"To the Bone": Wie gefährlich ist der Netflix-Film?

"To the Bone" ist ein Film über Magersucht - und viel diskutiert. Wird die Krankheit verherrlicht? Könnte er Betroffenen sogar als Vorbild dienen? Das sagt ein Experte zu den Vorwürfen.
Magersucht - ein Thema, das in Mainstream-Filmen nicht gerade oft zur Sprache kommt. Genauer gesagt so gut wie nie. Netflix wollte mit seiner Produktion "To the Bone" das Stigma jetzt aufbrechen. Doch statt Lob gab es eine gewaltige - vermutlich auch kalkulierte - Protestwelle. Nach Ansicht vieler Kritiker wird die Essstörung verharmlost dargestellt, teilweise sogar glorifiziert. Statt Betroffenen einen Ausweg zu zeigen, könnte die Krankheit schlimmer werden. Die Nachrichtenagentur spot on news sprach mit einem Experten: Dipl. Psych. Andreas Schnebel. Der therapeutische Leiter des CoMedicum Lindwurmhof in München arbeitet seit über 30 Jahren mit essgestörten Patienten und sieht "To the Bone" ebenfalls kritisch - allerdings nicht nur!
Denn einen Punkt, den auch Produzenten und Darsteller immer wieder betonen, unterstreicht auch Schnebel: "Grundsätzlich ist es gut, dass es diesen Film gibt. Denn Magersucht wird damit auch in der Unterhaltungsbranche thematisiert und aus der Tabu-Zone gerückt." Trotzdem findet auch der Therapeut, dass die Umsetzung an vielen Stellen grenzwertig ist.
Bilder, die triggern könnten
In einigen Szenen werden krasse Bilder gezeigt: Hauptdarstellerin Lily Collins (28) - zu der wir noch ausführlicher kommen - wird völlig abgemagert gezeigt, Knochen bohren sich durch ihre schlaffe Haut. Für den gesunden Zuschauer schockierend, für Betroffene aber unter Umständen ein Vorbild. Triggern nennt sich so etwas. "Was den Nachahmungseffekt angeht, ist Netflix nicht gerade sensibel, solche Bilder sind wirklich schwierig", findet Schnebel. Denn klar ist, "eine stark runter gehungerte Magersüchtige kommt für ähnlich Betroffene spannender rüber und kann eine anspornende Wirkung haben."
Cool, hübsch, vorlaut - keine typische Patientin
Nicht das einzige Problem. Zwar betont Schnebel, dass der Film natürlich unterhalten soll und er es gut findet, dass das Thema auch mal locker angegangen wird. "Das ist aber eine Gratwanderung, die nicht immer geglückt ist." Konkret: "Die Hauptdarstellerin kommt lustig rüber, ist cool und auch frech. Doch in der Realität sind die Mädchen in der Regel eher depressiv, sozial isoliert und haben null Selbstbewusstsein. Die Hauptfigur ist ein wenig zu unproblematisch, fast unrealistisch dargestellt".
Die Sache mit der Liebe
Unrealistisch ist laut Therapeuten-Meinung auch die Liebesgeschichte, die sich im Film zwischen der Protagonistin und einem Mitglied ihrer Therapiegruppe entwickelt. "Magersucht hat zum Teil auch mit der Angst vor der eigenen Weiblichkeit zu tun. Die meisten magersüchtigen jungen Frauen bekommen eher Angst, wenn ein Mann auf sie zukommt."
Lily Collins litt selbst an einer Essstörung
Ein viel diskutierter Punkt ist auch die Wahl der Hauptdarstellerin. Lily Collins litt selbst an einer Essstörung und hungerte sich für ihre Rolle wieder auf ein erschreckendes Gewicht herunter. "Die Schauspielerin müsste extrem stabil und psychisch gesund sein, um so etwas unbeschadet zu überstehen. Vielleicht hat es aber auch mit deren Wunsch nach Selbstdarstellung zu tun, denn bei Magersucht geht es eben oft auch um Aufmerksamkeit", so die Einschätzung des Therapeuten.
Wenn auch nicht ganz verkehrt, unkritisch ist "To the Bones" jedenfalls nicht. Doch was könnte man besser machen? Das Tabu-Thema Magersucht überhaupt nicht mehr in Filmen anzusprechen, wäre dem Experten zufolge jedenfalls der falsche Weg. Schließlich sei es gut, dass die Problematik dadurch mehr Aufmerksamkeit bekommt. Gut wäre allerdings, wenn Filmemacher in Zukunft mit Experten auf dem Gebiet Essstörung zusammenarbeiten würden (was Netflix eigener Aussage zufolge tat). Mindestens jedoch sollten Hinweise auf Expertenportale, wie z.B. den ANAD Test "Bin ich essgestört" im Vorspann erscheinen.
Wenn Sie selbst an einer Essstörung leiden oder erste Anzeichen bemerken, können Sie sich an Beratungsstellen wie www.anad.de, www.essstoerungen-frankfurt.de oder www.waage-hh.de und das BZgA-Telefon (0221) 89 20 31 wenden.