Formel 1 Singapur 2019: "Undercut" beschert Vettel den Sieg!
Für Sebastian Vettel ist es der erste Grand-Prix-Sieg seit August 2018
Dank eines schweren strategischen Fehlers des Mercedes-Teams hat Sebastian Vettel (Ferrari) den Grand Prix von Singapur gewonnen und seinen ersten Sieg seit Spa-Francorchamps am 26. August 2018 gefeiert. Zweiter wurde sein Teamkollege Charles Leclerc, der das Rennen bis zum ersten Boxenstopp kontrolliert hatte, dann aber zu Vettels Gunsten ein Opfer des "Taktik-Schachs" wurde, das den diktierte.
"Ich habe nicht an mir gezweifelt", behauptet Vettel, dessen Jubel sehr gedämpft ausfiel. Die Gratulation von Teamchef Mattia Binotto ließ er unbeantwortet, der Klaps vom Teamkollegen im Parc ferme sah eher unterkühlt aus. "Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich da durchmusste oder -muss. Wird wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal sein. Das gehört dazu", sagt er.
Der große Verlierer des Abends war das Mercedes-Team. Ab Runde 16 war das "Undercut"-Fenster für Lewis Hamilton offen, weil zwischen Lance Stroll (Racing Point) und Romain Grosjean (Haas) neun Sekunden Platz waren, die er für "Push-Laps" hätte nutzen können. Aber Mercedes ließ dieses Fenster verstreichen - und verschenkte damit den auf dem Silbertablett liegenden Sieg.
Weil Mercedes nicht reagierte, musste Vettel nur warten, bis der Abstand auch für ihn groß genug war, um nach einem Boxenstopp vor Stroll auf die Strecke zu kommen. In der 20. Runde war es dann so weit - und weil er mit frischen Reifen mindestens eine Runde lang Vorsprung rausfahren konnte, war zu dem Zeitpunkt eigentlich schon klar, dass er das Rennen gewinnen würde.
Ferrari-Renningenieur hatte ein goldenes Händchen
Die Entscheidung, auf den "Undercut" zu setzen, traf nicht Vettel selbst, sondern sein Renningenieur: "Es war eine sehr späte Entscheidung", grinst der Deutsche. Erst in der vorletzten Kurve erfuhr er per Funk, dass er reinkommen soll. Da waren Leclerc und Hamilton schon an der Boxeneinfahrt vorbei.
Weil der Boxenstopp "ziemlich früh" im Rennen kam, war sich Vettel zunächst nicht sicher, ob der Hard die Renndistanz ohne weiteren Reifenwechsel überstehen würde. Trotzdem musste er pushen, um den greifbaren Sieg zu realisieren: "Auf der Out-Lap habe ich alles gegeben. Ich war überrascht, dass ich dann wirklich vorne war."
Der Undercut war in Singapur die klare Siegerstrategie - und barg nur ein Risiko: Wäre sofort nach Vettels Boxenstopp ein virtuelles Safety-Car aktiviert worden, hätten alle, die noch nicht Reifen gewechselt hatten, einen Vorteil gehabt. Doch es kam anders.
Vettel war im "Taktik-Schach" nicht der einzige Pilot, der die richtigen Züge erahnte. Auch Hamilton forderte von seinem Team in Runde 19 ein: "Let's undercut!" Sein Wunsch wurde aber ignoriert. "Ein echter Fehler", räumt Teamchef Toto Wolff ein. Ein paar Sekunden später stand Leclerc an der Box. Mercedes holte Valtteri Bottas in Runde 22 rein, Hamilton erst in Runde 26.
Da lief Mercedes schon Gefahr, auf P5/6 zurückzufallen. Aber das Glück der Silberpfeile war, dass Alexander Albon (Red Bull) von Nico Hülkenberg (Renault) aufgehalten wurde, sodass Bottas knapp vor Albon auf die Strecke kam. Als Bottas dann zwischen Runde 22 und Runde 26 zunächst sensationelle Rundenzeiten fuhr, brachte er sein Team damit in Verlegenheit.
