Der Sieg der Unberechenbarkeit
Vor fünf Wochen haben wir in Le Castellet über das langweiligste Formel 1-Rennen aller Zeiten gejammert. Heute feiern wir den GP Deutschland als eines der besten. Die F1-Bosse können daraus ihre Lehren ziehen.
Nach dem Grand Prix von Frankreich war die Panik groß. Die Langeweile wurde zum großen Thema. Plötzlich waren all die Maßnahmen, die ohnehin schon für 2021 geplant waren, nicht mehr gut genug. Plötzlich wurden Fässer aufgemacht, die wir schon längst geschlossen glaubten. Sprintrennen am Samstag, Tankstopps am Sonntag, Entwicklungs-Stopps für die Sieger, extra Testfahrten für die Verlierer.
Fünf Wochen später blicken wir auf drei Grands Prix zurück, von denen einer besser als der andere war. Mit Hockenheim als Höhepunkt. 78 Boxenstopps, 63 Überholmanöver, vier Safety-Car-Phasen. Ein Sieger mit fünf Reifenwechseln. Lewis Hamilton, der innerhalb einer Runde von ganz vorne nach ganz hinten durchgereicht wird, und Lance Stroll, der im gleichen Zeitraum von ganz hinten nach ganz vorne fährt.
Verrückter geht es nicht. Der GP Deutschland schafft es locker in die Top 50 der besten Grand Prix aller Zeiten. Viele nahmen die Galavorstellung der Formel 1 in Hockenheim zum Anlass zu hinterfragen, ob die Formel 1 wirklich eine Reform braucht. Sollte man für 2021 nicht alles so lassen wie es ist?
Sebastian Vettel meinte: „Wir sollten nicht alles ändern um des Ändern willens. Die DNA der Formel 1 ist immer noch gut. Wir dürfen nicht immer gleich in Panik alles neu erfinden wollen, nur weil es mal ein langweiliges Rennen gibt.“ Ferrari-Teamchef Mattia Binotto warnte vor Überreaktionen. „Die letzten drei Rennen waren sehr gut. Anpassungen reichen.“
Gar nichts ändern wäre falsch
Wer in Hockenheim den Beweis dafür sieht, gar nichts ändern zu müssen, der hat genauso Unrecht wie die Reformer, die alles auf den Kopf stellen wollen. Die drei Top-Teams haben natürlich den Wunsch, dass alles so bleibt wie es ist. Sie verschließen sich aus Eigeninteresse gerne der Erkenntnis, dass sich die Formel 1 über die Jahre mit vielen Dinge in eine Sackgasse geritten hat.
Es ist richtig, dass die Autos aerodynamisch simpler und damit weniger sensibel im Verkehr werden müssen. Es ist auch richtig, dass wir stabilere Reifen brauchen, die nicht sofort überhitzen wenn das Auto mal rutscht. Und dass eine Budgetdeckelung die Chancengleichheit vergrößert ist auch logisch. Je niedriger desto besser.
Die Formel 1 kämpft seit 20 Jahren mit diesen Defiziten. Sie muss diese Probleme direkt attackieren und nicht über Umwege. Änderungen am Format der Rennen sind meist nur Notbehelfe. Tankstopps wurden 1994 von Bernie Ecclestone mit dem Argument reaktiviert: „Wenn es nicht genug Action auf der Strecke gibt, will ich wenigstens Action in den Boxen haben.“
Man hätte sich damals besser um die Frage gekümmert, warum die Action auf der Strecke so schlecht war. Die Fahrer befürworten Tankstopps, weil sie glauben, dass weniger Gewicht den Reifen hilft. Das ist aber ein Denkfehler. Die Autos selbst würden mit kleineren Tanks höchstens um 10 Kilogramm leichter.
Zudem verschwindet der Gewichtsvorteil durch weniger Sprit in der zweiten Hälfte des Rennens. Wenn das Argument der Fahrer stimmen würde, müsste das Hinterherfahren am Ende des Rennens einfacher sein als am Anfang. Weil die Autos leichter sind. Leichtere Autos aber bedeuten schnellere Rundenzeiten. Darunter leiden die Reifen genauso wie unter mehr Gewicht.
Schafft mehr Unberechenbarkeit!
Wer optimale Voraussetzungen für spannende Rennen schaffen will, kann aus dem Krimi von Hockenheim viel lernen. Warum war die Show so gut? Weil das Wetter Regie führte. Und das Wetter lässt sich nicht berechnen. Und plötzlich stolpern auch die Top-Teams und die Top-Fahrer. Weil all die Berechnungen, Simulationen, Vorbereitungen nicht mehr zählen. Weil es auf den Menschen im Cockpit, an der Boxenmauer, am Schlagschrauber ankommt.
Mercedes, Ferrari und Red Bull haben jeweils nur einen ihrer Fahrer ins Ziel gebracht. Charles Leclerc, Valtteri Bottas und Pierre Gasly fielen durch Unfall aus. Lewis Hamilton warf eine Serie von Fehlern und Pannen zurück. Selbst Sieger Max Verstappen hatte einen Highspeed-Dreher, der ihn hätte das Rennen kosten können.
Unberechenbarkeit ist der Schlüssel, der diesem Sport wieder neues Leben einhauchen könnte. Wir können uns das Wetter nicht aussuchen. Aber wir können Unberechenbarkeit schaffen. Ziemlich einfach sogar. Man muss nur die Telemetrie abschaffen. Und die Datenerfassung stark einschränken. Alle sicherheitsrelevanten Informationen werden dem Fahrer aufs Display gespielt. Sobald die Startampel ausgeht, ist er auf sich allein gestellt.
Guter Motorsport braucht keine Mindestanzahl an Boxenstopps oder Vorschriften, wie viele Reifenmischungen man fahren muss. Jede Regel, die man dem Zuschauer erst einmal erklären muss, ist eine schlechte Regel.
Die Teams sollen bei jedem Rennen ihre 13 Reifensätze individuell aus den fünf Mischungen aussuchen können, die Pirelli im Angebot hat. Gestartet wird auf dem Reifensatz, auf dem man in der Qualifikation seine schnellste Runde gefahren ist. Das sollte für alle im Feld gelten.
Ob man danach gar nicht stoppt, drei Mal mit Soft oder fünf Mal mit unterschiedlichen Mischungen fährt, bleibt den Teams überlassen. Je größer die Auswahl, desto größer die Chance falsch zu liegen. Auch das hat Hockenheim gezeigt.