Das Formel-1-Reife(n)zeugnis des SID: Spa-Francorchamps
Den Sieg auch von weit hinten hatten Max Verstappen viele zugetraut. Aber er mit Leichtigkeit in Spa triumphierte sorgte bei den Fans für Erstaunen.
Spa-Francorchamps (SID) - MAX VERSTAPPEN: Den Sieg auch von weit hinten hatten ihm viele zugetraut. Aber dass Max Verstappen mit Leichtigkeit in Spa triumphierte, sorgte bei Red Bull für Verzückung, bei den Fans für Erstaunen und bei der Konkurrenz für Ratlosigkeit. Am zweiten WM-Titel des Niederländers kann spätestens seit Sonntag kein Zweifel mehr bestehen. Verstappen fährt mit dem derzeit besten Auto im Feld in einer eigenen Liga, ja auf einem eigenen Planeten - das räumten sogar seine Rivalen ein. Von nun an jagt Verstappen Rekorde: Meiste Siege in einer Saison, meiste Siege in Folge, meiste Punkte in einer Saison, größter Vorsprung auf den WM-Zweiten. Alles scheint möglich.
FERRARI: Zur Überlegenheit von Verstappen trägt allerdings auch bei, dass Ferrari den Niederländer längst nicht mehr so fordert wie zu Saisonbeginn. Während bei Red Bull die Entwicklungskurve mit der neuen Rennwagengeneration konstant nach oben zeigt, hat die Scuderia mit immer mehr Widrigkeiten zu kämpfen. Der F1-75 ist auf Hochgeschwindigkeitskursen für Red Bull kein Gegner mehr. Die Strategen treffen unter dem wachsenden Druck immer wieder riskante oder nicht nachvollziehbare Entscheidungen. Und auch die Fahrer patzen. Wie Leclerc, der am Ende eines gebrauchten Tages eine Fünf-Sekunden-Strafe kassierte, weil er auf der Jagd nach der schnellsten Rennrunde in der Boxengasse ein km/h zu schnell unterwegs war. Nicht viel fehlte an dieser Stelle zur Perfektion - aber eben genug. So wie in (zu) vielen Bereichen.
MERCEDES: Der Konstrukteursweltmeister der vergangenen acht Jahre ist angekommen im Jojo-Modus. In Budapest schielte Mercedes berechtigt auf den ersten Sieg des Jahres. In Spa wussten die Silberpfeile schon im Training, dass die Spitze weit entfernt sein würde. Vermisst wird vor allem etwas, was das Team in seinen dominantesten Zeiten auszeichnete: Konstanz auf hohem Niveau. Teamchef Toto Wolff sprach in Belgien von einem schlimmen Wochenende. Rekordweltmeister Lewis Hamilton kann kaum erwarten, dass eine neue Saison beginnt - mit einem hoffentlich stärkeren Auto. Nach seinem Ausscheiden erinnerte Hamilton an einen Astronauten in einer Mondlandschaft, als er trotzig über einen trockenen Feldweg Richtung Fahrerlager stapfte. Später noch erhielt er eine Verwarnung, weil er der medizinischen Untersuchung fernblieb. Es kann nur besser werden.
SEBASTIAN VETTEL: Auch vier Wochen nach seiner Rücktrittsankündigung ist Sebastian Vettel ein überaus gefragter Mann. Nur geht es dabei allenfalls am Rande um Sportliches, eher um gesellschaftliche Themen, seine Pläne als Formel-1-Rentner oder die Aussichten seines Freundes Mick Schumacher auf ein Cockpit. Über Sportliches würde es sich aber auch kaum zu reden lohnen. Aston Martin hat die Entwicklung des Rennwagens weitgehend eingestellt, der Fokus gilt der kommenden Saison. Vettel nimmt es gelassen. 122-mal stand er auf einem Formel-1-Podium, ein weiterer Besuch wird in seinen letzten acht Rennen nicht mehr hinzukommen. Ihm bleiben kleine Erfolge wie der achte Rang in Spa.
MICK SCHUMACHER: Der 23-Jährige ist eine der Hauptfiguren der diesjährigen Silly Season. Jeder fragt ihn, wie es denn aussehe mit einem Cockpit in der kommenden Saison. Jeder Teamchef mit einem freien Platz wird gefragt, wie es denn aussehe mit dem Fahrer Mick Schumacher. Der Haas-Pilot weiß, dass er sich empfehlen muss. Spa, das "Wohnzimmer" seines Vaters, war nicht der ideale Ort für eine Bewerbung. Sein Team entschied sich für Motor- und Getriebewechsel, Schumacher musste von ganz hinten starten - und konnte mit dieser Ausgangsposition auf den ersten Blick wenig gewinnen. Bei genauem Hinsehen war Belgien aber vielleicht doch eine Reise wert: Im Ziel trennten ihn nur drei Sekunden von seinem deutlich vor ihm gestarteten Teamkollegen Kevin Magnussen. Und der Teamkollege ist ja immer der erste Maßstab.
ZUKUNFT: Am ersten Rennwochenende nach der Sommerpause hat die Formel 1 einige Weichen für die Zukunft gestellt. Der Einstieg von Audi zur Saison 2026 dominierte die Schlagzeilen. Er ist ein Zeichen für die Attraktivität der Rennserie. Auch der Grand Prix in Spa-Francorchamps hat eine Zukunft - zumindest 2023 macht die Formel 1 wieder auf der bei Fahrern und Fans (360.000 Zuschauer am gesamten Wochenende) überaus beliebten Rennstrecke Station. Die Vertragsverlängerung um nur ein Jahr ist aber ein weiterer Fingerzeig für die mittel- und langfristige Ausrichtung, die Formel 1 zieht es weiter in neue Märkte. Das Geld aus Belgien wird für einen dauerhaften Platz im Kalender wohl bald nicht mehr ausreichen. Eine Rotation von Traditionsstrecken wird kommen. Das ist ökonomisch nachvollziehbar, aber vor allem schade.
ZITAT DES WOCHENENDES: "Wir haben unsere Strategie-Abteilung eingeschaltet, weil das so kompliziert geworden ist." (Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko auf die Frage, ob er versteht, wie sich nach den Rückversetzungen die Startaufstellung zusammensetzt)