-Reihe wie " Reifezeugnis" (Kiel, 1977) oder " Duisburg-Ruhrort" (Schimanskis erster Einsatz in Duisburg, 1981) genannt werden. Nicht unbedingt, weil ihn jeder mag, sondern weil er höchst kontrovers diskutiert werden wird. Das Drehbuch stammt von Michael Pröhl, der auch schon für die Handlung eines weiteren Klassikers verantwortlich zeichnete: " Weil sie böse sind" aus Frankfurt von 2010. Der Mann weiß, wie man ein Publikum spaltet.
Unsere Empfehlung kann daher nur lauten: unbedingt anschauen! Ob beim Bäcker oder im Büro - Das Gesprächsthema Nummer 1 am Montagmorgen wird dieser Film sein. Und wäre doch blöd, wenn ihr da nicht mitreden könntet…
Weitere Infos zum Tatort "Im Schmerz geboren" erfahrt ihr auf der Episodenseite.