"Bedauere Fehler von 2010 nicht"

Sebastian Vettel spricht exklusiv im Interview über den Unterschied zwischen der ersten und zweiten Weltmeisterschaft, seine akribische Art zu arbeiten, seinen Sammeltrieb und die Skepsis gegenüber dem Internet.
Warum sind Sie so viel besser als letztes Jahr?
Vettel: Ich denke, die beiden Jahre sind schwer miteinander zu vergleichen. 2010 sind uns als Team und mir als Fahrer viele Fehler passiert. Dinge, die ich nicht bedaure, woraus ich viel habe lernen können, und die ich vielleicht nicht mehr so machen würde. Es sind auch viele Dinge in die Hose gegangen, für die nicht direkt jemand etwas konnte. In diesem Jahr haben wir mehr auf die Details geachtet. Das Auto wurde dadurch zuverlässiger. Auch Renault hat einen Riesenschritt gemacht. Mit den Motoren gab es überhaupt keine Probleme. Letztes Jahr haben wir gerade zu Beginn der Saison große Punkte liegengelassen. Wäre das nicht passiert, wäre die ganze Saison vielleicht anders gelaufen.
Aber lassen sich eigene Fehler einfach so abstellen? Jede Situation ist neu, nichts wiederholt sich.
Vettel: Zum Beispiel?
Zum Beispiel der Unfall mit Button in Spa. Würden Sie heute alles wieder so machen?
Vettel: Ja und nein. Es gibt sicher Situationen, wo ich heute zurückstecken würde. Solche, die zu risikobehaftet sind. Auf der anderen Seite sitzt du in deinem Auto drin und musst im Moment dein Urteil fällen. Du machst nichts, bei dem du dir schon von vornherein denkst, dass das schiefgeht. Würde sich der Fall Button wiederholen, würde ich nicht wirklich anders reagieren. Wenn du siehst, dass die Lücke zum Überholen da ist, dann gehst du da rein. Vielleicht würde ich heute noch ein, zwei Runden länger abwarten. Das Rennen war ja damals noch ziemlich am Anfang. Ich sehe das aber nicht als groben Fehler, weil ich ja auch Druck von hinten hatte. Natürlich war das, was dabei rauskam, nicht gut. Das hat mir für Jenson und mich leid getan.
Würde der Crash mit Teamkollege Mark Webber in Istanbul noch einmal passieren?
Vettel: Da muss man nicht nur mich fragen. Auch da habe ich nicht versucht, etwas zu machen, das unerreichbar war. Es gibt Dinge, die einfach passieren. Da muss man sich nur zwei Namen aufschreiben - Massa und Hamilton. Da gab es in diesem Jahr ein paar Manöver, bei denen man sagt: Die mussten nicht sein. Aber auch welche, die aus dem Renngeschehen heraus einfach passieren.
Können Sie nachvollziehen, dass man als Fahrer mal in so eine Krise wie Lewis Hamilton hineingeraten kann?
Vettel: Davor ist niemand sicher. Die Frage ist, wie sehr man sich dadurch runterziehen lässt, und wie schnell man da wieder rauskommt. Das ist sehr individuell.
Sie hatten letztes Jahr auch mal so eine Phase, in der es mehr Kritik als Lob gab. Wie sind Sie damit umgegangen?
Vettel: Ich habe einfach so weitergemacht wie vorher auch. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Einige lassen sich davon mehr unter Druck setzen, andere weniger. Natürlich ärgert es einen, wenn viel Mist geschrieben wird und einem Sachen angehängt werden, die so nicht stimmen. Man kann es aber nicht ändern. Es ist unmöglich, die Leute zu bekehren. Da musst du einfach durch und dich damit abfinden, dass so etwas öfter im Leben passiert. Wichtig ist in so einer Situation, dass man sich selbst im Spiegel anschauen kann, wenn man abends ins Hotel oder nach dem Rennen nach Hause kommt. Man muss die Dinge akzeptieren, wie sie sind, ehrlich mit sich selbst die Situation analysieren und abhaken. Es ist ja Blödsinn, sich das Goldene vom Himmel herunterzulügen. Innen drin weißt du ganz genau, wer oder was schuld war. Wenn du Mist gebaut hast, musst du auch dazu stehen. Wenn nicht, und die anderen sehen es trotzdem so, darfst du dich nicht den anderen zuliebe verbiegen, nur um es denen Recht zu machen. Du musst dir immer treu bleiben.
