Mein letztes Foto von Jules Bianchi

Die auto motor und sport Formel 1-Reporter berichten in ihren F1-Tagebüchern von ihren persönlichen Erlebnissen bei den 19 Grand Prix-Rennen der Saison 2014. In Teil 15 blickt Tobias Grüner hinter die Kulissen vom GP Japan.
Leider müssen Sie in diesem Jahr darauf verzichten zu erfahren, warum Japan zu meinen absoluten Lieblingsländern gehört. Gerne hätte ich ausführlich über die höflichen Menschen, das verrückte Essen, die leidenschaftlichen Formel 1-Fans oder erlebnisreiche U-Bahn-Fahrten in Tokio erzählt. Doch dafür bleibt in diesem Jahr leider keine Zeit. Auch ohne das ganze Drumherum wurde Japan zum verrücktesten und leider auch traurigsten Rennwochenende meiner Formel 1-Karriere.
Taifun-Alarm in ganz Japan./strong>
Schon als wir am Mittwoch die ersten Impressionen von der Strecke einfangen, braut sich etwas zusammen. Panisch erzählen uns alle von dem Taifun, der Kurs auf die Strecke in Suzuka genommen hat. Ich erinnere mich noch an das Jahr 2010, als das Qualifying wegen Dauerregens ausgefallen war und auf den Rennsonntag verschoben wurde. Timo Glock hatte damals mit Teamkollege Lucas di Grassi in der Wartepause Poker vor der Garage gespielt. In der Boxengasse ließen die Mechaniker selbstgebastelte Schiffchen in den Fluten schwimmen.
Dieses Mal soll aber alles noch viel schlimmer kommen, warnen die Wetterfrösche. Kollege Schmidt versucht mich zu beruhigen: "2004 wurde uns auch gesagt, dass ein Taifun kommen soll. Am Rennsonntag hatten alle Angst. Keiner ist zur Strecke gefahren. Und dann schien plötzlich die Sonne." Täglich fragen wir bei Steffen Dietz, dem Meteorologen des Formel 1-Wetterdienstes Ubimet, nach. Doch der Wetterprophet macht keine Hoffnungen. Schon am Freitag erklärt er mutig: "Die Chance, dass es im Rennen trocken bleibt, gehen Richtung null."
Lange wird darüber diskutiert, ob man den Start nicht vorverlegen sollte. Zunächst steht sogar ein Grand Prix am Samstag im Raum. Später geht es nur noch um ein paar Stunden. Mir wäre ein Vormittagsrennen sehr gelegen gekommen. Weil es nur mit dem Shuttle zurück zum Hotel geht, ist die Arbeit nach der Zieldurchfahrt immer eine riesige Hetze. Doch die Vernunft siegt dieses Mal nicht. Der Veranstalter beharrt auf der ursprünglichen Startzeit.
Vettel-Abschied kommt überraschend
Neben dem Wetter kommt am Freitag noch ein weiteres Thema wie aus heiterem Himmel. Die italienische Gazzetta dello Sport meldet, dass Sebastian Vettel 2015 Red Bull verlassen wird und bei Ferrari andockt. Solche Geschichten gab es aus Italien in den letzten Jahren mehrfach. Wir reagieren darauf kaum noch. Am Abend hängen sich dann auch noch die Kollegen der Sportbild an die Story dran - allerdings noch mit einem Fragezeichen in der Überschrift. Vettel selbst dementiert das Ganze offiziell.
Wir trauen dem Braten doch nicht so ganz und fragen sicherheitshalber bei Teamchef Christian Horner nach. Der Brite erklärt uns am Abend glaubwürdig, dass er bei Vettel keine Anzeichen von Abschiedsstimmung erkennen kann. Erst wenige Tage zuvor habe der Pilot sein Merchandising-Programm für die kommende Saison abgenickt. Auch die Verteilung der Termine für die Wintertestfahrten habe man schon besprochen. Es gibt keinen Grund an der Ehrlichkeit des Teamchefs zu zweifeln. Wie wir später erfahren sollten, hatte er selbst keine Ahnung von den Plänen seines Piloten.
Auf dem Weg zum Shuttle treffe ich am Samstagmorgen auf die Truppe von Sky F1, die mich kurzerhand in ihren Mietwagen einladen. Völlig überzeugt erzähle ich Reporterin Tanja Bauer und Kommentator Sascha Roos, dass ich nicht an den Wechsel glaube. Vettel hat schließlich noch einen Vertrag bis Ende 2015. Dass Fernando Alonso die Scuderia verlassen will, ist bereits klar. Aber dass die Nachfolgeregelung schon geklärt sein soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Kollege Schmidt hatte einen Shuttle vor mir zur Rennstrecke genommen. Kaum im Fahrerlager angekommen erklärt er mir, dass ich schon mal den Abschiedsartikel von Vettel vorbereiten solle. Auf dem Weg zum Ingenieursbriefing hatte der Weltmeister mit einem kurzen Nicken bestätigt, dass er die Fronten wechseln wird. Eine Stunde später ist auch schon die offizielle Pressemitteilung von Red Bull im E-Mail-Postfach.
