Punktabzug trotz legalem Auto
Racing Point hat im Copyright-Streit um die Bremsbelüftungen gewonnen und verloren. Die Bremsschächte sind legal und dürfen weiter verwendet werden. Der Designprozess verstößt jedoch gegen das Sportliche Reglement. Deshalb gibt es eine Geldstrafe und Punktabzug.
Am 12. Juli reichte Renault nach dem Grand Prix der Steiermark seinen ersten Protest gegen Racing Point ein. Seitdem bei jedem Rennen. Der französische Rennstall warf Racing Point vor, die Bremsbelüftungen am RP20 nicht selbst konstruiert, sondern mit Hilfe von Mercedes vom Vorjahresauto des Weltmeisters kopiert zu haben. Das stellte nach Ansicht von Renault den Bruch des Sportlichen Reglements in fünf Punkten dar.
Der Kläger wählte mit Bedacht die Bremsbelüftungen aus, weil diese aufgrund ihrer Komplexität schwer anhand von Fotos nachzubauen sind und weil diese Komponenten am 1. Januar 2020 ihren Status geändert haben. Von einem Teil, das man einkaufen durfte zu einem Teil, das man zwingend selbst designen musste.
Es dauerte 26 Tage, bis die vier Sportkommissare des zweiten Grand Prix des Jahres ihr Urteil fällten. Es ist auf 14 Seiten niedergeschrieben. Beginnen wir mit dem Urteil. Dem Protest von Renault wurde stattgegeben. Der Racing Point RP20 entspricht dem Technischen Reglement der Saison 2020 und darf deshalb in dieser Saison weiter eingesetzt werden.
Dagegen stellt der Designprozess der hinteren Bremsbelüftungen einen Bruch von Anhang 6 im Sportlichen Reglement dar, der verlangt, dass so genannte "Listed Parts" einzig und allein von dem betreffenden Team ohne Hilfe eines Mitbewerbers konstruiert werden müssen.
Racing Point muss deshalb für den Regelverstoß beim GP Steiermark 400.000 Euro Strafe bezahlen. Außerdem werden dem Team 15 WM-Punkte in der Konstrukteurs-WM abgezogen – 7,5 Punkte pro eingesetztem Auto. Für alle weiteren Einsätze der beiden Autos unter dem Protest von Renault wird Racing Point nur verwarnt.
Renault hatte in seiner Protestschrift dargestellt, dass die vorderen und hinteren Luftschächte des Racing Point RP20 nahezu identisch mit denen des Mercedes W10 aus dem Vorjahr sind. Dies sei nur mit fremder Hilfe möglich.
Für diese Übereinstimmung in fast allen geometrischen Formen und Dimensionen sowohl auf der Außenseite als auch im Innenleben reichen nach Ansicht des Klägers Fotos nicht aus, die in der Boxengasse oder im Parc fermé geschossen werden.
Racing Point reichte am 30. Juli seine Gegendarstellung ein. Am 5. August trafen sich die betroffenen Parteien in Silverstone mit den Sportkommissaren und FIA-Vertretern, teilweise persönlich, teilweise über eine Video-Konferenz zugeschaltet.
Die Argumente der Streitparteien
Renault bezeichnet die vorderen Luftschächte als nahezu identisch, die hinteren dagegen als "nicht unterscheidbar". Die Schlussfolgerung daraus sei, dass man sich dieses Wissen nicht aus öffentlich zugänglichen Quellen erworben haben könne, sondern Hilfestellung von Mercedes gehabt haben müsse. Das Datum dieser Hilfestellung sei irrelevant. Das Sportliche Reglement verlangt, dass sämtliche gelisteten Teile vom Team selbst konstruiert werden müssen.
Die Urteilsschrift verrät nicht, wie Renault genau zu seinem Verdacht kam. Wenn Racing Point keine Fotos von den Innereien der Bremsschächte gehabt haben kann, hat sie auch Renault als Verdachtsgrundlage nicht gehabt. Deshalb liegt der Schluss nahe. dass Renault diese Information von einem ehemaligen Racing Point-Mitarbeiter durchgesteckt wurde, der jetzt in eigenen Diensten arbeitet.