Das geht so einfach?
Vettel: Das Umfeld ist ganz wichtig. Du musst die richtigen Leute um dich herum haben. Das verhindert, dass man in ein tiefes Loch fällt. Da gibt es dann Leute, die dir die Hand reichen und dich festhalten. Aber man ist auch selbst für sein Umfeld verantwortlich. Jeder baut sich sein Nest so, wie er es mag.
Ist Red Bull besser geworden oder sind McLaren und Ferrari schlechter?
Vettel: Dieses Jahr konnten kleine Dinge einen großen Unterschied machen. Die Autos 2010 waren auf den Doppeldiffusor ausgelegt. Dieses Jahr spielten die in den Diffusor eingeleiteten Auspuffgase eine entscheidende Rolle. Das haben einige Teams besser hingekriegt als andere. Trotzdem sind die Topteams im Rennen enger zusammengerückt, als es die Trainingserbnisse vermuten lassen. Weil noch andere Einflüsse dazukamen, wie die Pirelli-Reifen oder das Setup des Autos. Beispiel Korea: Am Freitag war McLaren unschlagbar. Samstag sind wir rein durch Arbeit an der Fahrzeugabstimmung näher gekommen. Am Sonntag haben wir gewonnen. Weil wir uns besser als McLaren auf das Rennen vorbereitet haben. In Suzuka war es genau anders herum. Da haben wir für das Rennen den Fehler gemacht.
Sie und Ihr Renningenieur haben dieses Jahr einige überraschende Setup- und Taktikentscheidungen getroffen, die alle richtig waren. Woher kam diese Sicherheit?
Vettel: Wir sind schon in einigen Fällen ein gewisses Risiko eingegangen. Es wäre im Nachhinein einfach, sich hinzustellen und zu sagen, wir haben von vornherein gewusst, dass es klappt. Das ist unmöglich. Nehmen Sie das Finale 2010 in Abu Dhabi. Als Ferrari Alonso an die Box geholt hat, um auf Webber zu reagieren, war das in dem Augenblick eine logische Entscheidung. Hinterher hat sie Fernando vielleicht den Titel gekostet. Und alle haben es besser gewusst. Als ich dieses Jahr in Monte Carlo den Befehl „Box, Box, Box“ am Funk gehört habe, war mir klar, dass die Hinterreifen eigentlich schon am Limit sind. Ich wusste auch, dass wir über ein Einstopprennen gar nicht nachdenken müssen. Davon war bei der Strategiebesprechung nie die Rede, noch nicht mal für Teams im Mittelfeld, obwohl die mehr riskieren können als die vorne. Trotzdem bin ich draußen geblieben. Für mich war das nach unserem verpatzten ersten Boxenstopp die einzige Chance, vorne zu bleiben. Ich konnte schlimmstenfalls auf Platz vier fallen. In dem Fall war ich der Held. Ich hätte aber auch der Depp sein können.
Ist das die Abgeklärtheit eines Weltmeisters?
Vettel: Wenn sich so eine Situation im Rennen auftut, dann sehe ich heute eher die Chance als das, was in die Hose gehen könnte. Du denkst eher positiv, und wenn etwas machbar erscheint, dann greifst du zu.
Wie hat das Verständnis für die Pirelli-Reifen diese WM beeinflusst?
Vettel: Da wird oft zuviel hineininterpretiert. Natürlich kann man als Fahrer den Unterschied machen. Es sind aber keine großen Geheimnisse in den Reifen versteckt. Wer auf dem Niveau fährt, erkennt relativ schnell, was der Reifen braucht und was nicht. Feinheiten können vielleicht hier und da den Unterschied machen, aber wir hatten genug Testfahrten, so dass jeder ausreichend Gelegenheit bekam um herauszufinden, wo der Reifen anders ist als sein Vorgänger.
Sie waren der einzige, der die Pirelli-Mannschaft im Winter besucht hat.
Vettel: Ja, für mich ist das normal. Ich wollte die Leute kennenlernen und wissen, wie die ticken.
Da ticken Sie aber offenbar anders als andere?
Vettel: Ja, vielleicht. Gottseidank, wenn es so ist. Aber einige Dinge sind doch selbst Zuschauern aufgefallen, wenn sie die Rennen genau beobachtet haben. Dass zum Beispiel die Reifen stärker abbauen, wenn man zu aggressiv fährt. Manchmal ist es aber nicht nur die Fahrweise. Auch das Setup kann eine Rolle spielen. In Korea lagen wir richtig, in Japan daneben.
