Tricksen die Teams Pirelli aus?
In Le Castellet wurde weiter heftig über die Reifenplatzer von Baku diskutiert. Pirelli-Sportchef Mario Isola stellte sich den Fragen der Presse. Doch der Italiener hatte immer noch keine Antwort parat, warum der Reifendruck bei Red Bull und Aston Martin unter den erwarteten Werten lag.
Schon lange wurde in der Formel 1 nicht mehr so heftig über die Reifen gestritten. Doch mit dem explodierenden Gummis an den Autos von Max Verstappen und Lance Stroll in Baku explodierte auch wieder das Interesse an den Produkten von Pirelli. Vielleicht hätte der Alleinausrüster aus Mailand die Diskussionen mit der üblichen Ausrede von Fremdkörpern auf der Strecke im Keim ersticken können. Stattdessen entschied sich Pirelli dafür, in die Offensive zu gehen.
Nach der Analyse der geplatzten linken Hinterreifen wurden die Teams darüber informiert, dass die innere Seitenwand durch stehende Wellen und Schwingungen vorgeschädigt wurde und schließlich kollabierte. Laut Pirelli lag der Grund dafür unter anderem darin, dass die Autos mit Luftdrücken auf der Strecke unterwegs waren, die unter den Erwartungen der Reifenexperten lagen – auch wenn die offiziell gemessenen Startdrücke noch im erlaubten Rahmen gelegen hätten.
Pirelli-Sportchef Mario Isola betonte im Gespräch mit der Presse in Le Castellet, dass man die betroffenen Teams nicht beschuldige, sich außerhalb der Regeln zu bewegen: "Ohne standardisierte Sensoren können wir die Reifendrücke während der Fahrt nicht messen. Deshalb bleibt uns nur, einen gewissen Startdruck zu definieren. Und der wurde bei den Teams in Baku eingehalten. Bei den geplatzten Reifen lagen die Bedingungen aber während der Fahrt außerhalb unserer Erwartungen."
Reicht die neue Direktive aus?
Eine Antwort auf die Frage, wie es die Teams schafften, den Luftdruck während der Fahrt niedriger zu halten als vorausberechnet, hatten die Ingenieure des Reifenlieferanten nicht. Pirelli wollte noch nicht einmal offiziell behaupten, dass die betroffenen Teams bei der Behandlung der Gummis getrickst haben.
Doch Korrekturen an der Technischen Direktive zu den Reifenparametern legen diesen Verdacht zumindest nahe. Darin sind nun explizit bestimmte Vorgehensweisen beschrieben, die ab dem Grand Prix von Frankreich schärfer überwacht werden. Zudem intensiviert die FIA die Checks der Reifen nach der Benutzung durch die Teams.
Im Fahrerlager von Le Castellet wurde am Donnerstag heftig über die Unfälle in Baku diskutiert. Red Bull und Aston Martin wiesen natürlich sämtliche Vorwürfe von sich. Die Konkurrenz hingegen forderte hinter vorgehaltener Hand harte Strafen, sollte sich tatsächlich herausstellen, dass einige Teams mit der Sicherheit der Piloten gespielt haben, nur um ein paar Zehntel schneller zu sein.
Legale und illegale Tricksereien
Zu den möglichen Tricksereien gibt es aktuell zwei Theorien: So könnte zum Beispiel die Luft, mit der die Reifen gefüllt werden, stark angefeuchtet sein. Unter der Hitze der Heizdecken verdampft die Flüssigkeit im Inneren der Pneus, wodurch der Druck auf die vorgegebenen Minimal-Werte steigt. Beim Abkühlen der Reifen auf der Strecke sinkt der Druck dann überproportional stark, was sich positiv auf den Grip auswirkt.
Eine andere Theorie besagt, dass die Teams einfach die Sensoren an den Heizdecken manipulieren. Eigentlich ist festgeschrieben, dass die Gummis vorne nur auf 100°C und hinten auf 80°C vorgeheizt werden dürfen. Wenn ein Team den Reifen nun deutlich heißer kocht, dann steigt natürlich auch der Druck, der von Pirelli vor dem Run gemessen wird. Beim Abkühlen der Reifen auf der Strecke ist die Temperaturdifferenz und damit auch die Differenz beim Luftdruck plötzlich höher als erwartet.
