Hamilton hilft Bottas zum Sieg
Valtteri Bottas feierte in Sotschi den zweiten Saisonsieg. Doch alle sprachen nach dem Rennen über die zehn Sekunden Strafe, die Lewis Hamilton für Probestarts an verbotener Stelle kassierte. Team und Fahrer fühlten sich ungerecht behandelt.
Es sollte nicht sein. Lewis Hamilton./span> kann den Rekord von 91 Siegen frühestens beim Eifel-Grand Prix am Nürburgring einstellen. Schon das Training zum GP Russland lief nicht nach Plan. Hamilton stellte seinen Mercedes nur unter großen Opfern auf die Pole Position.
Als Folge davon musste er mit den Soft-Reifen starten, während seine direkten Rivalen mit dem Medium-Gummi ins Rennen gingen, was ihnen strategisch viel mehr Spielraum gab. Doch dann unterlief dem besten Fahrer der Welt und seiner Perfektionisten-Truppe 40 Minuten vor dem Start ein Doppelfehler, der die Chancen auf einen Sieg auf ein Minimum reduzierte.
Lewis Hamilton./span> exerzierte seine Übungsstarts auf der Fahrt in die Startaufstellung nicht an der dafür vorgesehenen Stelle. Es ging nicht um eine Kleinigkeit. Hamilton parkte seinen Silberpfeil etwa 200 Meter später, kurz vor dem Punkt, wo die Boxengasse in die Strecke mündet. Eigentlich ist dafür eine Stelle direkt hinter der Boxenampel auf der rechten Seite reserviert.
Das zweite Vergehen bestand darin, dass der Fahrer von der Boxenampel bis zur eigentlichen Ausfahrt nicht wie von den Regeln verlangt eine konstante Geschwindigkeit einhielt, weil er ja zu den Startübungen anhalten musste. Weil Hamilton die Prozedur wiederholte, kassierte er auch zwei Fünfsekundenstrafen.
Fehler des Teams oder des Fahrers?
War es ein Fehler des Teams? Auf den ersten Blick ja. Renningenieur Pete Bonnington erlaubte seinem Fahrer auf Nachfrage den Probestart an der anderen Stelle. Allerdings war Bonnington aufgrund aller Vorbesprechungen zunächst der Meinung, dass Hamilton nur ein paar Meter weiter vor fahren würde als üblich, um nicht auf dem Platz beschleunigen zu müssen, wo der gesamte Gummiabrieb von den Probestarts liegt.
Wie der Funkverkehr später ergab, erteilte der Ingenieur Hamilton die Absolution, die Position auf "weiter vorne" zu legen. Auch beim Nachhaken, ob bis zum Ende der Boxengasse, kam kein Veto.
Es war Hamiltons eigene Interpretation, den Ort signifikant zu verlegen. Man schöpfte am Kommandostand offenbar auch keinen Verdacht und überprüfte deshalb anhand der GPS-Daten nicht, wo Hamilton tatsächlich seine Beschleunigungsversuche abwickelte. Das Fernsehen spielte die Bilder erst später ein. Und warum hat Hamilton überhaupt seinen Kommandostand konsultiert? Valtteri Bottas hat nicht gefragt und deshalb auch keine Antwort bekommen, die er hätte missverstehen können.
Teamchef Toto Wolff akzeptierte die Strafe, nicht aber die Begründung und die Umstände. "Wir glauben, dass wir nichts falsch gemacht haben. Es gibt hier zwei Meinungen zu dem Thema. Außerdem verstehen wir nicht, warum wir unsere Strafe im Rennen absitzen mussten für etwas, das vor dem Rennen passierte."
Den zweiten Punkt wird FIA-Rennleiter Michael Masi genauer erklären müssen. Die Mercedes-Strategen beharren darauf, dass Vergehen, die vor dem Start stattfinden mit Zeitstrafen nach dem Rennen geahndet werden müssten. Zum Beispiel wie in der Vergangenheit bereits passiert eine Verletzung des Tempolimits in der Boxengasse in den Runden zum Startplatz.
Weil der sechsfache Saisonsieger zusätzlich zu den beiden Zeitstrafen auch noch zwei Strafpunkte kassierte und sein Sündenregister damit auf zehn Punkte angewachsen wäre, entschied sich Mercedes zur Selbstanzeige. Die sollte Hamilton entlasten und ihn vor eine Rennsperre bewahren, die im Fall von zwölf Punkten ausgesprochen werden müsste.
Die Sportkommissare zeigten Gnade. Sie erkannten an, dass sich Hamilton aufgrund falscher Instruktionen vom Team auf den falschen Platz gestellt hatte. Deshalb muss jetzt das Team 25.000 Euro Strafe zahlen und Hamilton Strafkonto steht wieder bei acht Punkten.
Hinweise für Probestarts nicht eindeutig
Die Sportkommissare verwiesen auf Punkt 19 in den Veranstaltungshinweisen (Event notes), der den Platz für die Probestarts beschreibt. Allerdings nicht exakt. Im Text steht nur: Auf der rechten Seite hinter der Ampel am Boxenausgang. Hamilton und sein Team argumentierten, dass dieser Platz dem Buchstaben des Gesetzes nach irgendwo zwischen Boxenampel und Boxenausfahrt sein kann.