Denn Hamilton. Reifen bauten inzwischen ab, und es zeichnete sich ab, dass er hinter Bottas und Albon auf die Strecke kommen würde. Also erhielt Bottas einen Funkspruch: Er möge bitte 1:48.8 Minuten fahren statt 1:45.3. Was man ihm nicht sagte: Dass der einzige Zweck dieser Aktion war, Hamilton vor ihm auf die Strecke zurückzuschleusen!
Bottas trotz Hamilton.Bevorzugung gelassen
Einen Teamkollegen einzubremsen, obwohl Bottas und Hamilton gegeneinander um den WM-Titel kämpfen, birgt ein gewisses Explosionspotenzial. Aber Bottas steckt die Stallorder einigermaßen diplomatisch weg, wenn er achselzuckend sagt: "Wir haben bestimmte Regeln im Team." Beim nächsten Mal, glaubt er, könne er wieder in Hamiltons Position sein.
Warum Mercedes nicht einfach Hamilton eine Runde nach Vettel reingeholt hat, bleibt ein Mysterium. Wolff sucht nach einer Erklärung, wenn er sagt: "Da hatten wir die Position an Sebastian schon verloren. Also fuhren wir auf Sieg und setzten auf den Offset." Denn: "Lewis meldete, dass seine Reifen noch gut waren."
In Wahrheit steckte hinter dem langen ersten Stint die vage Hoffnung auf ein virtuelles Safety-Car, denn damit hätte Hamilton beim Boxenstopp Zeit sparen und in Führung gehen können. Aber das VSC kam nicht, und so reihte er sich auf Platz vier im Feld ein. "Das Vettel-Team hat es richtig gemacht", sagt Wolff. "Sie hatten aber auch nichts zu verlieren."
Bei den drei Re-Starts fehlte Mercedes jeweils auf den ersten Metern das Tempo, um Positionen zu gewinnen - eine Folge der Schwierigkeiten, Temperatur in die Reifen zu bekommen, was schon im Qualifying für Ferrari und gegen Mercedes gesprochen hatte. Aber jemanden beim Re-Start zu überraschen, wäre ohnehin schwierig geworden.
Leclerc, der zu dem Zeitpunkt das Gefühl hatte, um den Sieg bestohlen worden zu sein, bettelte vor dem zweiten Re-Start: "Gebt mir alles, auch den besten Motorenmodus!" Das Team mahnte aber zur Besonnenheit: "Charles, wir müssen die Power-Unit schonen und das Auto nach Hause bringen." Worauf er versprach: "Ich werde nichts Dummes anstellen."
Die wütenden Funksprüche während des Rennens standen in krassem Gegensatz zu Leclercs diplomatischem Auftreten vor den TV-Kameras. Das Team habe ihm nämlich versichert: "Es gab heute keine Möglichkeit, in der Reihenfolge, die wir vor dem Boxenstopp hatten, einen Doppelsieg für das Team zu feiern."
Ferraris Taktik-Schere war ein garantierter Sieg
Der Strategiefehler von Mercedes war gleichzeitig Ferraris Meisterstück: Vettel, zu dem Zeitpunkt Dritter, an die Box zu holen, und mit Leclerc gleichzeitig den Overcut abzudecken, war eine zwingend erfolgreiche Taktik. "Ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass er mich überholen wurde. Aber ich verstehe die Entscheidung aus der Sicht des Teams", sagt Leclerc.
Vettel, einmal in Führung, wollte dann allen zeigen, dass er das Gewinnen nicht verlernt hat. Sein Brechstangen-Manöver innen gegen Pierre Gasly (Toro Rosso) hätte auch in die Hose gehen können - aber der Ferrari überstand die Aktion unbeschadet, und die Rennleitung drückte ein Auge zu.
