Vergessene Studien: Mercedes W 118/119 (1962)
Mercedes W 118 und W 119 (1962)
Dieser Wagen war eigentlich gar keine Studie im heutigen Sinn. In der Zeit, als er entstand, waren Konzeptfahrzeuge nur aus den USA bekannt, hinzu kamen Einzelstücke italienischer Karosseriers wie Bertone. Aber beim Mercedes W 118 und W 119 handelt es sich vielmehr um einen weit gediehenen Prototypen. Doch auf den Markt kam er abgewandelt als DKW respektive Audi.
Aber der Reihe nach: Am 1. April 1958 steigt Daimler-Benz bei der Auto-Union ein. Keine schlechte Idee, schließlich ist man in Ingolstadt zu diesem Zeitpunkt nicht auf Rosen gebettet, zumal die Nachfrage nach den Modellen mit ihrem typischen Zweitakt-Motor stagniert. Für die Stuttgarter hingegen bietet sich die Chance, ihr Modellprogramm nach unten zu erweitern.
Gesucht: Ein kleiner Mercedes
Schon Anfang Mai 1958 tritt der damalige Pressechef von Daimler-Benz, Artur J. Keser, allen Gerüchten über eine Einstellung von Pkw-Typen entgegen. In einem Dokument aus dem Archiv von Mercedes Classic heißt es: "Wie schon Anfang April bekanntgegeben, bleiben die sich gut ergänzenden Fertigungsprogramme beider Häuser unverändert bestehen."
Bis Ende 1959 wird die Auto-Union vollständig übernommen. Doch schon lange vorher experimentieren die Mercedes-Ingenieure mit Fahrzeugmodellen, um die hauseigene Modellpalette nach unten zu ergänzen. Sinn macht das allemal, schließlich ist das damalige Einstiegsmodell, der "Ponton" schon 4,48 Meter lang. Sein Nachfolger, die "Flosse", wird es ab 1961 sogar auf 4,73 Meter bringen.
Entwicklungsvorstand Fritz Nallinger gibt seine Idee eines Anschlusstyps oder Grenztyps nach unten, wie er diese Fahrzeuggruppe definiert, nicht auf. Zumal mit dem Kauf der Auto-Union mittelfristig Entwicklungsbedarf besteht. Denn absehbar ist, dass die Zweitaktfahrzeuge der Auto-Union-Marke DKW keine Zukunft haben, und für ein schlüssiges Gesamtportfolio fehlt ein Mercedes-Benz-Produkt unterhalb der bisherigen Modellklassen.
So konstruiert die Vorentwicklung in Untertürkheim - Leiter ist Ludwig Kraus - damals ein solches Fahrzeug unter der Projektbezeichnung W 118. Für dieses sehen die Ingenieure einen ventilgesteuerten Boxermotor mit 1,5 Liter Hubraum und Frontantrieb vor. Zeitgleich wird ein neuer, hochverdichteter Vierzylinder-Reihenmotor (M 118) mit 1,7 Liter Hubraum erprobt. Der W 118 wird zum W 119 weiterentwickelt. Dieser hat den erwähnten neuen hochverdichteten Motor, von Daimler-Benz H-Motor genannt, unter der Haube, der mit seiner hohen Verdichtung von 1 : 11,2 und großer Sparsamkeit beeindruckt.
Enge Verwandtschaft mit der Pagode
Es entstehen Versuchsfahrzeuge, die mit ihrem SL-Gesicht, der niedrigen Gürtellinie, dem lichten Dachaufbau und der Heckgestaltung eine stilistische Nähe zum Mercedes 230 SL (W 113, "Pagode") haben. Auch bei späterer Betrachtung ist die Baureihe sehr ansehnlich. Unklar ist bis heute, ob Daimler-Benz geplant hatte, den W 119 als Mercedes in Ingolstadt vom Band laufen zu lassen oder ob es sich um das Projekt für einen neuen DKW handelt.
