Fußball-Fieber im Fahrerlager

Die auto motor und sport Formel 1-Reporter berichten in ihren F1-Tagebüchern von ihren persönlichen Erlebnissen bei den 19 Grand Prix-Rennen der Saison 2014. In Teil 9 blickt Michael Schmidt hinter die Kulissen des GP England.
Nach dem Zuschauerboom in Österreich erwartet uns auch in Silverstone wieder ein volles Haus. Da ist auf England Verlass. Die Fans kommen immer, ob es stürmt oder schneit. Und auch wenn ihre Stars mal nicht die ganz große Rolle spielen. Diesmal können die Engländer wieder mit einem einheimischen Siegkandidaten zittern. Das Duell Nico Rosberg gegen Lewis Hamilton geht in seine neunte Runde.
Für uns beginnt der GP England am Mittwochabend mit dem Flug nach London. Überraschenderweise fliegen wir pünktlich ab und kommen pünktlich an. Das ist bei Flügen nach London die Ausnahme. In Heathrow herrscht so viel Anflugverkehr, dass es eigentlich immer zu Verzögerungen kommt. Auch diesmal drehen wir eine Ehrenrunde über London. Aber die hat British Airways wohl schon in ihre Flugzeit mit eingerechnet. Auch auf dem Weg von Heathrow in unser Hotel nach Milton Keynes kommen wir ohne Stau durch. Londons größter Parkplatz, die M25, ist um 21 Uhr fast menschenleer.
Silverstone gehört zu den vier Dinosauriern der Formel 1. Doch die besondere Atmosphäre kommt alleine von den Fans. Die Rennstrecke hat schon lange ihr Gesicht verloren. Insgesamt neun Mal wurde umgebaut. Inzwischen ist Silverstone ein unübersichtliches Gewirr von Straßen und Asphaltflächen. FIA-Zäune und Leitplanken trennen die Strecke von den Verbindungsstraßen ab.
Orientierungsprobleme in Silverstone
Ich kenne noch das alte Silverstone, diese ultraschnelle Strecke mit ihren sieben Kurven, der hässlichen Schikane in Woodcote und der Zielgeraden vor Copse Corner. Das neue Silverstone mit der Boxenanlage zwischen Club Corner und Abbey will mir nicht in den Kopf. Auf den Fernsehbildern muss man immer zwei Mal überlegen, an welcher Stelle die Autos gerade sind. Es hatte sich so ins Hirn eingebrannt, dass Copse Corner die erste Kurve ist, dass man jetzt komplett die Orientierung verliert.
Sehr zum Verdruss von Kollege Grüner brechen wir immer früh vom Hotel auf. Trotz der neuen Verkehrsführung kann man in Silverstone nie vor Staus sicher sein. Wenn es keinen gibt, produzieren die Ordnungshüter einen. Diesmal stockt es, als wir schon fast am Haupteingang zur Strecke sind. Aus unerfindlichen Gründen brauchen wir für die letzten 300 Meter 15 Minuten. Deshalb wohnen die meisten Fahrer in ihren Motorhomes im Infield der Strecke. Und viele von den Teams kommen mit dem Motorrad.
Im Vergleich zu früher ist das aber Kindergeburtstag. Unser Kollege Achim Schlang erzählt heute noch gerne, wie er im Jahr 2000 für die Strecke von Northampton bis Silverstone 6.30 Stunden brauchte und gerade noch rechtzeitig zum Start kam, obwohl er das Hotel um 6 Uhr morgens verlassen hatte. Ich hatte damals Glück. Am Kreisverkehr in Towcester, wo ich auf den Mega-Stau traf, öffnete sich eine kleine Lücke, durch die ich auf meinen Schleichweg abbiegen konnte. Auf dem ging es ohne ein einziges Mal anzuhalten auf Feldwegen bis zum Presseparkplatz.
Zu Silverstone gehört auch unser Stamm-Chinese in Towcester. Der unscheinbare Laden namens "Rice Bowl" macht die beste Crispy Duck in ganz England. Zwei Abendessen an den 5 Tagen sind dort mindestens Pflicht. Das sehen auch unsere Kollegen von der Bild-Zeitung und die gesamte brasilianische Journalisten-Gruppe so. Inzwischen gehört ja auch Rubens Barrichello als Experte für Globo TV dazu.