Racing Point erwiderte auf die Klage, dass Anhang 6, Paragraf 1 nicht genau erklärt, welche Schritte genau notwendig sind, wie ein Teil gemäß den Regeln selbst konstruiert werden muss. Man dürfe sich deshalb nicht auf den Ausgangspunkt des Designs fokussieren, der sich auf Fotos und Computer-Modellen (CAD) stützt. Aus dieser Basis sei das Endprodukt in 883 Einzelzeichnungen und vielen Windkanaltests entstanden. Das Resultat seien klar erkennbare Design-Unterschiede zwischen dem Original und der Kopie.
Racing Point gibt zu, dass man im Rahmen des Vertrages mit Mercedes die 2019er Bremsbelüftungen legal erworben habe, sogar noch am 6. Januar 2020, um einen Versorgungsengpass zu lösen. Diese Teile seien aber 2020 nie eingesetzt worden. Sie hätten auch keine neuen Informationen geliefert, die ohnehin bereits im Besitz des Teams waren.
Die vorderen Bremsbelüftungen
Neben den Dokumentationen der beiden Teams lag den Sportkommissaren auch die Bewertung des Falles durch das Technikbüro der FIA vor. Demnach lag die Beweislast bei Racing Point. Der Verband stellt schon in seinem zweiten Punkt klar, dass es keine Rolle spielt, wann die Bremsbelüftungen konstruiert wurden und dass sie 2019 noch nicht zu den gelisteten Teilen zählten. Es zählt nur, dass sie vom Team selbst entwickelt sein mussten.
Wer Daten, Zeichnungen und CAD-Modelle verwende, die nicht im eigenen Haus entstanden sind, macht sich im Sinne von Anhang 6 des Sportlichen Reglements strafbar. In Zweifel liegt französisches Recht zugrunde. Das verlangt, dass Regeln nach ihrer Absicht interpretiert werden müssen. Ab dem 30. April 2019 wusste jedes Team, dass die Bremsbelüftungen wegen ihrer Bedeutung für die Aerodynamik zum Jahreswechsel ihren Status ändern würden.
Die FIA-Technikexperten teilen den Protest in zwei Kategorien. Zuerst nahmen sie die vorderen Bremsschächte unter die Lupe. Racing Point hatte Ende 2018 dreidimensionale CAD-Modelle von Mercedes erhalten, um davon die entsprechenden Teile für den letztjährigen RP19 zu bauen und einzusetzen.
Diese Teile wurden dann dem normalen Entwicklungsprozess in der CFD-Simulation und im Windkanal unterzogen, um sie mit dem Rest des Autos abzustimmen. Als Racing Point mit der Konstruktion des RP20 begann, war der Mercedes W10 Ausgangspunkt des Konzept und natürlich auch die 2019er Bremsschächte.
Weil sich von 2019 auf 2020 die Radträger änderten, musste Racing Point kleine Anpassungen an den Luftschächten vornehmen, die im Vergleich zwischen Original und Kopie die von Renault erwähnten "kleinen Unterschiede" ausmachen. Dieser Vorgang war nach Ansicht der FIA absolut legal. Hätte Racing Point um Erlaubnis gefragt, wäre sie bewilligt worden, weil man ja das Wissen von einem Teil, das 2019 noch nicht zur verbotenen Liste zählte, nicht auslöschen kann.
Die hinteren Bremsbelüftungen
Ein ganz anderer Fall sind die hinteren Bremsbelüftungen. Da hatte Racing Point vor der Konstruktion des 2019er Autos zwar auch sämtliche Unterlagen erhalten, diese aber weitgehend ignoriert, weil die Bremshutzen des 2019er Mercedes am Racing Point nicht funktioniert hätten.
Der RP19 war im Gegensatz zum Mercedes W10 hinten deutlich stärker angestellt. Da hätte eine Übernahme der hinteren Bremsbelüftungen nicht in das Aerodynamikkonzept gepasst und wäre sogar kontraproduktiv gewesen.
Der Fehler von Racing Point aber war, diese zunächst legal erworbenen aber im Designprozess nie verwendeten oder je eingesetzten Komponenten für das 2020er Auto wieder auszugraben. Jetzt machte eine Übernahme der hinteren Bremsbelüftungen Sinn, weil der RP20 hinten genauso tief stand wie der Mercedes.