Sie machen sich viel über die Technik Gedanken. Wie entstand das?
Vettel: Ich sehe nicht, wieviel die anderen Fahrer arbeiten, wie sie sich die Strecke einprägen oder wieviel sie über die Technik nachdenken. Für mich sind diese Dinge normal. Ich muss mich nicht dazu zwingen. Wenn du gierig und hungrig bist, besser zu sein als die anderen, musst du auch bereit sein, mehr Zeit dafür zu investieren, zu grübeln, zu suchen. Andererseits bringt es nichts, bis um ein Uhr nachts an der Strecke herumzuhängen und sich den Kopf zu zerbrechen. Dann weiß ich vielleicht, welche Linie ich in Kurve drei fahren muss, bin aber am nächsten Tag nicht fit und fahre ein schlechtes Rennen. Die Balance muss stimmen.
Mussten Sie in der Kartzeit begrenzte finanzielle Mittel durch mehr Denkarbeit ausgleichen?
Vettel: Es gab Zeiten im Kart, wo wir unterlegen waren. Ich hatte dann einen Riesenhals, weil uns die anderen auf der Geraden weggefahren sind, und ich alles versucht hatte, das anderswo aufzuholen. Da wurde ich dann schon mal richtig sauer gegenüber meinem Vater, der ja mein Mechaniker war, und dann flog auch mal das Kart durchs Zelt. Dann hat er mich zur Brust genommen und gesagt: Junge, wir können nicht anders. Wenn es zu dünn ist, dann ist es so. Entweder du probierst noch was anderes, oder wir hören auf damit. Das wollte ich natürlich auch nicht. In so einer Situation entwickelt man zwangsläufig seine Sinne dafür, was man besser machen könnte. Fairerweise muss ich dazu sagen, dass es unserer Fahrergeneration schon gut ging. Als ich in die Formel BMW und Formel 3 kam, da konnte ich von der Datenauswertung profitieren. So etwas hatten die Fahrer von früher nicht. Ich bin also auch irgendwie in dieses Analysieren und Nachdenken hineingewachsen.
Erzählen Daten alles?
Vettel: Nein natürlich nicht. Ich mache heute noch Dinge, die schon früher gut funktioniert haben, als es noch keine Daten gab. Es hilft auch mal, auf der Strecke oder im Fernseher die Kollegen zu beobachten und zu analysieren, was die anders machen. Nehmen die in der Kurve mehr oder weniger den Randstein mit, fahren sie spitzer auf den Scheitelpunkt zu oder schneller in die Kurve rein? Ein hilfreicher Satz des Vaters wirkt noch heute: Wir haben das, was wir haben. Mach das Beste draus.
Das funktioniert in der Formel 1, wo es ihnen an nichts fehlt, auch noch?
Vettel: Na klar. Wenn ich merke, dass die erste Kurve nicht passt, dann verlasse ich mich nicht nur darauf, dass mir das Team das Auto umbaut. Auf der Strecke bin ich alleine auf mich gestellt. Dann schaue ich, was ich dazu beitragen kann, damit die erste Kurve passt. Es bringt gar nichts, da noch zehn Mal gleich durchzufahren. Da werde ich immer zu langsam in der Kurve sein. Eine Kurve ist ja nie gleich, weil sich das Auto während des Rennens verändert. Mit zunehmendem Reifenabbau kann Unter- in Übersteuern umschlagen. Da musst du den Fahrstil und das Auto den Bedingungen anpassen. Die Bremsbalance verstellen, die Bremse anders dosieren, das Auto anders vor dem Einlenken anstellen. Man darf es aber auch nicht damit übertreiben, ständig um die Probleme herumzufahren. Da geht dann schnell der Blick dafür verloren, was wirklich die Probleme sind.
Beim angeblasenen Diffusor müssen Sie Gas stehen lassen, damit sich Abtrieb aufbaut, obwohl der Kopf etwas anderes sagt. Was ist das: Verständnis für die Technik, Gottvertrauen oder eine gehörige Portion Mumm?