Ferrari schweigt zum Thema Vettel
Besondere Hektik ist trotz der brisanten Nachrichtenlage nicht angesagt. In Deutschland ist es gerade 3 Uhr Nacht. Die meisten unserer Leser schlafen noch, als Horner öffentlich herausposaunt, dass Ferrari wohl ein lukratives Angebot gemacht habe. Von der Scuderia hört man zu dem Thema Vettel allerdings nichts Offizielles.
Auch Vettel selbst hält sich bedeckt. In seiner Presserunde im vollgepackten Red Bull-Pavillon bittet der Weltmeister um Verständnis, dass er seinen neuen Arbeitgeber noch nicht nennen dürfe. Ob mit oder ohne Bestätigung ist allen 100-prozentig klar, dass es zu Ferrari gehen wird. Es gibt keine Alternative. Außerdem ist Ferrari der einzige Rennstall, der von seiner Strahlkraft für Vettel in Frage kommt.
Genauso viel Andrang wie in der Vettel-Presserunde herrscht auch bei Alonso. Der Spanier hatte lange seine Solidarität mit Ferrari bekundet. Doch plötzlich ändert sich der Tonfall. "Ich habe einen großen Plan. Allerdings passen noch nicht alle Puzzle-Teile zusammen. Wenn es soweit ist, werdet Ihr alle sagen: War ja klar. Warum sind wir nicht schon früher darauf gekommen."
Die großen Reden und die Geheimnistuerei sind eigentlich nicht nötig. Schon seit Saisonbeginn wird über eine Rückkehr Alonsos zu McLaren spekuliert. Wo der große Plan hinter dem Wechsel steckt, kapiere ich bis heute immer noch nicht.
Rennsonntag bringt Regen
Am Rennsonntag wird das Transferkarussell dann mit einem Schlag zur Nebensache. Wie angekündigt haben die ersten Ausläufer des Taifuns Suzuka erreicht. Mein kleiner Reiseknirps geht wenige Meter nach dem Verlassen des Hotels in die Knie. Zum Glück gibt es am Bahnhof neben der Shuttle.Haltestelle Ersatz. Es gießt in Strömen. Meine Schuhe sind trotz des neuen Schirms direkt komplett durchnässt, als ich ein paar Schnappschüsse der Piloten bei der Fahrerparade schießen will.
Trotz des lange vorhergesagten Regens werden die Fahrer in Cabrio-Klassikern um die Strecke kutschiert. Manche nehmen sich einen Schirm mit. Andere packen sich in dicke Kapuzenjacken ein. Nur Jules Bianchi trotzt den Naturgewalten und zeigt sich den Fans fast unverhüllt. Der Franzose auf der Rückenlehne des Lotus-Roadsters – es ist mein letztes Foto von Jules Bianchi.
Im Rennen geht es wie erwartet chaotisch los. Gestartet wird hinter dem Safety-Car. Weit kommt das Feld allerdings nicht. Schon nach wenigen Runden biegen alle in die Boxengasse ab. Wir befürchten eine Komplett-Absage des Grands Prix, doch dann lässt der Regen plötzlich nach. Zwischendurch sieht es fast nach einem normalen Rennen ohne größere Zwischenfälle aus. Doch dann setzt plötzlich der Regen wieder ein.
Kollege Schmidt blickts als Erster
Adrian Sutil rutscht mit seinem Sauber als Erster in die Bande. Wir warten nur darauf, dass die Rennleitung das Safety-Car wieder losschickt. Plötzlich meint Kollege Schmidt, dass mit Bianchi irgendetwas passiert ist. Auf dem Ergebnismonitor fehlt die Zeit für den zweiten Sektor. Mir wäre das nie aufgefallen. Doch dann wird plötzlich das Medical-Car losgeschickt. Auf den TV-Bildern ist nicht zu erkennen, was los ist.
Auf Twitter wird spekuliert, dass Sutil irgendetwas passiert sei. Ich schreibe, dass wir befürchten, dass es Bianchi erwischt hat. Dann zoomt die Kamera auf die Unfall.telle. Vom Marussia ist nicht mehr viel übrig. Es ist erst auf dem zweiten Blick hinter dem Kran zu erkennen. Die Rennleitung stoppt das Rennen. Im Pressezentrum herrscht Chaos. Keiner weiß, was passiert ist.
Ich muss in aller Eile den Rennbericht schreiben. Hamilton hat gewonnen. An der Stimmung bei der Siegerehrung ist deutlich zu erkennen, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Während ich den ersten 3 Piloten bei der Pressekonferenz zuhöre, versucht Schmidt draußen im Fahrerlager Infos zu Bianchi zu bekommen. Nachdem die Stimmen der Sieger im Netz sind, dreht sich alles nur noch um den schweren Unfall.