Hätte das Team die FIA in diesem Fall um Erlaubnis gefragt, hätte die Antwort "nein" gelautet. Die Teile wurden im 2019er Racing Point nicht verwendet und galten deshalb im Gegensatz zu den vorderen Bremsbelüftungen nicht als intellektuelles Eigentum des Teams.
Racing Point wusste genau, dass die Regeländerung bei der Einstufung der Teile sie zwang, sämtliche Komponenten, die 2019 nicht genutzt wurden, noch einmal völlig neu selbst zu entwerfen und Unterlagen davon zu vernichten.
Wegen der fast totalen Übereinstimmung der relevanten Teile liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Racing Point die hinteren Bremsbelüftungen nicht selbst konstruiert habe. Der Urheber des Designs ist damit Mercedes.
Die FIA stellt aber auch klar, dass Renault nur die Übereinstimmung der Bremsbelüftungen in Zweifel stellen konnte. Alle anderen Details am Auto könnten trotz der starken Ähnlichkeit im sogenannten "Reverse Engineering" anhand von Fotos entstanden sein.
Bei den Bremsschächten ist jedoch unstrittig, dass Racing Point von Mercedes CAD-Modelle erhalten hatte mit den genauen Spezifikationen für ihre Form und Dimensionen. Kleine Abweichungen nach zahlreichen Windkanal-Testreihen zählen nicht als eigener Input. Sie sind nur deshalb so klein, weil das Mercedes.Layout bereits nahe am Optimum lag.
Die Urteilsbegründung
Die Sportkommissare schlossen sich im Wesentlichen der Einschätzung der FIA-Techniker an. Sie werfen Racing Point vor es unterlassen zu haben, die FIA bei dem angewandten Designprozess der Bremsbelüftungen nicht um ihre Interpretation gefragt zu haben.
Die Bremsbelüftungen entsprechen in allen Details dem Technischen Reglement von 2020. Die Schiedsrichter räumen sein, dass das Sportliche Reglement nicht exakt spezifiziert, welche Kriterien erfüllt sein müssen um nachzuweisen, das ein betreffendes Teil vom Team selbst konstruiert wurde.
Bei den vorderen Luftschächten lässt sich die Entstehungsgeschichte auf ein Teil zurückführen, das Racing Point bereits 2019 legal eingesetzt hat. Bei den hinteren Luftschächten ist dies nicht der Fall. Deshalb ist davon auszugehen, dass der eigentliche Konstrukteur Mercedes ist. Da nicht zu erwarten ist, dass Racing Point erworbenes Wissen vergessen kann, wurde nur der Vorteil bestraft, den sich der Rennstall durch die Abkürzung des Designprozesses erworben hat.
Außerdem wurden einige strafmildernde Umstände angerechnet. Die Statusänderung der Bremsbelüftungen zum 1. Januar 2020. Das Fehlen einer klaren Richtlinie von Seiten der FIA. Das Versäumnis der FIA-Prüfer bei dem Fabrikbesuch Anfang März, Racing Point auf mögliche Konsequenzen seiner Auslegung der Gesetze hinzuweisen. Und der Umstand, dass man sich beim Kopie.en anhand von Fotos einen ähnlichen Wettbewerbsvorteil hätte verschaffen können. Auch die transparente Mitwirkung des Teams bei der Aufklärung des Falls wurde positiv vermerkt.
Das Urteil lässt trotzdem Fragen offen. Warum werden Racing Point für das zweite Rennen 15 Punkte abgezogen, obwohl Sergio Perez und Lance Stroll nur 14 Punkte eingefahren haben? Wie viele Verwarnungen für die weiteren Rennen darf ein Team anhäufen, bevor weitere Strafen drohen? Nehmen Renault und Racing Point oder irgendein anderes Team ihr Recht auf Berufung wahr, das am 8. August um 9.30 Uhr englischer Zeit ausläuft?
Und wie geht es im Copyright-Streit weiter? Renault wird sich nicht damit zufrieden geben, diesmal als Sieger dazustehen. Den Franzosen geht es darum, dass in Zukunft Nachbauten ganze Autos verhindert werden. In den Punkten 7, 8 und 9 der FIA-Argumentation lässt sich herauslesen, dass man genauer spezifizieren will, wie viel Kopie in Zukunft erlaubt ist.