Warum ist Mercedes auf Geraden überlegen?
Mercedes fuhr Red Bull zuletzt auf den Geraden davon. Der Zeitverlust beim Geradeausfahren schwächt den Rennstall aus Milton Keynes. Red Bull stellt deshalb eine Theorie nach der anderen in den Raum. Zuletzt, dass Mercedes die Hinterachse bei hohen Geschwindigkeiten absenke. Das bestreitet das Weltmeister-Team nicht einmal.
Diese Frage umtreibt Red Bull. Warum gewinnt Mercedes seit Silverstone wieder Zeit auf den Geraden gegenüber dem eigenen Auto? Teilweise sogar eklatant viel. Eine richtige Erklärung dafür hat der Rennstall aus Milton Keynes noch nicht gefunden. Deshalb stellt Red Bull verschiedene Theorien auf, stellt Anfragen bei der FIA, in der Hoffnung, mit einer ins Schwarze zu treffen.
Der Nachteil auf den Geraden ist insofern verwunderlich, dass es in dieser Saison eine Phase gab, in der Red Bull mit dem erstarkten Honda-Motor den Mercedes davonflog. Das Weltmeister-Team hatte da sofort die biegsamen Heckflügel im Verdacht. Doch obwohl die FIA mit neuen Belastungstests ab dem GP Frankreich nachschärfte, waren die Red Bull immer noch schneller. Bei den beiden folgenden Rennen in Österreich zerstörten die dunkelblauen Autos mit den japanischen Triebwerken ihre Gegner sogar. Da wurde Mercedes angst und bange.
Das Absenken des Hecks
In England schwang das Pendel aber wieder zugunsten der Silberpfeile. Red Bull stellte plötzlich fest, dass die Mercedes vor allem beim Herausbeschleunigen zugelegt hatten. Es wurde ein Trick mit einer cleveren Kühlung des Luftsammlers (Plenum) dahinter vermutet. Der Klärungsversuch bei der FIA lief ins Leere.
Auch in den Rennen nach der Sommerpause hat Mercedes beim Geradeausfahren weiter die Oberhand. In der Türkei etwa gewann Lewis Hamilton in der Qualifikation auf der langen Gerade zwischen den Kurven 10 und 12 etwa eineinhalb Zehntelsekunden auf Max Verstappen. Und so langsam scheint Red Bull an dieser Überlegenheit zu verzweifeln. Das Team sucht fieberhaft nach einer Erklärung, und versteift sich auf das Thema.
In Austin tauchte nun eine neue Theorie auf. Red Bulls Teamchef Christian Horner sprach davon, dass Mercedes auf den Geraden das Heck absenke, und damit den Luftwiderstand bei hohen Geschwindigkeiten reduziere. Das bestreiten die Weltmeister nicht einmal. Im Gegenteil. Aus dem Mercedes.Lager heißt es, man fahre seit fünf Jahren mit so einer Aufhängung. Nachsatz: Die anderen Teams aber auch – mit Ausnahme von Red Bull. Bei Mercedes wundert man sich vielmehr, warum der Rivale erst jetzt darauf komme.
Hinterrad-Aufhängung seit 2020 homologiert
Durch die vertikalen Kräfte, die bei hohen Geschwindigkeiten auf die Autos wirken, wird das Heck automatisch näher zur Straße gedrückt. Mit einer entsprechenden Geometrie der Aufhängung kann dieser Effekt verstärkt werden, und die Funktionsweise des Diffusors beeinträchtigt. Das bringt automatisch Topspeed. Offenbar gibt es Teams, die das sogar mehr ausreizen als Mercedes. Gegen diesen "Trick" hat die FIA nichts einzuwenden. Nur darf kein aktives System dahinter stecken. Das wäre illegal. An der Hinterradaufhängung selbst haben die Mercedes.Ingenieure seit einem Jahr nichts mehr gemacht. Die Homologation der Autos untersagte Veränderungen. Mercedes hat seine Entwicklungstoken in einen anderen Bereich gesteckt.
