„Unsere Chance, Dinge zu ändern“
In Krisenzeiten ist der Präsident gefragt. Wir haben mit FIA-Chef Jean Todt über die Auswirkungen und Lehren der Corona-Krise gesprochen, über ein vernünftiges Maß des Kostendeckels, wie und wann die Saison weitergehen soll. Und natürlich war auch die Ferrari-Motorenaffäre ein Thema.
Wie erleben Sie die Corona-Krise im Home-Office?
Todt: Es ist eine Zeit des Nachdenkens, der Neuordnung der Werte, dem Setzen von Prioritäten. Wir begreifen jetzt zum ersten Mal, wie verwundbar wir sind. Wir sind bis jetzt zu oft in unserem goldenen Käfig gesessen und haben übersehen, was in der Welt passiert. Es ist auch die Zeit zu erkennen, dass wir gerade die einmalige Gelegenheit haben, Dinge die aus dem Ruder gelaufen sind, zu ändern und wieder gerade zu rücken.
Die Krise als Chance?
Todt: Gewissermaßen ja. Wichtig ist aber, dass wir die richtigen Schlüsse ziehen und die richtigen Schritte einleiten. Wir reden über die Zukunft. Da ist es hin und wieder besser, sich für bestimmte Entscheidungen eine Woche länger Zeit zu nehmen.
Ist die Corona-Krise die größte Herausforderung Ihrer Amtszeit?
Todt: Es ist nicht nur meine größte Herausforderung. Es ist die größte für den ganzen Planeten. Wir befinden uns in einer Situation, die unsere Schwäche als Mensch zeigt. Vor 14 Jahren habe ich mit einer Gruppe von Freunden einschließlich Michael Schumacher ein Institut ins Leben gerufen, das heute mit rund 700 Spezialisten Krankheiten und Verletzungen des Gehirns und der Wirbelsäule erforscht, wie Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose. Dabei kümmern wir uns um bekannte Krankheiten, die aber im Detail unbekannt waren und noch sind. Zum Glück betrifft das nicht wie heute bei Corona die gesamte Bevölkerung. Ich hoffe, die Krise öffnet den Leuten die Augen. Zuerst, demütig zu sein. Verantwortung zu zeigen. Wir leben in einer Welt, in der Unsummen in Atomwaffen investiert werden. Wir können zum Mond fliegen. Wir entwickeln autonome Autos. Aber wir verstehen immer noch viel zu wenig von uns selbst. Jetzt stehen wir einem weitgehend noch unbekannten Virus gegenüber, der um die Welt reist und ansteckt ohne es zu merken. Ich hoffe, jeder versteht die Zeichen und setzt in Zukunft andere Prioritäten.
Muss auch die Formel 1 umdenken?
Todt: Sie ist Teil dieser Welt. Aber die Leute in unserer kleinen Welt haben den Boden unter den Füßen verloren. Wir reden gerade über die Budgetdeckelung. Ich habe eine Rechnung aufgemacht. Würden wir uns auf einen Kostendeckel von 150 Millionen Dollar einigen, was ja schon mal ein großer Schritt zum augenblicklichen Stand wäre, dann würden die kleinen Teams 150 Millionen ausgeben. Die großen mit den ganzen Ausnahmen kommen aber über 300 Millionen, ohne die Motorentwicklung. Das ist verrückt.
Was ist aus Ihrer Sicht ein vernünftiges Budgetlimit, das allen Parteien gerecht wird?
Todt: Wir können nur auf eine vernünftige Zahl kommen, wenn wir die Formel 1 von heute vergessen und mit einem weißen Blatt Papier beginnen. Mit einem Kostendeckel von 50 Millionen Dollar ohne Ausnahmen wäre aber nichts mehr wie es war. Es wäre eine völlig neue Formel 1. Eine Super-Formel 2. So wie die Formel 1 im Moment strukturiert ist, ist so ein Neuanfang nicht möglich. Da würden wir zu viele Teams verlieren, auch die großen.
Okay, wo liegt der goldene Kompromiss?
Todt: Wir haben zwei Optionen. Die eine ist: 130 Millionen Dollar mit allen Ausnahmen. Die zweite ist ein Stufenplan mit 140 Millionen im ersten Jahr, dann 130 und schließlich 120 Millionen.
Mit oder ohne Ausnahmen?
