Walter Sittler im Interview: "Ich will kein alter weißer Mann werden"

Nachdenklichkeit und ein unbändiger Tatendrang - diese beiden Dinge machen Walter Sittler aus. Ein Gentleman-Mime, dessen Figuren immer auch etwas Vertrauenserweckendes ausstrahlen, selbst wenn sie gerade am Abgrund balancieren. So wie in seinem neuen Film "Tödliche Schatten" (Samstag, 13. September, 20.15 Uhr, ARD), der Elemente aus eindringlichem Demenzdrama und packendem Polizeithriller gekonnt verbindet. Es ist eine besondere Premiere: Walter Sittler verkörpert den ersten demenzkranken TV-Kommissar im deutschen Fernsehen. Seit Jahrzehnten ist der Schauspieler dank Erfolgsreihen wie "Der Kommissar und der See" oder der 90er-Kultserie "Nikola" (RTL) auf dem Bildschirm präsent. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Denn Ruhestand ist offenbar nichts für den 72-Jährigen, der sich gerade auf dem Sprung zu einer Lesereise befindet, als wir ihn für ein Interview erreichen. Der in Chicago geborene Schauspieler und Filmproduzent fühlt sich innerlich noch immer wie 19. "Jung sein ist meine Rolle. Die kenne ich seit meiner Geburt", so Walter Sittler. Im Gespräch verrät er außerdem das Glücksrezept seiner Ehe und welche Rolle seine amerikanischen Wurzeln für ihn spielen.
teleschau: Herr Sittler, nach Ihrem 70. Geburtstag hatten Sie angekündigt, ein wenig kürzerzutreten. Wie es aussieht, hat das auch 2025 noch nicht geklappt: Sie stehen nach wie vor regelmäßig vor der Kamera, dazu kommt Ihre Arbeit als Produzent von Dokumentarfilmen, Lesungen ...
Walter Sittler: Das stimmt. (lacht) Und es wird auch nicht ruhiger. Das Jahr ist proppenvoll. Vielleicht ab April 2026, mal sehen.
"Jung sein ist meine Rolle"
teleschau: Über Ihr Alter sagten Sie anlässlich Ihres 70. Geburtstags, trotz der Sieben vorne dran würden Sie sich wie 19 fühlen. Verraten Sie Ihr Geheimnis, wie man so jung bleibt?
Sittler: Wahrscheinlich habe ich einfach Glück gehabt, das jüngste Kind von acht zu sein. Jung sein ist meine Rolle. Die kenne ich seit meiner Geburt. (lacht) Als Kind musste ich immer schauen, wo ich bleibe, immer auf dem Laufenden sein: Was ist links und rechts von mir los? Das ist mir geblieben.
teleschau: Wie meinen Sie das?
Sittler: Ich hinterfrage gerne kritisch, was ich denke oder mache: Ist das noch gut? Was ist jetzt wichtig? So bleibt man wach. Natürlich ist mir bewusst, dass ich jetzt oft der Älteste am Set bin. (lacht) Aber auf keinen Fall will ich ein alter weißer Mann werden, jemand der sagt: Früher war alles besser. Ich finde es spannend, was die jungen Leute machen. Trotzdem: 19 sein möchte ich auch nicht mehr. Wir müssen die jungen Leute so stark machen, wie es nur geht. Damit sie die Probleme lösen können, die auf sie zukommen. Die Probleme, die wir ihnen hinterlassen.
"Das mutige Drehbuch hat mich sofort begeistert"
teleschau: Sie haben unermüdlich gedreht in den vergangenen Monaten. Unter anderem einen neuen "Der Kommissar und der See"-Film, der im November TV-Premiere hat. Und einen echten Ausnahmefilm, den einzige Krimi, der auf dem Münchner Filmfest gezeigt wurde: In "Tödliche Schatten" verkörpern Sie den ersten Kommissar mit Demenz im deutschen Fernsehen.
Sittler: Ja, das mutige Drehbuch hat mich sofort begeistert. Wenn man die Diagnose Demenz erhält, ist das erst mal das Ende der Welt. Das Ende des Lebens, wie es bisher war. Das wird im Film sehr nah an der Realität erzählt. Meine Figur Kommissar Nabrov will die Diagnose nicht akzeptieren, er verdrängt sie, denn sonst kann er seinen Fall nicht lösen. Das Menschliche in dieser Reaktion und zugleich, dass jemand so radikal und rücksichtslos sich selbst gegenüber ist, hat mich sehr fasziniert.
teleschau: Das Ende des Films deutet darauf hin, dass man durchaus gewillt ist, eine Fortsetzung zu drehen.
Sittler: Man will sehr gerne. Ich auch. Es ist eine Freude, so etwas zu spielen. Aber natürlich müsste man einen weiteren Fall für Nabrov clever erzählen. Denn die Krankheit, die man ihm gegeben hat, ist ja fortschreitend. Schauen wir mal, wie die Zuschauer reagieren.
"Ich hatte so viel Glück, in meinem Beruf und in meinem Leben, da kann ich gut und gerne etwas abgeben"
teleschau: Auch abseits der Kamera sind Sie nach wie vor sehr engagiert, unter anderem für ein Kinderhospiz und viele andere Projekte. Geben ist Ihnen sehr wichtig ...
Sittler: Ich hatte so viel Glück, in meinem Beruf und in meinem Leben, da kann ich gut und gerne etwas abgeben. Geben ist nicht mühsam, sondern eine Art, leben zu wollen.
teleschau: Wie meinen Sie das?