Da Red Bull selbst nichts an der Aufhängung verändern darf – Stichwort Homologation – sind den eigenen Ingenieuren die Hände gebunden. Es wäre auch nicht so einfach, es von heute auf morgen im Auto unterzubringen. Das erfordert ein paar Anpassungen. Zum Beispiel sollte sich das Heck in schnellen Kurven nicht zu stark absenken, weil dort nicht wenig Luftwiderstand, sondern möglichst maximaler Anpressdruck erforderlich ist. Auf einer Rennstrecke wie Silverstone etwa mit ultraschnellen Kurven braucht es viel Feinarbeit.
Bleibt trotzdem die Frage, warum Mercedes auf den Geraden wieder im Vorteil ist? Irgendetwas muss da passiert sein. Da hat Red Bull schon recht. Der Titelverteidiger bestreitet, etwas an der Kalibrierung des V6-Turbos geändert zu haben. Man fahre mit denselben Einstellungen wie zum Saisonstart. Stattdessen führt Mercedes seine Leistungssteigerung auf einen anderen Faktor zurück.
Mercedes senkt Luftwiderstand
Teamchef Toto Wolff sagt: "Wir haben den Luftwiderstand reduziert. Und wir verstehen unser Auto immer besser." Weniger Luftwiderstand sollte eigentlich aber auch dazu führen, dass die Mercedes in den Kurven verlieren. Das war in den letzten Rennen jedoch nicht der Fall. Egal ob langsame oder schnelle Ecken: Der W12 war stets bei der Musik.
Mit dem besseren Verständnis hat Mercedes laut eigener Aussage eine bessere Abstimmung für das Auto gefunden. Und so den Silberpfeil für jeden Kurventyp getrimmt. Man schafft es immer mehr, die Verluste durch die Einschnitte am Unterboden und den hinteren Bremsbelüftungen aufzufangen. Der W12 ist im Vergleich zu den ersten Saisonrennen viel stabiler auf der Hinterachse. Das lose Heck ist Geschichte. "Das Handling ist deutlich besser. Das Auto ist etwas stabiler, fahrbarer und hat eine bessere Balance", äußert sich Valtteri Bottas.
Ein guter Fortschritt war mit Sicherheit das Upgrade von Silverstone. Seither hat Mercedes keine neuen Teile mehr eingesetzt. Red Bull dagegen hat den RB16B noch mit dem einen oder anderen Update bestückt. Das war vielleicht ein bisschen zu viel. Seit ein paar Rennen fällt auf, dass sich Red Bull mit der Fahrzeugabstimmung schwerer tut. Ganz anders war das noch zum Saisonstart. Da hatte der Herausforderer ein Auto mit einem breiten Setup-Fenster, und Mercedes nur ein verschwindend kleines.
Die Sache mit dem Turbolader
Im Lager der Silberpfeile stellt man noch eine andere Vermutung auf. Vielleicht hat Red Bull.Honda auch einen kleinen Schritt zurück gemacht. Es wird gestreut, dass Honda seinen großen Turbo nicht mehr so hoch dreht, wie das noch vor der Sommerpause der Fall gewesen sei. Zur Erinnerung: Die Japaner haben unter der Saison die Spezifikation des Laders gewechselt. Doch wie man weniger Umdrehungen der Turbine festgestellt haben will, ohne bei den Japanern angestellt zu sein? Gute Frage. Red Bulls Sportchef Helmut Marko dementiert jedenfalls.
Sie merken: Dieses Thema ist nicht leicht zu fassen, weil aus verschiedenen Ecken verschiedene Erklärungsansätze und Theorien kommen. Viel Zeit bleibt Red Bull in dieser Saison nicht mehr. Vielleicht sollte sich das Verstappen-Team besser darauf konzentrieren, bei jedem Rennen das Maximum aus dem eigenen Paket zu holen – und weniger auf Mercedes zu achten. Aber: Es gehört zum Geschäft, gegen den Rivalen zu schießen, egal auf welcher Ebene. So stiftet man in irgendeiner Form Unruhe. Mercedes macht es genauso.