Todt: Mit Ausnahmen. Die Extras rausnehmen ist im Moment nicht möglich. Wir behalten also den Status Quo, nur mit einem niedrigeren Deckel. Ohne diese Krise wären es 175 Million gewesen. Wir reden jetzt über einen Neustart nach der Krise.
Die großen Teams argumentieren, dass Hersteller anders behandelt werden sollten als die Kundenteams. Sie fordern unterschiedliche Budgetlimits. Wird darüber nachgedacht?
Todt: Wenn es so erklärt wird, wie es uns die Hersteller erklärt haben, wäre es ein Argument, über das man nachdenken müsste. Die einen entwickeln, konstruieren und produzieren ein Produkt, das andere Teams kaufen. Nehmen sie den Motor. Der ist für die Kunden limitiert auf 11 Millionen. Den Hersteller kostet das aber viel mehr. Nehmen wir an, dass der Kunde 50 Millionen beim Hersteller für das ganze Paket bezahlt. Der Vorschlag ist, dass diese 50 Millionen vom Budget des Kunden abgezogen werden sollten. Mit dieser Rechnung kann ich mich, ehrlich gesagt nicht anfreunden.
Wie geht es jetzt weiter?
Todt: Am Donnerstag gab es ein Meeting nur mit den großen Teams. Wir haben dieses Problem besprochen. Eigentlich sollte die entscheidende Sitzung am Freitag stattfinden, doch wir haben sie auf nächste Woche verschoben. Wir wollen die Situation besser verstehen. Lieber eine Woche länger warten und dafür ein besseres Ergebnis bekommen.
Können Sie überhaupt vernünftig planen? Vielleicht einigen Sie sich nächste Woche auf einen Kostendeckel, und in zwei Monaten stellen sie fest, dass die ganze Lage noch viel dramatischer ist.
Todt: Das einzige Szenario, das eine Anpassung danach notwendig machen würde, wäre der Verlust einiger Teams. Was wir nicht ausschließen können. Ich hoffe, dass wir nicht in diese Situation kommen. Dann müssten wir uns mit den Inhabern der kommerziellen Rechte Grundsatzfragen stellen wie: Wie soll die Formel 1 der Zukunft aussehen? Im schlimmsten Szenario wäre die Formel 1, wie wir sie heute kennen, nicht mehr möglich.
Die kleinen Teams haben Angst, dass ihnen die Besitzer abspringen, wenn sie für die Zukunft nicht die Perspektive der Chancengleichheit bekommen. Das hieße eine niedrigere Budgetdeckelung. Sehen Sie auch diese Gefahr?
Todt: Ich verstehe diese Position, aber ich glaube nicht an Wunder. Die Unterschiede zwischen Klein und Groß müssen geringer werden, aber wir dürfen nicht zu träumen beginnen. Es wird nie so sein, dass ein kleines Team regelmäßig gegen ein großes Team auf Augenhöhe antreten kann.
Selbst nicht mit einem Kostendeckel von 120 oder 130 Millionen?
Todt: Wir dürfen uns nicht selbst anlügen. Wenn wir über 120, 130 oder 140 Millionen Dollar reden, dann ist das der Kostendeckel ohne Ausnahmen. Für die großen Teams machen die Ausnahmen mehr als 100 Prozent des Kostendeckels aus. Jetzt haben sie bei einer Reduzierung des Budgetdeckels sogar den Wunsch geäußert, die Ausnahmen noch auszubauen. Aber da bin ich dagegen.
Das Absenken des Budgetdeckels soll den Teams Sicherheit für die Zukunft geben. Was können Sie tun, damit sofort gespart wird? Eine Reihe von Maßnahmen wie die Chassis-Homologation oder das Verschieben des 2021er Reglements wurden schon abgesegnet. Werden weitere Komponenten homologiert?
Todt: Da verlasse ich mich auf meine Spezialisten. Da sind die Techniker gefragt. Ich folge ihren Empfehlungen. Wir von der FIA arbeiten da mit den Rechteinhabern Hand in Hand. Das ist eine völlig neue Qualität.
Sie haben die neuen Regeln auf 2022 verschoben. Wie hart war das nach der ganzen Arbeit, die in diesen Neustart investiert wurde?
Todt: Wir hatten keine andere Wahl. Deshalb war es eine einfache Entscheidung. Wir müssen vernünftig bleiben. Stand heute wissen wir nicht einmal, wann die 2020er Saison losgeht. Alle Fabriken sind zu. Wir befinden uns wie die ganze Welt im Ausnahmezustand. Deshalb war diese Entscheidung nur logisch. Natürlich haben einige Teams sofort nach der Hand gegriffen, die wir ausgestreckt hatten und wollten die neuen Regeln erst für 2023. Da sind wir aber hart geblieben.
