Fluch der Reifenmisere
Normalerweise ist der GP Aserbaidschan für die meisten Teams ein entspanntes Einstopp-Rennen. Doch in diesem Jahr gerieten die Strategen in Baku etwas mehr in Stress. Am Ende wurde das Rennen erst beim zweiten Re-Start entschieden. Hier kommt uner Taktik-Check.
Nicht die Boxenstopps entschieden das Rennen, sondern die Technik. Ein Reifenplatzer raubte Max Verstappen den sicheren Sieg. Ein Hydraulikschaden hätte Sergio Perez fast 25 Punkte gekostet. Und ein Flüchtigkeitsfehler von Lewis Hamilton aktivierte ein Programm, dass die Bremsbalance extrem nach vorne stellt. Dass es gleich 86 Prozent sind, zeigt wie groß die Not von Mercedes ist, die Vorderreifen auf Temperatur zu bringen.
Der "Brake Magic"-Button kommt bei Mercedes in allen Formationsrunden vor einem Start oder einem Re-Start hinter dem Safety-Car zum Einsatz. Er stellt unter anderem die Bremsbalance nach vorne, um über die Hitze der Bremsen die Vorderreifen aufzuheizen. Schlangenlinien allein helfen da nicht. Mit den Hinterreifen tun sich die Fahrer einfach. Da liegen 1000 PS an der Kette.
Die Bremskraftverstellung und andere Parameter für die Aufwärmrunden werden je nach Strecke und Bedingungen programmiert. Laut einer Display-Anzeige in Hamiltons Mercedes waren es diesmal 86 statt normal 51 Prozent. Der Mercedes rauchte wie eine alte Dampflok aus den Vorderradbremsen, als er an der Startlinie ankam. Hamilton erklärte lapidar: "Wir müssen wegen unserer Probleme mit den Reifentemperaturen alle möglichen Dinge unternehmen, um das Problem zu lösen."
Beim Hochschalten falschen Knopf gedrückt
Normalerweise schalten die Fahrer das Programm vor dem Start wieder ab um in den normalen Rennmodus zurückzukehren. Hamilton meinte zu Renningenieur Pete Bonnington: "Ich könnte schwören, dass ich das auch getan hatte."
Doch vor dem Start müssen noch so viele andere Schalter umgelegt werden, um das Auto und die Antriebseinheit für den Spurt in die erste Kurve zu konditionieren, dass Hamilton beim Einlegen des ersten Gangs versehentlich den "Brake Magic"-Button hinter dem Lenkrad wieder aktivierte. Ab da war sein Schicksal bestimmt. "Lewis hat weder zu spät noch zu hart gebremst. Die Bremsbalance passte einfach nicht für dieses Manöver. Deshalb haben die Räder blockiert."
Sergio Perez an Hamiltons Seite wusste natürlich nichts davon. Der Mexikaner hatte ganze andere Sorgen. Er bemerkte den Rauch links neben ihm und wurde fast neidisch. Seine Reifen waren im Vergleich dazu praktisch eiskalt. "Ich durfte in der Einführungsrunde nicht mal Schlangenlinien fahren." Grund war stark gesunkener Hydraulikdruck. Der Defekt hatte sich bereits das halbe Rennen lang angedeutet.
Um die Hydraulik zu entlasten, mussten alle Abnehmer auf Schmalspur laufen. Zum Beispiel die Servolenkung oder das Getriebe. Dass er überhaupt ankam, ist ein Wunder. Das Team startete den Motor so spät wie möglich und bat seinen Fahrer, sofort nach der Ziellinie anzuhalten. Zu geringer Hydraulikdruck kann Motor und Getriebe schädigen. Hamiltons Verbremser war für Perez in doppeltem Sinn von Vorteil. Der Gegner war aus dem Weg, und er verschaffte ihm eine kleine Lücke zu Verfolger Sebastian Vettel.
Red Bull wartet auf Hamiltons ersten Zug
Red Bull hatte an allen Tagen das schnellste Auto im Feld. Es zündete rasch die Reifen an, und es hielt sie gut in Schuss. Trotzdem stand ein Ferrari auf der Pole Position, und trotzdem hätte Red Bull das Rennen fast noch verloren. Die Überlegenheit führte dazu, dass Max Verstappen und Sergio Perez ihre Doppelführung nicht auf der Strecke regeln mussten. Es reichte darauf zu warten, welche Boxenstopp-Taktik der führende Hamilton anschlagen würde.
