Bigburger

Der Chevrolet Tahoe ist so amerikanisch wie Rodeo und doppelstöckige Cheeseburger. Sein verschwenderisches Konzept werden nur erklärte Freunde des American way schätzen können.
Gewisse Ähnlichkeiten mit den vierbeinigen Transportmitteln von einst sind nicht von der Hand zu weisen. In den Tahoe steigt man nicht ein, man erklettert ihn. Damit das nicht so viel Mühe macht wie beim Pferd, bilden Trittleisten und Türschweller eine komfortable Treppe. Sie erweisen sich auch bei der Wagenpflege als nützlich. Denn nur lange Menschen kommen mit dem Schwamm bis in die Mitte der Windschutzscheibe. Der Chevy, in den USA keine auffällige Erscheinung, wirkt in der Alten Welt wie ein Riese im Land der Zwerge. Dabei sind es weder die knapp über fünf Meter Länge noch die gut zwei Meter Breite, die ihn so extraordinär erscheinen lassen. Die Höhe erst macht aus ihm einen Fels, der aus der Brandung des Verkehrs herausragt: 1,84 Meter, die Dachreling nicht mitgerechnet. Für die Insassen bedeutet dies, dass selbst die Passagiere eines Mercedes ML eine Etage tiefer wohnen. Die Gesichter professioneller Trucker sind in greifbare Nähe gerückt. Das hat wie alles Vor- und Nachteile. Nach vorn und nach den Seiten genießt der Tahoe-Fahrer eine vorzügliche Übersicht, die für ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit sorgen kann. Nur beim Blick nach hinten ist gutes Schätzungsvermögen gefragt. Denn eine durchschnittliche Limousine verschwindet ebenso unter dem hohen Heck wie der Jägerzaun des Nachbarn. Das mächtige Gehäuse bietet naturgemäß jede Menge Platz. Vorn sitzt man auf sehr bequemen Sesseln, die elektrisch in alle Richtungen verstellt werden können und den Komfort noch durch ausklappbare Armstützen und integrierte Gurte erhöhen. Eine ausladende Mittelkonsole mit Cupholdern und einem tiefgründigen Ablagefach hält die Insassen auf luftige Distanz. Auch hinten herrscht behagliche Bewegungsfreiheit, wobei allerdings auch für den Tahoe gilt, dass nur zwei Personen wirklich kommod sitzen, während die dritte in der Mitte ihre Komfortansprüche zurückstecken muss. Allen kommt die ausgezeichnete Klimaanlage zugute, die hinten durch Öffnungen im Dachhimmel pustet und eine nahezu zugfreie Belüftung bewirkt. Für die Großfamilie gibt es auf Wunsch eine dritte Sitzbank, die allerdings auf Kosten des gewaltigen Gepäckraums geht.
Allein schon die Raumfülle erklärt, warum die Amerikaner ihre Fullsize-SUV so schätzen. Das BIB-Syndrom (Bigger is better) gilt immer noch als nationale Eigenheit. Das verschwenderische Platzangebot macht Autos wie den Chevrolet Tahoe zu legitimen Nachfolgern der großen Landyachten, die längst den ökonomischen Zwängen zum Opfer gefallen sind. Der Tahoe ist denn auch eine vorzügliche Ausrüstung für den langen Trip, wenn der in amerikanischer Lässigkeit unternommen wird. Er wirkt so beruhigend wie eine Dosis Valium. Der Gedanke, die wegen der Reifen auf bescheidene 170 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit zu nutzen, kommt gar nicht erst auf. 150 km/h entpuppen sich als angenehmes Autobahntempo. Dabei flüstert der große V8 unter der vorderen Haube fast unhörbar vor sich hin, und der Fahrer hat Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, dass die Amerikaner offensichtlich ganz andere Vorstellungen von Qualität haben als die Europäer. Große Karosseriefugen? Was soll’s, solange