Haben Sie Angst, dass sich wie 2009 in der Finanzkrise einige Hersteller verabschieden und die Corona-Krise als Ausrede dafür hernehmen?
Todt: Vielleicht ist das keine Ausrede. Vielleicht zwingt sie die Realität dazu. Auf Basis der Diskussionen, die ich mit den Teams führe, sehe ich aber keinen Grund dafür, dass dieser Fall eintritt. Wir tun alles um den Herstellern zu helfen. Es hängt von unseren Entscheidungen für 2021 und 2022 ab.
Die komplexen Motoren können nur von großen Herstellern gebaut werden. Ein Ilmor oder Cosworth wären überfordert. Zeigt sich in dieser Abhängigkeit von den Herstellern eine Schwäche?
Todt: Ich habe diese Sorge nicht und bin bereit, die aktuellen Antriebseinheiten weiter zu verwenden.
Sie könnten diese Abhängigkeit mit einer schnellen Einführung von CO2-neutralem Kraftstoff reduzieren. Wenn das Benzin grün ist, können wir jede Motorarchitektur verwenden.
Todt: Die Einführung von synthetischem, umweltfreundlichen Kraftstoff steht ganz oben auf meiner Liste. Egal, welchen Motor wir einsetzen. Es ist aber eine komplexe Angelegenheit. Ich hatte letzte Woche Freitag ein zweistündiges Meeting mit unserem Motorenexperten Gilles Simon zu diesem Thema.
Die Fans wollen wissen, wann die Saison endlich losgeht. Was ist Ihr persönliches Gefühl?
Todt: Da gibt es zwei Parameter. Zum einen die Logistik und die Verträge mit den Veranstaltern. Zum anderen: Wir müssen unser Restaurant aufsperren dürfen. Und wir müssen sicherstellen, dass unsere Kunden dann auch in das Restaurant reindürfen. Das alles bestimmt den Re-Start. Bevor es losgeht, müssen wir diese Pandemie noch besser verstehen. Wir müssen schauen, ob die Exit-Strategien funktionieren und ob bis dann Medikamente auf dem Markt sind, die helfen. Das kann sehr schnell gehen. So wie es andersherum schnell gegangen ist. Erinnern Sie sich an den GP Australien? Ich finde, es war richtig, dass wir es dort probiert haben zu fahren. Es war auch richtig, die Veranstaltung vor dem ersten Training abzusagen. Weil sich alles so wahnsinnig schnell in die falsche Richtung entwickelt hat. Ich hoffe, dass bei den Fans der Appetit zurückkehrt, wenn wir diese nächsten und wichtigen Schritte gemacht haben. Wenn das der Fall ist, könnten wir sechs Monate zur Verfügung haben und bei zwei bis drei Rennen pro Monat noch eine ordentliche Saison hinkriegen. Das wären dann 15 bis 18 Rennen.
Besteht die Möglichkeit, die Saison bis in den Januar zu tragen?
Todt: Die FIA hätte kein Problem damit. Die Rechteinhaber aber wahrscheinlich schon. Ich sehe eher, dass die Weltmeisterschaft vor Weihnachten endet.
Weil es Verträge gibt, die dieses Jahr auslaufen?
Todt: Da könnte man Ausnahmeregelungen treffen.
Motorsport besteht nicht nur aus Formel 1. Als FIA-Präsident müssen Sie auch auf andere Serien schauen. Ist die Situation dort vergleichbar mit der Formel 1, besser oder schlechter?
Todt: Ich würde sagen, sie ist für alle gleich. Die Formel 1 ist die Spitze des Eisbergs. Deshalb reden wir mehr über sie. Ich habe vor unserem Gespräch mit Alejandro Agag gesprochen, wie wir den Kalender in der Formel E anpassen können. Wir haben gerade beschlossen, die Kart-Weltmeisterschaft in Brasilien auf nächstes Jahr zu verschieben. Letzte Woche haben wir mit den Rallye-Veranstaltern konferiert, welche Maßnahmen wir dort treffen können. Stichwort Rallye. Am Australien-Wochenende lief die Mexiko-Rallye. Wir haben sie einen Tag vorher abgebrochen, weil die Teilnehmer Druck ausgeübt haben. Sie hatten gehört, was in anderen Teilen der Welt passiert ist und waren nervös weiterzufahren. Ihr Kopf war nicht mehr bei der Rallye. Deshalb haben wir uns entschlossen, sie zu stoppen. Wir arbeiten sehr gründlich mit allen beteiligten Organisationen.
