Ein Fehler und viele Folgen
Es sah aus, als hätten viele Fehler zu der Niederlage von Mercedes geführt. Tatsächlich war es nur einer. Alle anderen folgten daraus. Der Weltmeister unterschätzte Max Verstappens Undercut. Doch wo genau gingen die 3,2 Sekunden verloren?
Dieser GP Frankreich war ein Krimi. Auf der Strecke und an den Kommandoständen. Das lag daran, dass Mercedes und Red Bull mit zwei gleich schnellen Autos antraten, auch wenn Lewis Hamilton das anders sah. "Hätte Max am Start nicht den Fehler gemacht, wäre er die ganze Zeit vorne gefahren." Andererseits konnte Hamilton seinem WM-Gegner zu Beginn des zweiten Stints zwölf Runden im Windschatten folgen. Das ist immer ein sicheres Zeichen dafür, dass der nachfolgende Fahrer schneller ist.
Dieses Rennen in Paul Ricard wurde hauptsächlich an der Boxenmauer entschieden. Normalerweise hatte bei solchen Rennen meistens Mercedes die Nase vorn. Auch aufgrund der Tatsache, dass ein einsamer Verstappen gegen zwei Mercedes antreten musste. Jetzt hat der Holländer einen Helfer. Und dieser Sergio Perez spielte in den Überlegungen der Mercedes-Strategen eine große Rolle.
Red Bull-Sieg mit der Mercedes-Taktik
Es ist fast eine Ironie, dass Red Bull in Frankreich mit der Strategie gewann, die Mercedes so erfolgreich 2019 in Budapest und dieses Jahr in Barcelona durchgezogen hat. Verstappen gab freiwillig die Führungsrolle auf, um sich einen dritten Reifensatz abzuholen. Die Mercedes-Fahrer blieben auf der Strecke. Hamilton und Bottas zeigten sich am Funk überrascht, dass sie nicht auf diese Taktik gesetzt wurden. Wenigstens einer von ihnen. "Wir glauben, dass ein Stopp im Prinzip der richtige Weg war", trotzte Toto Wolff.
Der Fehler passierte schon viel früher, nämlich beim ersten Boxenstopp. "Wir dachten, wir hätten ein genügend großes Polster, um uns vor einem Undercut zu schützen. Das hatten wir aber nicht", erklärte Teamchef Toto Wolff. Mercedes hatte aber auch gute Gründe, den Undercut zu unterschätzen. Der harte Reifen brauchte trotz 36 Grad auf dem Asphalt seine Aufwärmphase. Und Valtteri Bottas war das perfekte Versuchskaninchen.
Der Finne lag in der 16. Runde 2,699 Sekunden hinter Verstappen. Einen Versuch wert, mit ihm den Undercut zu probieren. Als Verstappen eine Runde später stoppte und wieder auf die Strecke ging, hatte Bottas nur eine knappe Sekunde auf den Red Bull-Piloten gutgemacht. Dabei verbrachte der Finne 0,7 Sekunden mehr Zeit in der Boxengasse und war in seiner Runde aus der Box raus mit 1.40,235 Minuten nur drei Zehntel langsamer als Verstappen, der im Vergleich dazu 1.39,966 Minuten schaffte. Es hätten bei optimalem Verlauf zwei Sekunden sein können.
Die Strategen an der Mercedes-Kommandobrücke hatten also allen Grund zu glauben, dass Hamilton auf der sicheren Seite war. Deshalb holte man ihn auch nicht direkt nach Bottas an die Box, sondern wartete noch eine Runde länger. Sein Vorsprung auf Verstappen wuchs dabei noch einmal von 2,784 auf 3,104 Sekunden an. Das musste eigentlich locker reichen, um in Führung zu bleiben.
Hamilton verlor zwei Mal sechs Zehntel
Es reichte aber nicht. Nicht nur Hamilton wunderte sich, dass er plötzlich den Red Bull vor der Nase hatte. Wohin waren diese 3,1 Sekunden verdampft? Beim Boxenstopp selbst nicht. Der war sogar eine Zehntelsekunde schneller, wenn man der TV-Messung glauben darf. Bei der Gegenüberstellung der Runden, die zum Boxenstopp führten, verlor Hamilton sechs Zehntel auf seinen Rivalen. In der Boxengasse selbst auch noch einmal. Vermutlich weil Hamilton Zeit beim Bremsen und Beschleunigen in und aus der Parkbox liegen ließ.
Doch alles zusammengerechnet macht das keine 3,1 Sekunden aus. Zumal Verstappens OUT-Runde auch nicht galaktisch war, wenn man den Vergleich zu Bottas zieht "Wir haben da ein Delta, dass wir uns auch nicht ganz erklären können", gaben die Ingenieure zu. Die Telemetriedaten werden es zeigen. Der Logik nach muss die Zeit vom Boxenausgang bis zum Bremspunkt verloren gegangen sein. Entweder auf den 306 Metern im Rest der Boxenausfahrt oder beim Bremsen. Renningenieur Pete Bonnington teilte seinem Fahrer nach dem Boxenstopp mit: "Du liegst 1,5 Sekunden vor Verstappen." Vielleicht hat das den Weltmeister eingelullt.