Chaotische Nachrichtenlage
Ich bereite den Artikel vor. Ständig kommt Schmidt mit neuen Details. Bianchi im Medical Center. Bianchi nicht bei Bewusstsein. Bianchi wird zum Krankenhaus transportiert. Der Rettungshubschrauber hebt ab. Ist Bianchi an Bord? Oder im Krankenwagen? Verwirrung. Chaos. Keiner weiß Bescheid. Erst als die FIA bestätigt, dass der Unfall.ilot auf der Straße transportiert wird, geht unsere Story online.
Endlich habe auch ich die Zeit, ins Fahrerlager zu gehen und Stimmen einzufangen. Zufällig kommt Adrian Sutil gerade aus dem FIA-Häuschen gegenüber vom Pressezentrum, in das die TV-Interviews wegen des Dauerregens verlegt wurden. Ich hatte schon gehört, dass der Bayer im Fernsehen nicht viel über den Unfall sagen wollte. Da ich Sutil aber von einigen gemeinsamen Geschichten gut kenne, versuche ich auf dem Fußweg zum Sauber-Pavillon noch ein paar Informationen zu bekommen.
Sutil erzählt mehr über den Unfall, als ich erwartet hätte. Er habe an der Unfall.telle gestanden und alles von Anfang bis zum Ende gesehen, berichtet er. Ich bohre immer weiter. Doch bei der Frage nach dem Grad der Verletzungen von Bianchi blockt der Pilot schließlich ab. Sein Gesichtsausdruck lässt allerdings wenig Spielraum für Interpretationen. Alles läuft irgendwie wie im Film ab. Als Sutil nach meiner letzten Frage zum Sauber-Pavillon abdreht, merke ich erst, dass ich von mehr als 10 Journalistenkollegen umringt bin. Sie hatten uns schon die ganze Zeit ihre Aufnahmegeräte unter die Nase gehalten.
Die englischen und italienischen Kollegen fragen aufgeregt, was Sutil gesagt hatte. In solchen Momenten gibt man die frischen Zitate natürlich weiter. Trotz Konkurrenzdenken und der Jagd nach exklusiven Informationen ist die Solidarität unter den Pressevertretern groß. Einzelkämpfer haben hier keine Chance. Man könnte ja selbst auch in die Situation kommen, auf andere angewiesen zu sein.
Bianchi-Unfall ist das einzige Thema
Nachdem das "Suil-Interview" auf der Webseite ist, gehört die ungewöhnlich wenig besuchte Presserunde von Williams-Mann Rob Smedley am späten Abend für mich zum Pflichttermin. Der ehemalige Ferrari-Renningenieur von Felipe Massa war schon beim letzten schweren Unfall 2009 in Ungarn dabei. Wie erwartet gibt es einige interessante Ansichten darüber, ob ein Cockpit-Käfig sinnvoll und machbar ist und ob das Rennen nicht zu spät abgebrochen wurde.
Es gibt nur ein Thema an diesem Abend. Und es gibt jede Menge Infos und Geschichten dazu. Kollege Schmidt bekommt zum Beispiel detailliert geschildert, welche Beschädigungen das Auto davongetragen hat. Er erzählt, dass es die Airbox wegrasiert hat. Ich bin schockiert. Neben den Hintergrund-Storys müssen auch noch die Bilder des Rennens gesammelt werden. Wir diskutieren, ob wir ein Foto der Unfall.telle zeigen sollen. Wir entscheiden ein Bild des Autos zu veröffentlichen, auf dem der Pilot nicht zu sehen ist.
Um kurz vor null Uhr fährt der letzte Shuttle. Nach einem kurzen Mitternachtssnack geht die Arbeit im Hotel weiter. Als ich um 3 Uhr endlich das Licht ausmache, wütet draußen der Taifun auf Höchststärke. Die Regentropfen trommeln auf die Fensterscheibe. Als der Wecker schon 5 Stunden später zum Aufbruch klingelt strahlt wieder die Sonne als wäre nichts gewesen.
Am Montag fahren wir mit dem Shinkansen-Schnellzug nach Tokio. Dort geht am Dienstag der Flieger nach Sotschi. Kaum angekommen rufen die Kollegen von Sky Sports aus Deutschland an und fragen nach einem Telefon-Interview mit Kollege Schmidt zum Thema Bianchi.
Nach dem kurzen Abendessen taucht ein Fan-Video des Unfall. auf YouTube auf. Kurze Zeit später bekommen wir die Meldung aus der Redaktion, dass einige Webseiten über die Rolle der gelben Flaggen spekulieren. Mit unseren Unterlagen, Streckenskizzen und Screenshots versuchen wir zu belegen, dass die Streckenposten keinen Fehler gemacht haben. Die Kollegen der Bild-Zeitung interessiert das offenbar nicht. Es muss schließlich ein Schuldiger gefunden werden.
Als ich nach der nächsten viel zu kurzen Nacht am Dienstagmorgen endlich im Flieger nach Westen sitze, klappen mir noch vor dem Start die Augen zu. Leider war es nicht alles nur ein schrecklicher Traum.
In unserer Bildergalerie nehmen wir Sie mit hinter die Kulissen des GP Japan.