Lassen Sie uns über die Ferrari-Affäre sprechen. Die FIA gibt zu, dass sie immer noch Zweifel daran hat, dass Ferrari seine Motoren im letzten Jahr legal betrieben hat. Andererseits fehlt ihnen der letzte Beweis. Ist das nicht unbefriedigend?
Todt: Das passiert jeden Tag im normalen Leben. Wir nennen das im Zweifel für den Angeklagten. Als uns klar wurde, dass die Motoren möglicherweise nicht legal betrieben wurden und uns andere Teams von ihren Zweifeln unterrichtet haben, haben wir in einem ersten Schritt beschlossen, diese Zweifel für die Zukunft auszuschließen. Es wird diese Zweifel in Zukunft nicht mehr geben. Zur Zufriedenheit aller Teams, mit Ausnahme von Ferrari. Danach habe ich den Zweiflern regelmäßig geraten, einen Protest einzureichen. Zuletzt bei einem Meeting in Abu Dhabi, bei dem Chase Carey, Ross Brawn, Toto Wolff, Christian Horner, Peter Bayer und Nikolas Tombazis anwesend waren. Aber sie haben es nicht gemacht. Deshalb war ich verärgert, als die Teams in einem ihrer Briefe behauptet haben, ich hätte ihnen von einem Protest abgeraten. Das Gegenteil war der Fall. Nach der Qualifikation in Abu Dhabi haben wir den Tankinhalt von einem der beiden Ferrari gecheckt und eine Differenz zu den Angaben festgestellt. Die Sportkommissare haben das als menschlichen Fehler interpretiert und Ferrari bestraft. Wir haben über den Winter große Anstrengungen unternommen, um zu verstehen, was Ferrari da gemacht hat. Unsere Leute sind extra nach Italien dafür gefahren. Das einfachste für mich wäre es gewesen, die Sache zu den Akten zu legen. Aber da es diese Zweifel gab, habe ich meinen Technikern den Auftrag gegeben, die Angelegenheit so gründlich wie möglich zu untersuchen. Das haben sie gemacht. Aber Ferrari hat keines unserer Argumente akzeptiert. Nach Meinung unserer Techniker und unserer Rechtsberater waren wir nicht in der Lage zu hundert Prozent zu beweisen, dass sie etwas Illegales gemacht haben.
Sie hätten es dem FIA-Berufungsgericht übergeben können?
Todt: Richtig. Der Grund, warum ich es in Absprache mit den Rechteinhabern nicht gemacht habe war, dass wir dadurch eine unnötige Kontroverse geschaffen hätten, die uns auf unbegrenzte Zeit verfolgt hätte. Deshalb haben wir Verhandlungen mit Ferrari aufgenommen. Darauf haben sie sich eingelassen, aber nur unter der Bedingung, dass diese Gespräche vertraulich bleiben. Dem mussten wir zustimmen. Wir hatten keine andere Wahl. So sind wir zu einem Vergleich gekommen. Das war nicht einfach. In diesem Stadium hätten wir diesen Vergleich immer noch unter den Teppich kehren können. Ich hatte aber das Gefühl, dass es wichtig war, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass es eine Untersuchung und einen Vergleich gab. Es war auch keine Absicht, das zwölf Minuten vor Ende der Testfahrten an einem Freitag bekanntzugeben. Es hat einfach so lange gedauert, zu einer Einigung zu kommen. Ich wollte auch nicht länger warten. Einige Teams haben von uns erwartet und darauf gedrängt, dass wir uns zu diesem Fall äußern.
Aber ist es nicht so, dass Ferrari hätte beweisen müssen, dass sie immer legal unterwegs waren?
Todt: Sie haben nachgewiesen, dass sie legal gefahren sind. Wir haben das aber nicht geglaubt. Wir konnten unsere Zweifel aber nicht zu hundert Prozent beweisen. Wir waren in diesem Fall so fair, wie wir nur sein konnten.
Teil der Sanktionen für Ferrari war, dass sie zur Forschung an alternativen Kraftstoffen beitragen müssen. Viele sehen das als eine symbolische Bestrafung, die Ferrari Peanuts kosten. Sind es Peanuts?
Todt: Es ist ein substantieller Beitrag.