Die technische Direktive soll solchen Tricksereien künftig einen Riegel vorschieben. Laut Isola hätten die Teams positiv auf die Maßnahmen reagiert, die Pirelli ein besseres Bild von der Lage verschaffen sollen. Max Verstappen äußerte sich in der FIA-Pressekonferenz allerdings auch verärgert darüber, dass die Reaktion von Pirelli und der FIA den Eindruck erweckt, Red Bull habe möglicherweise getrickst.
"Unser Team hat alle Vorgaben in Sachen Reifendruck eingehalten", schimpfte der Holländer. "Sie behaupten, dass sie keine Möglichkeiten zur Überwachung während des Rennens haben, aber wir haben ihnen unsere Daten gegeben. Die beweisen, dass wir innerhalb der vorgegebenen Grenzen geblieben sind. Wenn ihre Vorgaben nicht korrekt sind, können wir auch nichts machen. Wir gehen natürlich an die Grenzen des erlaubten Rahmens, aber dafür kann uns Pirelli nicht die Schuld geben. Wir haben genau wie Aston Martin nichts falsch gemacht."
Pirelli bleiben nur höhere Startdrücke
Wie verlässlich die von Red Bull übermittelten Daten sind, lässt sich natürlich nur schwer sagen. Der Rennstall wird sich sicher nicht selbst belasten und den Beweis stark abgesenkter Luftdrücke direkt an Pirelli liefern. Die Frage lautet auch, warum die Reifenschäden nur bei Verstappen und Stroll aufgetreten sind und nicht an den Schwesterautos von Sergio Perez und Sebastian Vettel. Apropos Perez: Einige Konkurrenten sehen es als Möglichkeit, dass der Mexikaner ein paar Tricks von seinem alten Team zu Red Bull mitgebracht haben könnte.
Pirelli hatte die Probleme in Baku offenbar schon kommen sehen und den Startdruck der Hinterreifen nach den ersten beiden Freien Trainings um 1 PSI erhöht. Im Nachhinein war das aber zu wenig: "Wir hätten wohl noch einmal zusätzlich mindestens 1,5 PSI hochgehen sollen, um auf der sicheren Seite zu sein", gab Isola zu.
Auch auf die Frage, warum es ausgerechnet den linken Hinterreifen traf, hatte der Italiener eine Antwort: "In Baku führen die meisten Kurven linksherum. Die rechten Reifen sind dadurch mehr belastet, und weisen niedrigere Sturzwerte auf. Die kurveninneren Räder erhitzen sich weit weniger, deshalb ist hier auch der Luftdruck niedriger, was zu den stehenden Wellen geführt hat."
Bei Sebastian Vettel kamen die Erklärungen von Pirelli nicht gut an: "Die Sicherheit sollte bei den Reifen die erste Priorität haben. Natürlich gibt es immer mal wieder verschiedene Umstände und Szenarien, bei denen die Reifen unter enormen Stress stehen. Trotzdem sollte das Produkt so sicher wie möglich sein." Auf die Frage, ob er sich mit den aktuellen Reifen von Pirelli sicher fühle, antwortete Vettel: "Das kann ich weder zu 100 Prozent mit ja noch mit nein beantworten."
Standard-Sensoren erst 2022
Isola kündigte an, sich den Fragen der Piloten persönlich stellen zu wollen. Der Reifenpapst wird am Freitag im Fahrerbriefing dabei sein und versuchen, das angeknackste Vertrauen in seine Reifen wiederherzustellen. Als erste Reaktion wurden die Reifendrücke für das Rennen auf dem Paul Ricard Circuit gegenüber den ursprünglichen Plänen um 2,0 PSI erhöht. "Eine andere Möglichkeit haben wir momentan nicht", entschuldigte sich Isola.
Richtig beseitigt wird das Problem aber wohl erst in der nächsten Saison, wenn die FIA endlich standardisierte Sensoren in allen Reifen einführt. "Dann können wir einen verbindlichen Druck vorgeben, der auch während der Fahrt nicht unterschritten werden darf. Das wollten wir eigentlich schon diese Saison machen, aber durch Corona wurde die Einführung der 18-Zoll-Räder leider um ein Jahr verschoben."