Neues Allradsystem ohne Differenzialsperre

Nachdem Mercedes dem Sprinter mit dem OM 654 einen neuen Motor spendiert hat, gibt es für den Transporter nun ein automatisches Allradsystem. Es wird anwendungsfreundlicher und ist an die 9-Gang-Automatik gekoppelt. Schaltgetriebe und zuschaltbare Differentialsperren entfallen.
Wie bisher ist der Mercedes Sprinter mit Vorder- und Hinterradantrieb bestellbar. Neu kommt nun der Allradantrieb dazu.
Fahrbericht zum Sprinter 4x4 (2021)
Als wir nach der steilen Auffahrt auf der Kuppe stehen, sehe ich nichts mehr. Der Bug des Sprinter verdeckt mir die Sicht nach vorn, nach unten, in den Abgrund – es fehlt die Orientierung. Mein Nebensitzer Sascha Belcam, Entwickler bei Mercedes-Benz Vans, macht das Display an und ein Bild erscheint, das zeigt, was vor uns liegt. Die Frontkamera hilft enorm.
Mercedes will es dem Allrad-Sprinter-Fahrer so einfach wie möglich machen. Dabei hilft der digitale Rundumblick, aber vor allem auch das neue 4 x 4-System, das nun das Regiment über alles Grobe übernimmt. Eingefleischte Allradfans werden vielleicht fluchen, pragmatische Reisemobilisten sich dagegen freuen. Es gibt keine Differenzialsperre oder Untersetzung mehr und die 9-Gang-Automatik ist zwangsgekoppelt – wie auch die 190- PS-Variante des neuen Motors. Der einzige einsame Knopf, ganz klein am Armaturenbrett unterm Lenkrad, schaltet eine Bergabfahrhilfe zu. Damit hält der Sprinter von allein die vorgegebene Geschwindigkeit.
Diesen Knopf gab es bislang schon. Was außerdem bleibt, ist die Höherlegung und damit mehr Bodenfreiheit. Insofern hebt sich das Offroadsystem des Sprinter auch immernoch – wortsinnig – ab von der seichteren 4 x 4-Konkurrenz aus anderen Lagern.
Und nun rückwärts in den Steilhang. Stopp. Jetzt anfahren, eine schwierige Übung auf dem losen Untergrund. Für die Traktion – oder für den Fahrer? Beim Lösen der Bremse hört man, wie die Beläge den Kastenwagen aus ihren Fängen lassen. Es quietscht ein wenig.
Das Gaspedal ganz sanft antippen und die Regeltechnik übernimmt. Das Drehmoment fließt zwischen den Achsen hin und her, an die Räder, und der Schlupf bestimmt die Verteilung – und es geht langsam rückwärts bergan. Hier und heute dreht nichts durch, der Sprinter fährt locker wieder hinauf. Bislang war die Verteilung des Drehmoments zwischen Vorder- und Hinterachse mit 35 zu 65 Prozent fix vorgegeben und daher in solchen Rückwärts-Fahrsituationen manchmal vorn zu gering. Jetzt steuert die Lamellenkupplung die Kraftverteilung variabel.
Meine Gedanken schweifen nach Ksar Ghilane, einem der Sehnsuchtsorte von Tunesienfahrern in der Sahara. Aber wir sind ja auf einer Enduro-Strecke des ADAC in der Nähe von Frankfurt. Und unter dem Sitz von Sascha Belcam kommen dicke Kabelstränge raus. Noch ist der Allrad nicht final abgestimmt. Regeltechnik bestimmt heute alles und eben auch die Drehzahl des Rads im Sand.
Wir reden über Abtastraten, die so fein sind, dass Systeme stets wissen, was Sache ist in puncto Schlupf und Untergrund, und optimale Regelung, die dafür sorgt, dass Räder kaum mehr durchdrehen beim Anfahren – und auch, dass der Fahrer von seinem Offroad-Erlebnis kaum mehr Ruppigkeit spürt, sondern wie durch eine abgesicherte Erlebniswelt im Freizeitpark geschippert wird.
Bei einer zweiten schnellen Runde zeigt sich aber auch die Mechanik sanft und gnädig. Die Waschbrettstrecke auf der kleinen Motorradpiste schluckt das eher komfortabel abgestimmte Fahrwerk genauso wie gröbere Querrillen. Schließlich soll sich ein wachsender Anteil der Kunden des nun sogar günstigeren 4 x 4-Antriebs unter den Reisemobilisten finden und nicht nur unter Baustellenfahrern oder Almhüttenbesitzern. Und zwar wirklich Reisemobilisten, nicht Expeditionisten. Die meisten Campingbus-Kunden von La Strada, Hymer, HRZ oder CS sollten mit dieser Variante glücklich werden. Die von großen aufgebauten Mobilen eh. Der abenteuerlustige, aber genauso komfortbewusste Reisemobilist sitzt hinter der elektrischen Lenkung, die wirklich weich und sanft unterstützt. Die direkt ist, im besten Sinne unauffällig.