"Ich mache ihn nie dort, wo alle losfahren, sondern immer etwas später. Ich will einfach nicht dort starten, wo der meiste Gummi liegt", erklärte Hamilton. Der Grund liegt auf der Hand. Der Ort, den der WM-Spitzenreiter wählte, war vom Grip her viel repräsentativer zu seinem Startplatz auf der Rennstrecke als im Vergleich dazu der mit Gummi tapezierte Platz an der Boxenampel. Also durchaus ein Wissensvorsprung für Hamilton, der vielleicht auch erklärt, warum er im Schnitt besser startet als Bottas.
War es auch gefährlich? Dort, wo Hamilton seine Starts übte, ist die Boxengasse nicht mehr durch eine weiße Linie von der "schnellen Spur" (Fast lane) abgetrennt. Außerdem kann der Fahrer wegen der blinden Kurve in der Boxengasse Autos, die von hinten kommen, erst spät erkennen.
Hamilton widerspricht: "In Interlagos habe ich die Probestarts auch an einer späteren Stelle durchgeführt. Da ist es gefährlicher als in Sotschi, wo links noch viel Platz für andere Autos ist." Der Engländer gibt allerdings zu: "In Sotschi habe ich es noch nie so weit hinten gemacht."
Diese Auslegung fand nicht nur Zustimmung. Theoretisch hätten sich außer Hamilton auch andere Fahrer ganz am Ende der Boxengasse zum Probestart aufreihen können. Dann wäre es dort mangels Platz schon gefährlich eng geworden.
Hamilton hat nun schon zum zweiten Mal einen Sieg wegen eines Formfehlers verloren. Auch in Monza stolperte er in eine Falle, die einem das Renngeschehen nur alle paar Jahre mal stellt. Er wurde zum Reifenwechsel an die Box geholt, obwohl die Boxengasse gesperrt war.
Das Team hatte die Schließung der Boxeneinfahrt in der Hektik nicht rechtzeitig bemerkt, und Hamilton hatte die Leuchtsignale an der Außenseite der Parabolica nicht gesehen, und wenn er sie gesehen hätte, hätte er nicht gewusst, was sie bedeuten.
Auch in diesem Fall wollte Toto Wolff nicht mit dem Finger auf eine Person zeigen: "Solche Fehler passieren immer im Zusammenspiel. Es ist nie der Fahrer allein und auch nie das Team allein. Wir müssen jetzt nicht den Schuldigen suchen, sondern darauf schauen, dass solche Probleme nicht wieder auftreten."
Hätte Hamilton ohne Strafe gewinnen können?
Hätte Hamilton das Rennen mit einer Strafe nach dem Rennen gewinnen können? Wahrscheinlich nicht. Der frühere Boxenstopp zu Bottas hätte ihm so oder so gegenüber dem Teamkollegen ein großen Nachteil eingehandelt. Sotschi erwies sich als ein Rennen, bei dem der spätere Stopp gleich gut oder sogar besser war.
Aber Hamilton hätte wenigstens Zweiter werden können. Zum Zeitpunkt seines Boxenstopps lag er 5,2 Sekunden vor dem Red Bull. Ohne zehn Sekunden Gedenkpause vor dem Reifenwechsel wäre es für Verstappen schwer geworden die Zeit bis zu seinem Reifenwechsel neun Runden später noch gutzumachen.
Hätte Hamilton das Rennen ohne Strafe sogar gewinnen können? Ja, aber es wäre eine knappe Kiste geworden. Er hätte auch dann in Runde 16 seine Soft-Reifen ablegen müssen, selbst wenn der Champion der Meinung war, er hätte wegen der Safety Car-Phase am Anfang noch fünf Runden länger mit dem Reifensatz fahren können als ursprünglich geplant.
"Das Safety Car hat uns zwei Runden gebracht. Lewis musste an die Box kommen, weil seine Reifen am Ende waren. Er hätte vielleicht noch eine Runde länger draußen bleiben können, dann aber wegen der abgenutzten Reifen massiv Zeit auf Valtteri und Max verloren", erklärten die Strategen.
Da der GP Russland ein Overcut-Rennen war, wäre Bottas nach seinem Stopp in Runde 26 wahrscheinlich vor Hamilton auf die Strecke zurückgekommen. Hamilton hätte den Finnen dann mit den älteren Reifen auf der Strecke überholen müssen. Eher unwahrscheinlich.
Deshalb sah sich Bottas auch als wahrer Sieger. Ihm wurden keine Geschenke gemacht. Hamilton brachte sich durch eine ganze Reihe von kleinen Fehlern über das gesamte Wochenende selbst in die missliche Lage. Auch der Teamchef fand, dass der WM-Zweite den Sieg verdient hatte: "Valtteri ist ein brillantes Rennen gefahren."
Obwohl der Rückstand weiter 44 Punkte beträgt, glaubt Bottas – mit freundlichen Grüßen an seine Kritiker – noch an das Unmögliche. "Ich habe Vertrauen darin, dass ich es noch schaffen kann. Aufgeben wäre der größte Fehler."
Der Finne nahm seinen Teamkollegen für dessen Fehltritt in Schutz. Bottas meinte, man könne als Fahrer nicht immer das ganze Regelbuch im Kopf haben und müsse sich auch auf die Ratschläge des Teams verlassen.
Wenn er damit die FIA-Regeln meint, hat er vielleicht Recht. Die Veranstaltungshinweise sollte man als Fahrer jedoch lesen. Das hätte schon in Monza geholfen. Gerade bei Hamilton, der auf Streckenrundgänge am Donnerstag generell verzichtet.