Toto Wolff fasste zusammen: "Ab da war es ein Rennen mit den Rücken zur Wand." Die Strategen pflichteten bei: "Hätte Lewis die Spitzenposition behalten, hätte er gewonnen. Auch mit einem Einstopp-Rennen." Mit Verstappen vor der Nase folgte ein Problem dem nächsten. Hamilton musste am WM-Spitzenreiter vorbei, wenn er noch eine Chance haben wollte, zu gewinnen. In den Runden direkt hinter dem Red Bull investierte er so viel in seine Reifen, dass ihm das 25 Runden später auf den Kopf fiel. Beide Mercedes-Fahrer gaben zu: "Der Verschleiß der Vorderreifen war größer als erwartet." Bottas ergänzte: "Bei mir schimmerte am Ende links vorne die Karkasse durch."
Auf den Geraden zu langsam
Das vergebliche Anrennen gegen Verstappen zeigte Mercedes, dass es auch mit einem schnelleren Auto schwer sein würde, die Red Bull auf der Strecke zu überholen. Der Topspeed-Unterschied war eklatant, viel größer als am Samstag ohne Windschatten. Verstappen schaffte vor dem Bremspunkt zur Schikane 337,0 km/h, bei Perez waren es 336,4 km/h. Dagegen waren die Silberpfeile Schnecken. Auch sie hatten DRS und Windschatten an dieser Stelle, kamen aber nur auf 321,2 und 320,7 km/h. Das bedeutete die Plätze 19 und 20 in der Topspeed-Tabelle.
Damit war auch klar, dass ein zweiter Boxenstopp wenig Sinn machen würde. "Wir wären mit beiden Autos hinter Perez gefallen und hätten erst einmal an ihm vorbei müssen, bevor wir Verstappen hätten angreifen können", erklärte Wolff. Seine Strategen pflichteten bei: "Uns blieb nur die andere Option: Draußen bleiben und beten, dass die Reifen halten."
Sie sehen auch keinen Vergleich zu Barcelona, wo Mercedes die Verstappen-Taktik in einen Sieg ummünzte: "Da war es viel klarer. Wir hatten Verstappen deutlich vor Ende des Rennens eingeholt. Diesmal wurde es für Red Bull eng. Max war erst drei Runden vor Schluss an uns dran. Auch deshalb, weil der Medium-Reifen im Rennen nicht die ideale Lösung war. Er ist im ersten Stint durch eine Phase des Körnens gegangen. Wir gingen davon aus, dass das auch im letzten Stint so sein würde. Zwei Stopps waren ein Risikospiel, weil nicht genug Daten von den Reifen vorlagen."
Hoffen auf eine Fünfsekunden-Strafe
Aber hätte man es nicht wenigstens mit Bottas versuchen können, der ja in Runde 17 als einer der ersten stoppte und deshalb auch absehbar in Reifenschwierigkeiten geraten würde. "Ich hatte es dem Team vorgeschlagen, aber die wollten nicht", ärgerte sich der WM-Fünfte. "Ohne Perez hätten wir es gemacht. Aber er lag immer in unserem Boxenstopp.Fenster", beteuert Wolff.
Die Ingenieure trauten Bottas nicht zu, dass er sich den dritten Platz gegen Perez im direkten Duell zurückgeholt hätte. Nicht einmal die schnellste Runde war Bottas vergönnt. Bei Mercedes rechnete man fest mit einer Fünfsekunden-Strafe für Perez. Der hatte den Mercedes dem Augenschein nach neben der Strecke überholt. Perez widersprach. "Das Überholmanöver war längst abgeschlossen. Ich bin danach nur neben die Strecke, um Valtteri genug Platz zu lassen und keine Kollision zu riskieren." Nicht einmal diese Rechnung ging auf. Perez wäre auch mit Strafe vor Bottas gelandet, weil am Mercedes mit der Startnummer 77 in den letzten zwei Runden die Reifen extrem stark einbrachen. Der Abstand im Ziel betrug 5,8 Sekunden.
Jeder Fehler wird bestraft
Das Leben ist nicht mehr so einfach für Mercedes wie es von 2014 bis 2020 war. Jetzt wird jeder kleine Fehler, jede Panne oder jeder technische Nachteil gnadenlos bestraft. Wolff rechnete nach, dass man in den letzten drei Rennen allein 51 Punkte verschenkt habe. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass auch Verstappen in Baku 25 Punkte liegenließ. Hamilton resümierte dennoch: "Red Bull ist unter den Strich eine Spur schneller als wir. Ich muss angesichts der Probleme vom Freitag mit meinem zweiten Platz zufrieden sein."
Trotzdem ist die Schlacht noch nicht geschlagen. Die beiden Topautos im Feld sind sich ziemlich ebenbürtig. Was auffiel war, dass Red Bull plötzlich eine Stärke herauskehrte, die bislang ihre Schwäche war. Sie haben auf Mercedes auf den Geraden Zeit gutgemacht. Wolff führt es hauptsächlich auf den Motor zurück. Honda hat mit der zweiten Ausbaustufe eine größeren Schritt gemacht als man selbst, meint der Mercedes-Teamchef.
Das geht, obwohl Eingriffe zur Steigerung der Leitung verboten sind. Wenn es ein Hersteller schafft, da und dort mehr Standfestigkeit zu garantieren, kann die Antriebseinheit in einer höheren Power-Stufe betrieben werden. Die Ingenieure führen das Topspeed-Manko aber auch darauf zurück, dass Red Bull in Frankreich mit einem kleineren Flügel fahren konnte. Der ist aber nur auf den ersten Blick kleiner, wie das Mercedes-Camp erklärt: "Die stellen das Auto hinten immer stärker an. Damit ändern sie auch den Anstellwinkel des Flügel. Was nach so wenig Abtrieb aussieht, ist gar nicht so wenig."