Regen stürzt Norris und McLaren
Dieser Sieg wäre eigentlich Lando Norris vorbehalten gewesen. Doch McLarens Youngster verzockte in der Schlussphase, weil sein Team das Wetter nicht richtig einschätzte. Mercedes machte es besser und führte Lewis Hamilton zum Erfolg – und zur WM-Führung.
Lewis Hamilton sicherte sich in einem dramatischen Grand Prix den 100. Sieg seiner Formel 1-Laufbahn. Zum fünften Mal triumphierte er in dieser Saison und zum fünften Mal in Sotschi. Gleichzeitig entriss er Max Verstappen die WM-Führung, der nach Startplatzstrafe und Aufholjagd als Zweiter jedoch maximale Schadensbegrenzung betrieb. Lando Norris war der Held vom Samstag und stolperte am Sonntag über Regen. In unserer Rennanalyse beantworten wir die Fragen zum Sotschi-Kracher.
Wer profitierte im Regen, wer rutschte ab?
Ein Schauer in der Schlussphase ab der 46. Rennrunde mischte die Karten noch einmal neu. Zu diesem Zeitpunkt bestand folgende Reihenfolge: Norris – Hamilton – Pérez – Sainz – Alonso – Ricciardo – Verstappen – Leclerc – Stroll und Vettel, der sich in der Runde davor gerade in die Top 10 vorgekämpft hatte.
Der Regen stellte Teams und Fahrer vor die schwierige Entscheidung: durchhalten auf den Slicks bis zur Zielflagge im 53. Umlauf? Oder noch einmal abbiegen, Intermediates aufziehen, dafür aber zunächst um die 25 Sekunden verlieren. Am Ende mussten alle nochmals rein, weil die Intensität zunahm. Den besten Moment für den Wechsel auf profilierte Gummis erwischten wohl George Russell, Valtteri Bottas und Kimi Räikkönen, die in Runde 47 ihre Crews aufsuchten. Der eine Finne wurde von Mercedes reinzitiert, weil er auf Platz 14 ohnehin nichts zu verlieren hatte. "Ich hatte das Gefühl, dass es zu nass wurde, und ich besser reinkomme", führte Räikkönen aus.
Max Verstappen, Carlos Sainz, Daniel Ricciardo und Lance Stroll holten sich in Runde 48 die Intermediates. Für die drei erstgenannten zahlte es sich aus. Stroll war später in zu viele Scharmützel verwickelt. Lewis Hamilton kam auf Befehl des Teams einen Umlauf später. Alle anderen waren zu spät dran: Fernando Alonso, Sergio Pérez, Sebastian Vettel, Pierre Gasly, Esteban Ocon und Antonio Giovinazzi in Runde 50. Lando Norris und Charles Leclerc in Runde 51.
Der größte Gewinner hieß Bottas, der neun Positionen gutmachte. Verstappen und Räikkönen kletterten um fünf. Ricciardo um zwei Plätze. Hamilton, Sainz und Russell um jeweils einen Rang. Die Verlierer: Leclerc (minus 7 Plätze), Norris und Pérez (jeweils minus 6), Stroll und Vettel ( jeweils minus 2) sowie Alonso (minus 1).
Wieso wollte Norris so lange draußen bleiben?
Norris sah sich nach den Sternen greifen und prallte stattdessen auf den Boden. Der Pole-Setter führte 30 Runden und verpasste am Ende doch den Sieg. "Ich bin zerstört. Mein Herz fühlt sich gebrochen an."
Der McLaren-Pilot hatte nach verlorenem Start mit einem Manöver in der 13. Runde die Führung gegen Sainz erobert und hatte in der Folge alles im Griff. Bis der Regen einsetzte. Das Problem: McLaren ging davon aus, dass es bei einem leichten Schauer bleibt. So die Vorhersage der teaminternen Wetterfrösche. "Als sie mich an die Box riefen, war es mit den Slicks noch in Ordnung. Meine Info war, dass der Regen nicht zunehmen wird, was er dann aber tat. Das war unglücklich. Ich stehe zu meiner Entscheidung, auch wenn es die falsche war", führte Norris aus.
Vielleicht ist es kleiner Trost, dass auch der Weltmeister von seinem Gefühl getäuscht wurde. "Zunächst war es nur in den Kurven 5 und 7 rutschiger. Ansonsten war das Griplevel in Ordnung. Lando ist mal vor mir von der Strecke abgekommen. Da dachte ich, das passiert wieder und dann schnappe ich ihn mir. Als der Befehl zum Stopp kam, war ich deshalb nicht überzeugt. Ich dachte: Wie soll ich 24 Sekunden in so wenigen Runden wieder reinfahren? Doch ich habe dem Team vertraut. Sie haben alles richtig gemacht."