Durch seine aggressiven Überholmanöver gegen all jene, die einen langen ersten Stint fuhren, baute Vettel seinen Vorsprung zwischendurch auf 6,5 Sekunden aus. "Das hat gut geklappt", grinst der Ferrari-Star, "nur dann kam das Safety-Car!"
Ein paar Runden lang lag sogar Antonio Giovinazzi (Alfa Romeo) in Führung, weil der seinen ersten Boxenstopp in der Hoffnung auf ein VSC so lange wie möglich rausgezögert hatte. Aber alle, die auf diese Taktik setzten, fielen in der Endabrechnung weit zurück. Zum Beispiel auch Gasly und Daniel Ricciardo (Renault).
Dass Giovinazzi überhaupt in Führung gehen konnte, lag am Bummeltempo der Spitze in den ersten Runden. Leclerc wollte vermeiden, das Fenster für einen Undercut aufgehen zu lassen, und bremste seine Verfolger so gut es ging ein - phasenweise um bis zu drei Sekunden pro Runde. So konnte Hamilton nicht früher stoppen, weil er zu weit zurückgefallen wäre.
Als das "Undercut"-Fenster dann doch aufging, waren die Mercedes-Ingenieure nicht aufmerksam genug. "Wir hätten heute locker gewinnen können", ärgert sich Hamilton. Er attackierte in den letzten Runden noch Max Verstappen (Red Bull), doch einen Gegner im direkten Zweikampf zu überholen, das war aussichtslos.
Verstappen: Auch ohne mehr Power Sieger gegen Hamilton./h4>
Verstappen war kurzzeitig nervös geworden, als er Hamilton im Rückspiegel hatte: "Ich brauche mehr Power", forderte er, fand aber bei seinem Renningenieur kein Gehör: "Negativ. Das ist die beste Lösung, Max." Letztendlich rettete er 0,8 Sekunden Vorsprung über die Ziellinie und wurde dafür mit dem Podium belohnt.
Bottas und Albon standen das ganze Wochenende klar im Schatten ihrer Teamkollegen und belegten letztendlich die Positionen fünf und sechs. Siebter wurde Lando Norris (McLaren), der sich in einem schwierigen Rennen weitgehend schadlos hielt, als andere Fehler machten. Gasly, Nico Hülkenberg (Renault) und Giovinazzi komplettierten die Top 10.
Giovinazzi hatte im Finish frische Reifen, nutzte diese aber auch furios und fuhr so noch in die Punkte. Sein Teamkollege Kimi Räikkönen schied nach Kollision mit Daniil Kwjat (Toro Rosso) aus. George Russell (Williams) musste nach einem Gerangel mit Romain Grosjean (Haas) abstellen. Und Ricciardo holte sich an Giovinazzi einen Reifenschaden.
Pech hatte auch Racing Point, wegen eines umfangreichen Technik-Updates eigentlich heißer Punktekandidat beim "Night-Race": Zuerst fiel Stroll nach einer Kollision mit Gasly wegen eines Reparaturstopps weit zurück, dann rollte Sergio Perez mit einem Öl-Leck aus. Letztendlich ging das Team leer aus.
Bereits in der ersten Runde hatte es zwischen Carlos Sainz (McLaren) und Hülkenberg gekracht. Beide mussten daraufhin an die Box kommen, aber Sainz spielte danach keine Rolle mehr. Der Spanier wurde Zwölfter. Die Rennleitung untersuchte den Zwischenfall zwar, urteilte dann aber: "No further action." Glück für Hülkenberg, der noch zwei Punkte holte.
In der Weltmeisterschaft hat Hamilton seinen Vorsprung dank der Mercedes-Stallorder auf 65 Punkte ausgebaut. Der Vorsprung auf Leclerc und Verstappen beträgt sogar schon 96 Punkte. Das bedeutet, dass Hamilton es nun selbst in der Hand hat, schon beim übernächsten Rennen zu fixieren, dass nur noch ein Mercedes-Fahrer Weltmeister werden kann ...