das Ganze zusammenhält. Billigstes Hartplastik am Armaturenbrett? Wenn nichts kaputtgeht, ist John Anybody damit zufrieden. Und dass mit Zuverlässigkeit gerechnet werden kann – dafür spricht die US-Statistik. Nach zehn Jahren sind noch rund 90 Prozent aller Chevy-Trucks on the road. Als anspruchslos und robust gilt auch der Smallblock-Achtzylinder mit seinem altmodischen Stoßstangen-Ventiltrieb, von dem schon 70 Millionen Stück gebaut wurden. Selbst bei totalem Kühlwasserverlust darf der Chevy-Pilot noch bis zur nächsten Werkstatt fahren. Im Lauf der Jahre immer wieder modifiziert, zeigt die im Grunde ihres Kurbelgehäuses über 40 Jahre alte V8-Konstruktion zeitgemäße Eigenschaften. Das füllige Drehmoment lässt den Tahoe kraftvoll antreten, und das niedrige Drehzahlniveau sorgt für eine harmonische Ehe mit der Vierstufen-Automatik, die schnell reagiert und ruckfrei schaltet. Ihr Wählhebel befindet sich an der Lenksäule, woran man sich schnell gewöhnt, weil manuelle Eingriffe nur an starken Gefällen notwendig werden. 2,5 Tonnen Lebendgewicht, 5,3 Liter Hubraum und 273 PS haben klarerweise ihren Preis. Aber dank der ruhigen Fahrweise, zu welcher der Chevy erzieht, steigt der Verbrauch selten ins Astronomische. Der Autor, nicht als Besitzer eines leichten Gasfußes bekannt, realisierte auf einem langen Autobahn-Trip 15,1 Liter/100 Kilometer. Weit darunter freilich wird man kaum kommen. Wenn der Tahoe gefordert wird, können es spürbar über 20 Liter sein.
Beispielsweise wenn ein Hänger (bis 3,5 Tonnen) an den Haken genommen wird. Oder im Gelände. Dort beweist der allradgetriebene Hüne sehr gute Eigenschaften. Mit der elektrisch zuschaltbaren Offroad-Übersetzung, in der eine starre Verbindung zwischen Vorder- und Hinterachse hergestellt wird, schreckt er vor Schwierigkeitsgraden der höheren Ordnung nicht zurück. Geländeeinsatz beweist eine gute Verwindungssteifigkeit der auf einem separaten Rahmen ruhenden Karosserie sowie ein ordentliches Schluckvermögen der langhubigen Federung. Und weil die starre, schraubengefederte Hinterachse an fünf Lenkern geführt wird, hält sich die Trampelneigung des schweren Bauteils in Grenzen. Auf der Straße ist der Federung.komfort nicht ganz so überzeugend. Grobe Unebenheiten steckt der Chevy gelassen weg. Aber kurze Querwellen, wie sie auf Autobahnen häufig vorkommen, haben ein hochfrequentes Stuckern zur Folge, das den Reisekomfort erheblich beeinträchtigt. Die nachgiebige Federung lässt den Tahoe in schnellen Wechselkurven mächtig schwanken, aber das Fahrverhalten bleibt gutmütig untersteuernd. Da die serienmäßigen Ballonreifen keine Weltmeister der Seitenführung sind, kündigen sie den Grenzbereich frühzeitig durch gequältes Aufschreien an. Die Reifen sind teilweise auch verantwortlich für die schlechten Bremsleistungen. Aber sie tragen nicht allein die Schuld: Für das Gewicht des Tahoe sind die Bremsen unterdimensioniert. Unzureichende Verzögerung und starkes Fading sprechen eine deutliche Sprache. Auch hier werden Parallelen zu den Straßenkreuzern antiker Prägung sichtbar. Den Reiz des großen Cruisers konnten sie aber nicht einmal bei Profi-Rennfahrern schmälern. Als der fünffache Weltmeister Juan Manuel Fangio gefragt wurde, welches Auto er für einen Trip durch die USA bevorzugen würde, sagte er kurz: „Einen Cadillac mit Klimaanlage.“ Heute hätte er wahrscheinlich einen Tahoe genommen.