Mercedes hatte einen Vorteil. Der Verfolger in solchen Verhältnissen perse in der besseren Position, weil er den Gegner beobachten und das Gegenteil machen kann. Zudem interpretierten die Wetterexperten ihm Team die Informationen besser. "Wir wussten, dass noch mehr Regen kommt", sagt Teamchef Toto Wolff. Bottas diente als Referenz. Der Nummer zwei kam auf Intermediates schnell voran. "Wir wussten, dass es mit Lewis Zeit wird. Es ist unter solchen Bedingungen auch wichtig, zu antizipieren. Es zählt nicht nur, wie es aktuell ist, sondern wie es in fünf Minuten sein wird.
Hätte Hamilton auch ohne Regen gewonnen?
"Sicher kannst du es nie sagen, aber wir hätten die Chance gehabt", meint Seidl. Bei Mercedes ist man sich sicher, dass es mit dem Sieg nicht hingehauen hätte. Hamilton schloss zwar nach dem Boxenstopp eine Lücke von über acht Sekunden, obwohl er noch Stroll, Gasly und Sainz überholen musste, doch gegen den McLaren hätte es nicht gereicht, wenn Norris fehlerfrei geblieben wäre.
Hamilton hätte schon 1,4 Sekunden schneller sein müssen. So hoch war das notwendige Delta zwischen zwei Autos. Und das war der Weltmeister nicht. Eine Referenz bot der erste Rennteil. Hier steckte Hamilton hinter Ricciardo im zweiten McLaren zwischen den Runden 15 und 21 fest. Erst der Boxenstopp des Australiers befreite den Weltmeister. Mercedes-Teamchef Wolff bestritt, dass seine Mannschaft einen eigenen Stopp vortäuschte, um Ricciardo reinzulocken. "Wir haben nicht angetäuscht. Als wir gesehen haben, dass er stoppen wird, haben wir uns dagegen entschieden." Der Verfolger macht das Gegenteil.
Ausreichend Saft in den Reifen für eine Verteidigungsschlacht hätte Norris gehabt. Dank eines 28 Runden langen Stints auf den Mediums. In den verbleibenden 25 Umläufen wäre er auf dem widerstandsfähigeren harten Reifen in keine Probleme gelaufen. Auch nicht in Graining.
Wieso stockte die Aufholjagd von Verstappen?
Der Wechsel auf den vierten Motor der Saison verfrachtete Verstappen auf den letzten Platz. Im Hinterfeld war er in guter Gesellschaft. Auch Leclerc und Bottas wurden wegen frischer Triebwerke nach hinten verbannt.
Nach dem Start befand sich Verstappen an 17. Stelle. Dann überholte er Nicholas Latifi, Nikita Mazepin, Bottas, Gasly, Leclerc und Vettel. In der Folge spülten in die Boxenstopps der Konkurrenz weiter nach vorne. Der Niederländer selbst tauchte bereits zur Halbzeit bei seiner Crew auf, die von harten Reifen auf Mediums umrüsteten. "Der Plan wäre gewesen, länger zu fahren, doch die Aufholjagd hat zu viel Reifen gekostet", erzählte Red Bulls Sportchef Helmut Marko. Die Vorderreifen waren durch.
Auf den Mediums kämpfte Verstappen mit Graining. Er verlor sogar einen Platz an Alonso. "Vielleicht wäre es besser gewesen auf Medium zu starten und im zweiten Teil den harten Reifen zu haben", meinte Verstappen. "Generell ist das Mittelfeld einfach konkurrenzfähiger und enger zusammen. Irgendwann steckst du halt fest." Im späten Regen schwamm vor und büßte deshalb nur sieben Punkte auf Hamilton ein. In einem Trockenrennen wären es wohl zwölf geworden. "Das Team hat mich ständig nach den Verhältnissen gefragt. Manchmal konnte ich gar nicht antworten, weil ich vor lauter Arbeit am Lenkrad den Knopf für den Funk nicht betätigen konnte. Irgendwann war zu viel Wasser auf der Bahn. Dann habe ich gesagt, ich komme rein."
Wie erging es Russell?
Der dritte Startplatz war eine Sensation. In den ersten 12 Runden verteidigte Russell ihn. Dann musste er Stroll in die Box folgen, der mit einem Undercut vorbei wollte. Das warf den kommenden Mercedes-Fahrer ins Feld. Und in Turbulenzen leidet der Williams doppelt.
Über die Distanz waren die Mittelfeldkonkurrenten auf trockener Bahn ohnehin schneller. Ohne das richtige Timing im Regen wäre es mit einem Punkt nichts geworden. "Leider hatte ich nur noch gebrauchte Intermediates. Deshalb habe ich hinten heraus gelitten."