Sittler: Es spielt keine Rolle, ob man Politiker oder Taxifahrer ist. Auch wenn vielleicht nicht jeder den Mut hat aufzustehen und etwas zu sagen: Jeder hat eine Verantwortung, kann etwas beitragen. Wir haben in Deutschland Geld, ich denke, das ist nicht das Problem. Aber es befindet sich an Stellen, die nicht zugänglich sind. Wenn man jetzt anfängt, bei den sozial Schwachen, bei Schulen oder Krankenhäusern zu kürzen, dann geht das in die falsche Richtung. Es ist wichtig, jedem den Platz zuzugestehen.
"Wir haben Nachholbedarf an Gerechtigkeit"
teleschau: Wo haben wir in unserer Gesellschaft noch Nachholbedarf?
Sittler: Wir haben Nachholbedarf an Gerechtigkeit. Nicht absoluter Gerechtigkeit, die gibt es nicht. Aber Demokratie ist ein uneingelöstes Gerechtigkeitsversprechen. Daran muss man arbeiten. Da haben wir als Gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten ein bisschen geschlampt. Wir sollten uns gegenseitig das Leben leicht machen, statt es uns schwer zu machen. In Amerika passiert gerade das Gegenteil.
teleschau: Was empfinden Sie bei den täglichen Schlagzeilen aus den USA?
Sittler: Das Amerika, das wir glauben, gekannt zu haben, gibt es nicht mehr. Das Amerika, das geprägt war von relativer Großzügigkeit, Lässigkeit, das ist weg. Dass es so gekommen ist, überrascht mich nicht. Aber die Härte, mit der man das durchsetzt, ist erschreckend. Amerika hatte von uns aus betrachtet im Untergrund eine gewisse Brutalität, weil die Geschichte Amerikas brutal ist. Sowohl was die Sklaven angeht als auch die Eroberung des Westens - die auch das Bild des Mannes prägt. Dieser harte Typ, der glorifiziert wird, ist gerade wieder im Aufschwung. Nicht nur dort, überall auf der Welt.
"Ich habe keine Heimat in dem Sinn, wie meine Frau sie hat"
teleschau: Inwiefern?
Sittler: Einige Politiker benehmen sich schon wie schlechte Halbstarke. Ich bemerke auch hierzulande eine langsame "Trumpisierung" im Sprachgebrauch. Bei den Konservativen, bei den Rechtsradikalen. Das macht mir große Sorgen.
teleschau: Sie sind in den USA geboren, kamen als Kind nach Deutschland und haben die doppelte Staatsbürgerschaft. Was bedeuten Ihnen Ihre amerikanischen Wurzeln?
Sittler: Ein Pass ist für mich ein Papier, eine staatliche Sache. Ich bin deutsch sozialisiert, zugleich habe ich keine Heimat in dem Sinn, wie meine Frau sie hat. Vielleicht bin ich dadurch gefeit vor Nationalismus. Die Vielfalt ist so fantastisch und so wichtig. In diesem Punkt waren die Dokumentarfilme, die wir gemacht haben, eine unglaubliche Lektion für mich.
"Wir können nicht die ganze Welt retten. Aber wir können einen Stein ins Wasser werfen"
teleschau: Sie sprechen von den Filmen, die Sie mir Ihrer Frau, Regisseurin Sigrid Klausmann, realisiert haben. Welche Motivation steckt dahinter?
Sittler: Bei unseren Dokumentarfilmen bin ich als Produzent im Hintergrund unterwegs. Das Herz und die innerliche Zentrale ist meine Frau. Sie hat einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn und nennt die Dinge, die schieflaufen, beim Namen. Das bewundere ich sehr an ihr.
teleschau: Worum geht es in Ihrem neuen Dokumentarfilm?
Sittler: Das aktuelle Projekt begleitet Mädchen auf der ganzen Welt in ihrem Lebensalltag. Dafür haben meine Frau und eine Kollegin aus Litauen jeweils drei Filme gedreht. Daraus ist hier in unserem kleinen Schneideraum "Girls don't Cry" entstanden. Es geht um eine Vielfalt an Themen, die gerade unter Beschuss sind. Wir können nicht die ganze Welt retten. Aber wir können einen Stein ins Wasser werfen, Wellen machen, so weit es eben geht.
"Eitelkeit ist eine Form von Dummheit, oder?"
teleschau: Das ist Ihnen gelungen, der Film stößt auf großes Interesse.
Sittler: Ja, wir haben bereits knapp 30 Einladungen zu internationalen Filmfestivals erhalten. Anfang nächsten Jahres geht "Girls don't Cry" auf große Kinotour. Auch an unserem Film "199 kleine Helden" ist das Interesse noch immer groß. Wir bekommen nach all den Jahren noch immer Anfragen. Darüber freuen meine Frau und ich uns sehr.
teleschau: Sie beide leben und arbeiten zusammen, sind seit 40 Jahren glücklich verheiratet. Wie schafft man das?
Sittler: Einer meiner Lieblingsautoren, Anton Tschechow, hat gesagt: "Du musst dich mit denen zusammentun, die dir ähnlich sind!" Meine Frau ist das dritte von sieben Kindern. Ich bin der achte von acht. Das heißt, von unserem Verständnis, wie das Leben so läuft, sind wir uns ähnlich. Und wir nehmen uns selbst nicht so wichtig. Es gibt auch noch eine Welt um einen herum, das sollte man nie vergessen. Eitelkeit ist doch irgendwie eine Form von Dummheit, oder? Wir gönnen uns genseitig den Raum. Und wir lernen voneinander. Das ist etwas Wunderbares.