Christof Vieweg vertritt in seinem Buch "Mercedes-Benz Raritäten" die Auffassung, dass man in Stuttgart nicht die Entwicklungen der Auto-Union abwarten wollte und deswegen mit dem W 118/119 auf die Tube gedrückt hat. So habe Kraus den Wagen in nur sechs Wochen hingestellt, wie dieser später in einem Interview sagt. Vieweg sagt über die Prototypen mit zwei und vier Türen: "Dieses Auto entspricht weder der Philosophie noch der Formensprache von Mercedes-Benz; es ist für die Auto-Union vorgesehen und steht dort offenbar bei der Serienentwicklung Pate."
Das Problem: Keiner will den Zweitakter
Fest steht beim Anblick der Bilder: Der Prototyp wirkt so gut wie serienreif, auch innen. In jedem Fall kümmert man sich bei Daimler-Benz um die kränkelnde Tochter: Als es in den Jahren 1962/63 bei der Auto-Union Probleme mit den Zweitaktmotoren gibt, schickt Nallinger Kraus zur Schadensbegrenzung dorthin. In dessen Gepäck befinden sich die Pläne für die Baureihe W 119 und für den H-Motor.
Im August 1963 wird der DKW F 102 vorgestellt, eine 4,28 Meter lange Limousine und optisch dem W 119 nicht unähnlich. Doch unter der Haube des F 102 arbeitet noch immer ein Zweitakt-Motor mit 60 PS Leistung, den die Kunden bis auf eingeschworene Liebhaber des Konzepts nicht mehr akzeptieren. Erschwerend kommen technische Probleme des Dreizylinders hinzu. Am 8. Oktober 1963 übernimmt Ludwig Kraus die Stelle als stellvertretender Geschäftsführer und Technischer Direktor bei der Auto-Union. Dort setzt er gegen alle Widerstände die Axt beim Zweitakt-Motor an.
Mercedes-Motor als Argument für den Audi./h3>
Als Ersatz kommt von Mitte der 1960er-Jahre an bei der Auto-Union der Mercedes-Viertakter unter der Bezeichnung Mitteldruckmotor zum Einsatz. Die Auto-Union wird 1964/65 an Volkswagen verkauft. Im August 1965 debütiert ein leicht umgestalteter DKW F 102 mit dem 72 PS starken Mercedes-Motor unter dem schlichten Namen "Audi". In der Werbung wird sogar offensiv auf die Herkunft des Aggregats verwiesen, obwohl Audi nun zu VW gehört. Bei den Kunden kommt der Wagen gut an, allein 1966 werden über 60.000 Verkäufe registriert.
Ergänzt um immer weitere Leistungsvarianten läuft der erste Audi bis 1972 vom Band, ehe ihn der Audi 80 ablöst. Die Form des Mercedes W 118/119 findet sich im Meisterstück des inzwischen zum Audi.Chef aufgestiegenen Ludwig Kraus wieder. Der Audi 100 von 1968 ähnelt in der Linienführung dem Konzept von einst. Man kann es nicht anders sagen: Daimler-Benz hat seinen späteren Rivalen Audi erst zur Wiedergeburt verholfen.
Nallinger erläutert im Dezember 1965 kurz vor seiner Pensionierung: "Es war seinerzeit angedacht, dass dieser Typ - der, wie angeführt, schon in Erprobung bei uns war - eventuell bei BMW oder der Auto Union fabriziert werden würde." Und er fährt programmatisch fort: "Ich vertrete die Meinung, dass ein solcher Zweitwagentyp, der auch als Auffangtyp gelten kann, nun [,also viele Jahre später,] schleunigst wieder konstruiert und versuchsmäßig in Angriff genommen werden muss [...]."
"Schleunigst" ist aber relativ: Bei Mercedes brummt der Laden, erst 1982, zwei Jahre vor Nallingers Tod, wird dessen Idee eines "Baby-Benz" Wirklichkeit. Der 190 (W 201) begründet die Ahnenreihe der heutigen C-Klasse.