England-Grand Prix im Schatten der Fußball-WM./strong>
Der Grand Prix steht ein bisschen im Schatten der Fußball-WM. Am Freitag zittern die Brasilianer im Viertelfinale, tags darauf die Deutschen. Das Spiel Brasilien gegen Kolumbien sehen wir bei einigen Pints in der Hotelbar. Unsere Kollegen von der Copacabana leiden mit der Selecao, dürfen am Ende aber dann doch feiern.
Das Match Deutschland gegen Frankreich unterbricht den Fahrerlager-Alltag. Während Kollege Grüner im Mercedes-Motorhome den 1:0-Sieg der Deutschen mit Nico Rosberg, Romain Grosjean, Niki Lauda, Toto Wolff und Überraschungsgast Helmut Marko sieht, verfolge ich das Spiel mit einem Auge im Pressezentrum. Einer muss das Internet ja füttern.
Tagesgespräch am Samstag sind die Pannen des Abschlusstrainings. Ferrari und Williams fliegen schon in der ersten K.O.-Runde raus. Schuld ist die typische Arroganz der großen Teams. Wissen alles besser, verlassen sich voll auf die Daten anstatt logisch zu denken.
Lewis Hamilton hat einen Blackout. Er bricht das Q3 ab, weil er sich nicht vorstellen kann, dass es auf der halbfeuchten Strecke noch schneller geht. Er kann nicht ahnen, dass der zweite Teil des Kurses schon trocken ist, und dass man dort 4 Sekunden auf den ersten Versuch gutmachen kann. Rosberg bleibt auf dem Gas und schnappt dem Teamkollegen die Pole Position weg. Hamilton stürzt noch auf den sechsten Platz ab.
Räikkönen lässt Feierabend verschieben
Auch am Sonntag geht es drunter und drüber. Wegen der Zeitverschiebung beginnt der GP England schon um ein Uhr Ortszeit. Das heißt normalerweise für uns, dass wir am Abend eine Stunde früher fertig sind und noch vor Mitternacht das Hotel am Flughafen in London beziehen können. Kimi Räikkönen macht uns allerdings einen Strich durch die Rechnung. Der Finne kanoniert seinen Ferrari in der ersten Runde so heftig in die Leitplanken, dass Reparaturarbeiten anstehen. Die dauern genau eine Stunde. Damit sind wir wieder im europäischen Zeitplan.
Das Rennen ist auch sonst unterhaltsam. Rosberg fällt mit einem Getriebeschaden aus. Mercedes atmet heimlich auf. Ohne den Defekt hätte es zum ersten großen Eklat kommen können. Dann wäre Hamilton vor dem Gewissenskonflikt gestanden, ob er dem Befehl zum zweiten Boxenstopp nachkommen soll oder nicht. Mit einem Einstopprennen hätte er sein Heimrennen sicher gewonnen.
Für ihn wäre es aufgrund seiner Reifenwahl möglich gewesen. Für Rosberg nicht. Aber Mercedes wollte ja unbedingt fair spielen und beide Fahrer mit der gleichen Taktik durch das Rennen bringen. Was uns bei Mercedes vorenthalten bleibt, bekommen wir von Sebastian Vettel und Fernando Alonso. Die beiden duellieren sich nach allen Regeln der Kunst und fluchen am Funk aufeinander. Das war ganz großer Sport.
Der GP England endet für uns mit der nächtlichen Rückreise nach London, einer kurzen Nacht und einem frühen Flug nach Stuttgart. Die Autobahn-Schilder warnen zwar vor einem großen Stau auf der M40, doch gottseidank irren sie sich. Es hätte uns auch gewundert. Die normalerweise stark frequentierte Autobahn ist zu nachtschlafender Zeit kaum befahren. Wo bitte soll da ein Stau sein? Dann ist auch noch die Maschine nach Stuttgart pünktlich. England ist einfach nicht mehr das, was es mal war.
In unserer Bildergalerie nehmen wir Sie mit hinter die Kulissen des GP England.