Das Automatikgetriebe ist nun Pflicht – was zwar die Sache wieder verteuert, aber letztlich konsequent ist. Neun Gänge samt Wandler sollten den Verzicht auf die Untersetzung verschmerzen lassen. Wie schon in promobil 4/2021 ausführlich getestet, wird diese Sprintergeneration vom Motor namens OM654 angetrieben, einem Aggregat, das auch die V-Klasse verpasst bekam.
Rund 5500 Euro wird der neue Allrad kosten – etwa die Hälfte der Vorgängerversion. Spannend bleibt die Frage nach dem Gewicht. 150 Kilo mehr als der Heckantrieb, heißt es. Wie viel es letztlich mit neuem Motor und Automatikgetriebe sind, ist noch unbekannt.
So funktioniert der neue 4x4-Antrieb
Der automatische Allradantrieb von Mercedes denkt mit: Er kann die Antriebsmomente variabel zwischen Vorder- und Hinterachse verteilen – ohne dass der Fahrer oder die Fahrerin etwas dafür tun muss. Das Vorgängersystem war zuschaltbar und leitete im 4x4-Modus 35 Prozent des Drehmoments an die Vorder- und 65 Prozent an die Hinterachse. Das neue System arbeitet situationsabhängig.
Das ganze nennt sich Torque-on-Demand. Für die Momentenverteilung sorgt eine elektronisch geregelte Lamellenkupplung, die in das Verteilergetriebe integriert ist.
Ist im normalen Fahrbetrieb die Lamellenkupplung offen, treibt ausschließlich die Hinterachse das Fahrzeug an. Bei geschlossener Kupplung kommt die Vorderachse ins Spiel. Durch diese Verteilung sorgt das System je nach Situation für eine hohe Traktion.
Die Elektronik checkt im Fahrbetrieb, wie viel Antriebsmoment an Vorder- und Hinterachse optimalerweise verteilt werden muss. Erfordert es die Fahrsituation, beispielsweise wenn die Hinterräder bei schneller Kurvenfahrt drohen auszubrechen, schickt sie mehr Kraft an die Vorderachse. Sobald es nicht mehr benötigt wird, beispielsweise wenn so stark gebremst wird, dass das ABS (Antiblockiersystem) greift, schaltet sich die der vordere Antriebsstrang ab und reduziert das Moment hier auf Null.
Der größte Vorteil einer Lamellenkupplung: Sie lässt sich unter Last, also bei voller Fahrt schalten. Egal ob in Kurven oder auf unebenem Gelände, das Torque-on-Demand-System verteilt das Antriebsmoment immer so, dass sich das Fahrzeug automatisch stabilisiert. Ein Unter- oder Übersteuern der Räder wird so mechanisch verringert. Die automatische Verteilung des Antriebsmoments soll so zu mehr Fahrkomfort führen.
Sollten diese Steuerungmaßnahmen nicht ausreichen, kommen elektronische Regler ins Spiel. Das ESP und das 4ETS sind bewährte Systeme, die mit automatischen kurzen Bremseingriffen an den einzelnen Rädern das Fahrzeug stabilisieren. Sie wurden eigens an das 4×4-System angepasst.
Ein weiterer Vorteil, den Mercedes gegenüber dem vorherigen Allradantrieb nennt: Das neue System soll deutlich leiser arbeiten.
Viele Varianten des Allrad-Sprinters
Der neue Sprinter 4x4 ist nur in Kombination mit dem 140 kW bzw.190 PS starken OM 654 Motor und 9G-TRONIC Automatikgetriebe erhältlich. Den neuen Vierzyliner-Motor und die Automatik haben wir hier bereits getestet. Das höchste zulässige Gesamtgewicht für den Allrad-Transporter liegt bei 5,5 Tonnen.
Mehr Auswahl gibt es bei den Fahrzeughöhen und -Längen. Da ist eine Vielzahl an Kombinationen möglich. Auch bei den Karosserie-Formen zeigt sich der Allrad-Sprinter vielfältig: Es gibt ihn als Personentransport-Variante Tourer, als Kastenwagen und als Fahrgestell. Der Kastenwagen eignet sich zum Campingbus-Ausbau, das Fahrgestell als Basis für ein aufgebautes Reisemobil.
Mercedes Sprinter 4x4 (2021)
Motor: OM 654, Vierzylinder, 1950 cm3, 140 kW/190 PS bei 3800 U/min, 450 NmGetriebe: Neungang-WandlerautomatikgetriebeAllrad: Permanenter Allradantrieb mit elektronisch gesteuerter Haldex-Kupplung, vollvariable Drehmomentverteilung zwischen den Achsen (beim Vorgänger starr 35 % vorn/65 % hinten), 4ETS-Traktionskontrolle, Bergabfahrhilfe, keine UntersetzungLenkung: Elektrische Servolenkung, geschwindigkeitsabhängigZul. Gesamtgewicht: Bis zu 5,5 Tonnen
Überhangswinkel
- Vorn: 27 Grad
- Hinten: 13–23 Grad
- Rampenwinkel: 18–22 Grad