Der Weltmeister kam schon in Runde 11 an die Box. Nicht, weil Mercedes wegen des Sainz-Verbremsers in Kurve 8 auf eine VSC-Phase oder ein Safety-Car spekuliert hätte, sondern weil Hamiltons Soft-Reifen am Ende waren.
Nach drei Runden mit 1.47,084, 1.47,399 und 1.47,441 Minuten war am Kommandostand klar, dass die Reifen zu stark einbrechen. Hätte man nicht reagiert, hätte Red Bull Hamilton mit einem Undercut überholt. So konnte man wenigstens das Beste hoffen.
Doch das trat nicht ein. Erstens, weil Hamilton 4,6 Sekunden lang in der Boxengasse aufgehalten wurde. Das war nicht die Schuld der Boxencrew, sondern eine Folge des Verkehrs in der Gasse. Als Hamilton raus wollte, kam Pierre Gasly gerade rein.
Der Undercut hätte aber auch so nicht funktioniert. Kaum war der Mercedes aus dem Weg, drehte Perez zwei 1.46er Runden. "Das sagte uns, dass die Red Bull eigentlich sechs Zehntel pro Runde schneller hätten fahren können als wir." Perez reichte es trotz eines für Red Bull untypisch schlechten Stopps von 4,3 Sekunden bei zwei Runden Versatz immer noch vor Hamilton zu bleiben.
Der Titelverteidiger konnte später nur mit Perez Schritt halten, weil der mit zunehmenden Hydraulikproblemen langsamer fahren musste. Max Verstappen an der Spitze hatte die Situation jederzeit im Griff. "Ich habe mein Tempo an meinen Gegnern ausgerichtet." Ab Runde 25 gewann der Holländer im Schnitt drei Zehntel auf seine Verfolger. Nach dem Re-Start dauerte es nur fünf Runden, bis er eine Lücke von vier Sekunden zu seinem Teamkollegen herausgefahren hatte.
Stroll mit Monaco-Taktik auf Punktekurs
Die Serie der ersten Boxenstopps zog sich von Runde 7 bis Runde 18 hin. Fernando Alonso und Lando Norris waren die ersten, Sebastian Vettel der letzte. Es ist nicht so eindeutig zu bestimmen, warum die einen profitiert, die anderen verloren haben. Wenn man nur Alonso und Vettel anschaut, scheint es eindeutig. Alonso verlor fünf Plätze mit dem frühen Stopp, Vettel gewann zwei Positionen mit dem späten. Aber Norris machte auch zwei Plätze gut.
Prinzipiell war spät besser. So kamen die Red Bull-Piloten an Hamilton vorbei. So verbesserte sich Daniel Ricciardo um eine Position. Doch Kimi Räikkönen fiel mit einem späten Reifenwechsel zurück. Leclerc gab mit einem Boxenstopp im neunten Umlauf zwei Positionen ab.
Mittendrin schwamm Lance Stroll, der wie in Monaco wieder mit harten Reifen gestartet war und seinen Stopp so lange wie möglich herauszögern wollte. Der Kanadier machte dadurch neun Plätze gut, fuhr auf Rang 4 und lag in Runde 29 virtuell bereits vor Ricciardo. Bei schnelleren Rundenzeiten. Es sah also trotz Start aus der letzten Reihe wieder nach WM-Punkte aus.
Ein ganz anderes Bild hätte sich möglicherweise ergeben, wenn die Boxengasse nach dem Crash von Lance Stroll offengeblieben wäre. Dann hätten sich vermutlich die meisten einen frischen Satz abgeholt. Die Pokerspieler hätten gehofft, durch Draußenbleiben Positionen auf der Strecke gutzumachen und dann mit einem weiteren Safety-Car belohnt zu werden.
Zweiter Bottas-Stopp hätte sich nicht gelohnt
Nachdem das Feld hinter dem Safety-Car wieder zusammengerückt war, machte ein zweiter Reifenwechsel kaum noch Sinn. Aus Sicht von Alonso, Giovinazzi, Russell, Schumacher und Mazepin war es eher eine Verzweiflungstat. Bei Alpine, weil das Auto auf den harten Reifen absolut chancenlos war und Punkte nicht in Frage kamen. Für den Rest, weil sie am Ende des Feldes lagen und nichts zu verlieren hatten.