Vettel: Eher Mumm als Verständnis. Ich kalkuliere da nicht, wie die Reifen sind, wie die Strecke, wo der Wind herbläst, welchen Flügel ich drauf habe. Da verlasse ich mich auf mein Gefühl. Du tastest dich an die Grenze heran. Wenn du fünf mal durch die Kurve durchfährst, merkst du, was geht und was nicht. Dann macht es irgendwann Klick, und du weißt: Mit dem Tempo ist es möglich. Das war schon in der For-mel 3 so. Da haben sie mir gesagt: Im Eingang Motodrom bricht dir mit 150 km/h das Auto aus, und mit 180 km/h passt alles. Ich habe erst mal gesagt: Habt ihr einen Knall? Nein, hieß es: Mit 180 km/h generiert das Auto mehr Abtrieb. Dann klebt es, und die Welt sieht wieder ganz anders aus. Dann beginnt der Prozess des Rausfindens. Ich bin ja nicht lebensmüde und probiere es einfach mal so aus. Schritt für Schritt tastet man sich vor, und plötzlich spürt man, dass es da doch noch eine Dimension gibt, die man sich eigentlich gar nicht vorstellen konnte. Und dann kommt der Punkt, an dem du merkst, dass es darüber auch noch etwas gibt. Und das ist dann der entscheidende nächste Schritt. Genauso verhält es sich beim Auspuff auch. Man lernt, was der bringt, wenn der mal zugeschaltet ist. Hat man das mal erfahren, hast du auch ein viel besseres Gefühl dafür, was fehlt, wenn du das System wieder abschaltest.
Also null technisches Verständnis?
Vettel: Das würde ich nicht sagen. Ich gucke mir schon mal den Diffusor an und versuche zu erahnen, was die Luft da so macht. Das hilft mir einzuordnen, was genau dort passiert.
Schauen Sie sich jeden Grand Prix am Montag als Video an?
Vettel: Montag ist eigentlich mein Ruhetag.
Also dann Dienstag?
Vettel: Ich schaue selten das ganze Rennen. Stattdessen suche ich mir die Dinge raus, die mich interessieren. Also mehr die Schlüsselerlebnisse. Dazu lasse ich noch einmal das ganze Wochenende Revue passieren und mache mir meine Notizen über die wichtigen Dinge. Alles kann man sich ja nicht merken.
Sie sammeln Helme, Pokale, Champagnerflaschen, Kappen von ihren Podestplätzen. Waren Sie schon immer ein Sammlertyp?
Vettel: Es war nicht immer so. Aber auf jeden Fall, seit ich Formel 1 fahre. Für mich ist die Formel 1 etwas ganz Besonderes. Es ist ein Riesending, dass ich überhaupt dort fahre. Du gewöhnst dich an viele Dinge, aber trotzdem darf man Siege nie zur Gewohnheit werden lassen. Wenn ich dann auf dem Podium stehe und da einen Pokal und eine Flasche und die Mütze vom Reifenhersteller kriege, dann gibt mir das etwas. Im Augenblick habe ich noch keinen Platz, wo ich das alles schön aufstellen kann, aber irgendwann werde ich mich darum kümmern.
In dem Sinn ist es ein bisschen enttäuschend, dass Sie Ihr Helmdesign laufend wechseln. Ist der Helm nicht Ihre Visitenkarte, etwas Unantastbares?
Vettel: Gewisse Dinge auf meinen Helm bleiben ja gleich. Seit ich mich erinnern kann, ist die Red Bull-Dose drauf. Dann habe ich den eigenen Teil dazugemacht. Irgendwie hat es sich einfach so entwickelt, dass mein Helmdesigner und ich herumexperimentieren. Ich habe da Spaß dran. Zusammen haben wir immer recht gute Ideen. Ich finde aber auch markante Helmdesigns unheimlich schön. Wie zum Beispiel das von Senna. Oder die Balken auf dem schwarzen Helm von Damon Hill. Oder das Schottische Kreuz von David Coulthard. Meistens simple Designs, aber unverwechselbar.
Sie gehören der Internet-Generation an. Rubens Barrichello unterhält auf Twitter 1,2 Millionen Fans. Warum machen Sie so etwas nicht?
Vettel: Ich zähle mich nur teilweise zur Internet-Generation. Für mich ist das keine echte Kommunikation. Facebook und Twitter sind nicht mein Ding. Es da sehr viel Gutes verloren. Das ist eine sehr indirekte und unpersönliche Art, mit anderen Leuten in Kontakt zu treten. Ich bevorzuge das persönliche Gespräch, Angesicht zu Angesicht.