Nur ein Upgrade bis Saisonende
Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Was machen Formel 1-Ingenieure, wenn sie 63 Tage nicht arbeiten dürfen? Wie geht es mit der Fahrzeug-Entwicklung weiter? Wir haben bei Racing Point-Technikchef Andy Green nachgefragt.
Das gab es in der Formel 1-Geschichte noch nie. 63 Tage lang herrschte in der Königsklasse Stillstand. Die extralange Sommerpause schloss sich direkt an eine extralange Winterpause an. Nur unterbrochen durch sechs Testtage und einen abgesagten Grand Prix. Ende März mussten die Teams ihre Fabriktore schließen. Drei Mal so lang wie üblich. Nur Kopfarbeit war erlaubt. Die Führungskräfte waren damit beschäftigt, zusammen mit der FIA und dem Formel 1-Management einen Notplan und Spar-Regeln zusammenzuzimmern. Andy Green zählte als Technischer Direktor von Racing Point dazu.
Ende Mai sperrten die Fabriken der Formel 1 wieder auf. Allerdings nicht zu 100 Prozent. In England empfiehlt die Regierung allen Fachkräften, die von zuhause arbeiten können, auch zuhause zu bleiben. Bei Racing Point sind deshalb nur 50 Prozent der Belegschaft an ihrem Arbeitsplatz. Hauptsächlich die Produktion.
Die Ingenieure arbeiten weiter größtenteils im Home Office. Es ist ein neues Arbeitsgefühl, sagt Andy Green: "Wir haben uns noch vor der langen Sommerpause darauf eingestellt. Alle habe ihre Computer und CAD-Maschinen mit nach Hause genommen. Wir konnten das noch eine Woche testen, bevor wir schließen mussten. Es funktioniert. Es gibt Für und Wider, aber unter dem Strich erzielen wir die gleichen Ergebnisse wie vorher. Wir sind nahe an 100 Prozent Effizienz."
Zehn Wochen ohne Windkanal
Was macht ein Ingenieur mit 63 freien Tagen? Familie, Sport, Hausarbeiten, Lernen mit den Kindern. Die beiden Rennautos von Racing Point standen nach Ablauf der Pause in der Fabrik noch so, wie sie aus Melbourne zurückgekommen waren. Auch auf dem Papier hat sich der RP20 kaum verändert. "Die Entwicklung wurde komplett gestoppt. Wir haben am letzten Mai-Wochenende unsere erste Windkanal-Testreihe seit zehn Wochen gestartet", erzählt Green. Das Team arbeitet jetzt die Programme ab, die sich vor der Unterbrechnung noch in der letzten Entwicklungsschleife befanden.
Racing Point wird bei den ersten Rennen mit exakt dem Auto antreten, das für den GP Australien vorgesehen war. Es sollte die erste große Ausbaustufe des RP20 sein, nachdem der WM-Siebte des Vorjahres die kompletten Wintertests mit dem Basismodell bestritten hatte. Deshalb war auch für die ersten vier Rennen des ursprünglichen Kalenders kein weiteres größeres Upgrade vorgesehen.
Im Moment denken die Ingenieure darüber nach, wie sie den Entwicklungsfahrplan für den modifizierten Kalender umstellen sollen. "Wir machen gerade Pläne darüber, wie wir die zweite Jahreshälfte und das nächste Jahr angehen. Das wird ein völlig neuer Ansatz. Wir sind mit einem Reglement in die Pause gegangen, das nicht mehr existiert. Nach der Pause war das Reglement ein völlig anderes. Das verlangt eine komplette Re-Organisation", verrät Green.
2020 schon für 2021 vorarbeiten
Eines ist jetzt schon klar. Es wird ein abgespecktes Entwicklungsprogramm. Mehr aus Zeit-, als aus Kostengründen. "Wir werden weniger Upgrades haben als geplant", gibt Green zu. "Unser erstes Upgrade sind wir nicht einmal gefahren. Es wäre in Melbourne am Auto gewesen. Seitdem haben wir das Fahrzeug nicht angerührt. Ich rechne damit, dass es nach dieser Ausbaustufe nur noch eine weitere große in ungefähr zwei Monaten geben wird. Und natürlich die Spezial-Kits für Spa und Monza."
Die Rennen finden in so kurzen Abständen statt, das kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Dazu der Technikdirektor: "Wir haben jetzt acht Rennen in zehn Wochen. Ein großes Upgrade mit langem Vorlauf wird den Großteil der Saison verpassen. Wir wissen ja auch nicht, wie lange diese Saison dauern wird und wie viele Rennen wir noch haben werden. Wenn es nur zwölf sind, haben wir nach Monza schon zwei Drittel der Saison hinter uns. Für mehr als ein Upgrade läuft uns die Zeit davon. Dazu kommt noch, dass wir von jetzt bis zum Saisonende 20 Prozent weniger im Windkanal testen dürfen. Und im nächsten Jahr wird es noch weniger."
Deshalb wird Racing Point von der Entwicklung des 2021er Autos so viel wie möglich in dieses Jahr packen, so weit es die Regeln erlauben. Ab dem 1. Januar 2021 tritt nicht nur eine signifikante Reduktion an Aerodynamik-Tests in Kraft, sondern auch die Erlaubnis, dass 2022er Auto wieder in den Windkanal zu stellen. Dessen Nutzung dann auch zum Teil davon abhängig ist, auf welcher Position das Team in der Konstrukteurs-WM am Ende des Jahres landet.
Was aber laut Green nur ein kleiner Bonus oder Malus sein wird. "Das Extra an Windkanalzeit wird nicht ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg sein. Generell wird die Zeit im Windkanal im Vergleich zu vorher stark beschränkt. Weil wir dann wieder das 2022er Auto entwickeln dürfen, stehen wir vor der prekären Situation, dass es mehr Arbeit gibt, aber weniger Möglichkeit zu testen. Deshalb wollen wir so viel wie möglich jetzt schon am 2021er Auto arbeiten."