Mercedes überlegte sich für Valtteri Bottas lange, ob sich ein zusätzlicher Stopp lohnt. Angesichts der Probleme des Finnen mit seinem Auto sah man davon ab. "Valtteri wäre das gleiche passiert wie Alonso. Er hätte einen Platz an Ricciardo verloren, hätte zwei schnelle Runden auf den Soft-Reifen gehabt und wäre dann hinter dem McLaren festgesteckt, weil er nicht mal mit DRS überholen konnte." Bottas wählte den Heckflügel für mehr Abtrieb, der das Auto auf den Geraden im Vergleich zur Hamilton-Version um vier bis fünf km/h langsamer machte.
Mercedes hätte selbst die Finger von einem zweiten Stopp gelassen, hätte Hamilton eine Lücke von mehr als 20 Sekunden auf den Rest des Feldes öffnen können. Er hätte ihm zwar einen Reifenvorteil gegenüber den Red Bull gegeben, doch er wäre wegen der geringen Unterschiede zwischen frischen und gebrauchten Reifen nie in der Lage gewesen, wieder auf den Red Bull-Zug aufzuschließen. "Viel schlimmer, wir hätten zu lange gebraucht, um das Safety-Car-Fenster für eine weitere Neutralisation wieder zuzufahren. Das wären zu viele Risiken gewesen."
Vettels Reifenflüsterer-Taktik
Beleuchten wir noch zwei höchst unterschiedliche Rennen zweier Ex-Weltmeister und Oldies. Sebastian Vettel verdiente sich den zweiten Platz nicht nur, weil er schnell war, sondern auch weil er mit Köpfchen fuhr.
Zunächst ließ der Heppenheimer mit 1.48er Zeiten im Pulk nur rollen. Als Leclerc und Tsunoda in die Boxengasse abgebogen waren, steigerte sich Vettel von einer auf die nächste Runde auf 1.47er Zeiten. Kaum waren Sainz und Gasly aus dem Weg, ging richtig die Post ab. Seine Sequenz bis zum Boxenstopp: 1.47,0 – 1.47,1 – 1.46,8 – 1.46,6 – 1.46,6 – 1.46,5 Minuten.
Der späte Boxenstopp in Runde 18 brachte Vettel an Tsunoda und Sainz vorbei, und er gab ihm Reifen, die um sieben Runden frischer als die von Pierre Gasly und neun Runden jünger als die von Charles Leclerc waren. Das half ihm bei Re-Start nach dem Stroll-Crash.
Mehr Gummi auf der Lauffläche bedeutet mehr Hitze im Reifen, wenn man ihn entsprechend aufwärmt. Vettel zog bei Freigabe des Rennens an beiden vorbei. An Leclerc vor Kurve 2, an Gasly später auf der Zielgerade.
Dann kam Vettels stärkste Phase. Über neun Runden war er drei Mal schneller als Hamilton und verlor sonst nicht viel Zeit. Sein Rückstand auf den Mercedes wuchs in dieser Zeitspanne nur auf 4,3 Sekunden an. Zwei Rennen zuvor fuhr Aston Martin noch auf dem Niveau von Alfa Romeo.
Alonsos starker Schlussspurt
Fernando Alonso hätte eigentlich nie in die Punkteränge kommen dürfen. Der Alpine ruinierte schnell die Soft-Reifen und war auf den harten Gummis erschreckend langsam. Das war Williams-Niveau. Vor dem Unfall von Stroll hatte Alonso bereits 21,1 Sekunden auf den bis dahin zehntplatzierten Bottas verloren. Der Poker mit dem zweiten Stopp auf weiche Reifen ging auch nicht auf. Nach anfänglichem Strohfeuer näherten sich Alonsos Zeiten wieder der 1.47er Marke. Da fuhren andere längst 1.44er und 1.45er Zeiten.
Der Re-Start gab Alonso eine zweite Chance. Die Ausfälle hatten Alonso den zehnten Platz beschert. Verteidigen allein wäre schon schwer gewesen gegen Autos, die auf der Gerade um zehn km/h schneller waren. Alonso machte aber vier Plätze gut. Weil er sich in den Kurve 1 und 2 innen positionierte und genüsslich mit ansah, wie Sainz, Ricciardo und Tsunoda auf der Außenspur in Platzprobleme gerieten. Sainz und Ricciardo überholte er fast kampflos. Tsunoda wehrte sich drei Kurven lang. Dann war auch der Japaner fällig. Alonso zwang ihn ständig auf die schlechtere Spur. Das nennt man Erfahrung.