Ferrari-Rätsel gehen weiter nach Saisonende

Die Tank-Affäre um Ferrari in Abu Dhabi hat die Gegner wieder stutzig gemacht. Fest steht, dass Charles Leclerc im Rennen nach FIA-Messungen legal unterwegs war. Er hatte im Ziel aber auch 43 Sekunden Rückstand auf Sieger Lewis Hamilton. Die Sektor-Analyse ließ Erinnerungen an Barcelona wach werden.
Ferrari kommt nicht zur Ruhe. Seit der Sommerpause hat die Konkurrenz den WM-Zweiten im Verdacht, dass dem Motor in gewissen Phasen mit unlauteren Mitteln zu mehr Leistung verholfen wird. Zu deutlich mehr Leistung. Ferrari dementiert die angeblich 50 PS, die im Raum stehen. Man selbst misst höchstens 20 PS. Die Geräusche aus der Ecke von Mercedes und Red Bull sind nach Meinung der Teamleitung in Maranello die üblichen Destabilisierungsversuche.
Beim GP USA jedoch machte Red Bull ernst. Das Team präsentierte der FIA eine Theorie, wie man über die Manipulation des Mess-Signals der Durchflussmengenmessung mehr Sprit einspritzen kann als erlaubt. Die FIA stellte in einer Technischen Direktive klar, dass dies eine illegale Praxis sei. Der ersten Klarstellung folgten zwei weitere. Die eine verbietet Kühlmittel zur Nutzung als Verbrennungszusatz, die andere warnt die Teams vor, dass es 2020 einen zweiten Sensor im Benzinsystem geben wird, verschlüsselt, mit geheimer Messfrequenz und nach dem Zufallsprinzip verteilt. Außerdem wurden die Benzinsysteme von Ferrari, HaasF1 und Red Bull konfisziert. Weitere Direktiven sollen folgen, um die Gerüchte endlich zum Schweigen zu bringen.
Ferrari-Teamchef Mattia Binotto sieht in den Aktivitäten des Verbandes kein Misstrauensvotum gegen das Team: „Wenn du in einem Bereich einen Vorteil hast, ist es normal, dass du häufiger überprüft wirst als deine Wettbewerber. Nach der Veröffentlichung der Technischen Direktiven wurden diese Überprüfungen sogar noch intensiviert. Das ist in unserem Sinne, denn so konnten wir zeigen, dass wir legal waren, vor und nach den Klarstellungen. Im letzten Teil der Saison haben wir kein einziges Mal die Einsatzbedingungen unseres Motors verändert.Wenn irgendetwas nicht legal gewesen wäre, wäre es schon beim ersten Check herausgekommen.“ Präsident Louis Camilleri fügt hinzu: „Wir sind ein börsennotiertes Unternehmen. Integrität steht bei uns an erster Stelle.“
Gerade als man dachte, in die Affäre sei Ruhe eingekehrt, flammte sie erneut auf. Bei einer Stichprobe vor dem Start zum GP Abu Dhabi stellten die FIA-Prüfer am Auto von Charles Leclerc fest, dass 6,6 Liter Benzin (4,88 kg) mehr im Tank waren als auf dem Spezifikationsblatt angegeben. Theoretisch bestand damit die Möglichkeit, die maximal erlaubte Benzinmenge von 110 Kilogramm zu überschreiten und im Rahmen dessen auch hin und wieder mehr einzuspritzen als die gestatteten 100 Kilogramm Kraftstoff pro Stunde.
Gewichtsnachteil kostet 8,25 Sekunden
Die FIA versicherte nach einer weiteren Überprüfung am Ende des Rennens, dass Leclerc in allen Parametern legal unterwegs gewesen sei. Dabei wurde das Auto mit der Startnummer 16 erneut mit dem Restbenzin und ohne gewogen. Nach dieser Rechnung stimmte das Gewichtsdelta mit dem überein, was die Durchflussmengenmessung über die gesamte Renndistanz ergeben hatte. Nach der Vorwarnung war aber auch nichts anderes zu erwarten. Ein Team, das im Verdacht steht, mehr getankt zu haben als angegeben, würde mit dem Feuer spielen, wenn es dann die zusätzliche Menge auch noch verbrennt.
Ferrari kann sich die Diskrepanz zwischen ihrer Angabe und der Wirklichkeit bis heute nicht erklären. „Wir wurden bestimmt zehn Mal in dieser Saison gemessen, und nie gab es eine Unstimmigkeit. Deshalb müssen wir verstehen, warum es in Abu Dhabi anders war“, erklärte Binotto noch vor Ort. Ferrari wollte damit sagen: Wenn zehn Mal alle gestimmt hat, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Ferrari beim elften Mal absichtlich versucht hätte, falsche Angaben zu machen. Ferrari bestand darauf, dass die eigenen Berechnungen eine Übereinstimmung mit dem angegebenen Wert ergeben hätten. Zwischen den Zeilen war daraus zu lesen, dass der Fehler bei der FIA-Messung liegen müsse. Die Behörde bestreitet den unterstellten Messfehler.
Dann hätte sich Ferrari selbst bestraft, denn Leclerc musste die knapp fünf Kilogramm extra ja das gesamte Rennen mitschleppen, wenn er sie schon nicht verbrennen durfte. Das macht 0,15 Sekunden Zeitverlust pro Runde oder 8,25 Sekunden über die Distanz. Würde man andererseits statt 115 statt 110 Kilogramm Benzin vom Start bis ins Ziel verbrennen, hätte man über die von Red Bull beschriebene Methode der Durchflussmengen-Manipulation einen Leistungsvorteil von fünf Prozent, der sich in einer halben Sekunde pro Runde ausdrücken würde. Das ergibt über 55 Runden einen Zeitvorteil von 27,5 Sekunden. Unter den Umständen wäre Leclercs Rückstand von 43,4 Sekunden auf Lewis Hamilton ziemlich peinlich gewesen. Er wird auch nicht viel freundlicher, wenn man die Annahme zugrunde legt, dass der Monegasse zu viel Benzin an Bord hatte. Ohne die zu viel getankte Menge hätte Hamilton immer noch 35,2 Sekunden Vorsprung gehabt.
Schnell auf Geraden, langsam in Kurven
Ferrari geriet in Abu Dhabi schwer unter die Räder. Das Bild erinnerte fast ein bisschen an den GP Spanien. Nach zwei Sektoren hatten die Ferrari-Piloten einen Vorsprung von 0,239 Sekunden auf Lewis Hamilton und 0,290 Sekunden auf Max Verstappen. Sie verloren alles im dritten Sektor auf insgesamt zehn Kurven. Charles Leclerc büßte dort 0,636 Sekunden auf Hamilton ein, Sebastian Vettel 0,755 Sekunden. Der Grund ist simpel. Zu wenig Abtrieb. Als Folge davon bezahlten die Ferrari-Piloten mit zu heißen Reifen in diesem Sektor. Die Geschichte in Barcelona las sich ähnlich. Zwei Sektoren lang fuhren die Ferrari auf Augenhöhe mit Mercedes, dann ließen sie in den letzten sechs Kurven Federn und verloren dort sieben Zehntel.
Dass der Rückstand in Abu Dhabi ähnlich krass ausfiel wie in Barcelona überrascht. Ferrari hat in der Zwischenzeit in mehreren Ausbaustufen deutlich Abtrieb draufgepackt. Warum war der in Abu Dhabi plötzlich wieder verschwunden? Und warum verwendete Ferrari beim letzten Rennen dann den Austin-Flügel? Der steht in der Ordnung der Fügel eine Stufe unter maximalem Abtrieb. Offenbar hätte Ferrari noch mehr Zeit verloren, wenn ein Monaco-Flügel zum Einsatz gekommen wäre. Weil man dann das Auto noch schwieriger in Balance gebracht hätte. Der Gewinn in den Kurven hätte den Verlust auf den Geraden nicht wettgemacht.
Das ist die logische Erklärung. Die Gegner dagegen wurden schon wieder misstrauisch. Ferrari zeigte auf den Geraden erneut eine verdächtig starke Form. Nicht ganz so wie zu besten Zeiten, als man bis zu einer Sekunde in den Vollgaspassagen gutgemacht hat, jedoch mehr als in Austin und Brasilien. Die Ferrari holten auf allen Geraden 0,45 Sekunden auf Mercedes und Red Bull auf. Im Topspeed waren das bis zu neun km/h. Das Misstrauen stieg, als Leclerc im Rennen meistens im Normalmodus unterwegs war, obwohl er einen relativ frischen Motor im Auto hatte. Er wurde erst beim GP Brasilien neu eingebaut. Binotto erklärte den Umstand damit, dass Leclerc seine Reifen managen musste. Im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Sonntag drohte Red Bull-Sportchef Helmut Marko: „ Mit mehr Power könnte man sich auch mehr Abtrieb auf Kosten von Luftwiderstand kaufen. Nächstes Jahr schauen wir da nicht mehr zu.“
Keine Siegchance mehr seit Mexiko
Ferraris Gegner machen ihre Zweifel auch daran fest, dass Ferrari seit dem GP USA kein Siegkandidat mehr war. Das war jenes Rennen, vor dem die FIA ihre erste Direktive verschickte. Am Samstag waren die roten Autos noch in der Lage, in die erste Startreihe zu fahren, doch am Sonntag schien die gute Form plötzlich verschwunden. Ein paar Zahlen zum Vergleich: In Sotschi hätte Ferrari ohne Vettels Defekt gewonnen. In Suzuka hielt sich der Rückstand von Vettel auf Sieger Valtteri Bottas mit 13,3 Sekunden in Grenzen. Und in Mexiko hatte Vettel den siegreichen Mercedes mit 1,7 Sekunden Rückstand in Sichtweite.
Für die Klatsche von Austin fand Ferrari keine Erklärung. Den Großteil seines Rückstandes von 52,2 Sekunden hatte sich Leclerc auf dem Medium-Reifen eingefahren. Auf den Mischungen Hart und Soft waren die Rundenzeiten deutlich besser. Ferrari war auch in Brasilien trotz des günstigen Streckenlayouts mit einer langen Zielgeraden nicht siegfähig. Zum Zeitpunkt des ersten SafetyCars lag Vettel 21,4 Sekunden zurück. Hochgerechnet auf die Gesamtdistanz wären das 28,7 Sekunden geworden.
Auch die 43,4 Sekunden von Abu Dhabi erinnerten eher an die erste Saisonhälfte. Leclerc und Vettel legten zwar einen Boxenstopp mehr ein als Mercedes und Red Bull, doch diese Taktik war aus Sicht von Ferrari der schnellere Weg zum Ziel. Die Reifen bauten zu stark ab. Wir ziehen hier noch einmal Barcelona als Vergleich heran. Da betrug der Rückstand auf Mercedes vor der SafetyCar-Phase in der 43. Runde 29,1 Sekunden. Daraus wären nach 66 Runden 44,6 Sekunden geworden.
Aus Sicht der Gegner ist das nur so zu erklären, dass Ferrari in den letzten Rennen Leistung zurückgenommen hat. Nach Ferrari-Darstellung fehlt weiter Abtrieb, was auf bestimmten Strecken mehr zur Geltung kam als auf anderen. Weil Mercedes in Suzuka und Red Bull in Austin noch einmal ein Aero-Paket gezündet hatten und weil Honda ab dem GP Japan in der Motorleistung fast zu Mercedes aufschließen konnte, sah Ferrari im Vergleich zu vorher wieder schlechter aus. Dass man trotzdem bei allen Rennen nach der Sommerpause die Möglichkeit hatte, am Samstag in die erste Startreihe zu fahren, hat nach Aussage von Binotto nur einen Grund: „Da deckt der Grip der frischen Reifen unser Abtrieb.defizit zu.“