"Doctor Sleeps Erwachen": Der Film kommt erst spät in Fahrt

"Doctor Sleeps Erwachen" erzählt die Geschichte von "Shining" weiter. Lange Zeit döst der Streifen aber selbst nur so vor sich hin.
Eine zerstörte Tür, mit einer Axt zerschlagen. Jack Nicholson schaut manisch durch den Spalt, halb grinst er, halb fletscht er die Zähne. Das Standbild dieser ikonischen Szene grüßt in der ewigen WG-Poster-Rangliste wohl von Platz zwei hinter "Pulp Fiction". Mit "Doctor Sleeps Erwachen" kommt am 21. November nun die Fortsetzung von "Shining" (1980) ins Kino, erneut nach Vorlage von Stephen King. Dass auch sie in 40 Jahren als Kultklassiker des Horrorgenres gelten wird, darf aber angezweifelt werden.
Die Qual der besonderen Gabe
Viele Jahre sind seit den Geschehnissen im Overlook Hotel vergangen. Dan Torrance (Ewan McGregor) ist inzwischen zu einem Mann mit vielen Fähigkeiten herangewachsen. Er kann mit übersinnlichen Wesen kommunizieren, ist mit übermenschlicher Intuition gesegnet und spendet Todgeweihten kurz vor deren Ableben Trost. Ihm selbst bringt diese vielseitige Gabe - genannt Shining - jedoch wenig Freude. Jede Nacht wird ausgerechnet der Mann mit dem Spitznamen "Doctor Sleep" von neuen, grausamen Albträumen heimgesucht. Er säuft, nimmt Drogen und geht keiner Konfrontation aus dem Weg. Das alles soll sich schließlich ändern, als ihm das junge Mädchen Abra Stone (Kyliegh Curran) begegnet, deren Shining sogar noch um ein Vielfaches größer ist als das seine.
Doch genau das könnte Abra zum Verhängnis werden. Eine Sekte, die sich "Der Wahre Knoten" nennt, ernährt sich wie Vampire von Kindern mit Shining. Je langsamer und qualvoller die Mitglieder der Sekte ihre Opfer töten, desto mehr ihrer übernatürlichen Essenz können sie aussaugen und so viele Jahrhunderte alt werden. Als Anführerin Rose The Hat (Rebecca Ferguson) die Präsenz von Abra spürt, wird das Mädchen zur obersten Priorität der mörderischen Gruppe auserkoren. Doch die hat die Rechnung ohne Dan Torrance gemacht -und ohne das Overlook Hotel.
Übergroße Fußstapfen im Schnee
Eigentlich ist es eine Untertreibung, die Fußstapfen nur als groß zu bezeichnen, in die "Doctor Sleep" zu treten versucht. Immerhin stampften sie einst Stanley Kubrick und Jack Nicholson gemeinsam in den Schnee um das Overlook Hotel und in die Filmgeschichte. Auch wenn Buchautor Stephen King nie die "Shining"-Version mochte, die Kubrick aus dessen Vorlage machte - so ist sie dennoch der qualitative Kanon, an dem es sich nun zu messen gilt.
Ein Lob ans Filmstudio: Der Streifen geht dieses Husarenstück in Hinblick auf den Filmtitel erfrischend unkommerziell an. Nicht "Shining 2", "Shining Reloaded" oder "Shining: Die Rache des Dan Torrance" prangt vom Plakat, sondern das für Nicht-Kenner des King-Oeuvres eher kryptische "Doctor Sleeps Erwachen". Das Problem an der Geschichte: Gleich mit der ersten Szene des Films zehrt er ähnlich vehement vom Kubrick-Vorbild, wie es die "Shining-Vampire" von Kindern tun. Ein Gang, ein unvergessener Musterteppich, ein Kind auf einem Tretroller, eine Kurve, hinter der das Grauen lauert... Die optische Reminiszenz an "Shining", mit der einen der Film sogleich begrüßt, weckt ein enormes Nostalgiegefühl - und enorme Erwartungen.
Optisch "Shining", inhaltlich "Der dunkle Turm"
Einzig erfüllen kann er die geschürten Erwartungen für lange Zeit nicht. Stattdessen kommt einem die anfängliche Handlung erschreckend bekannt aus dem King'schen Negativbeispiel vor. Denn die missratene Verfilmung seines Epos "Der dunkle Turm" erzählt quasi dieselbe Geschichte: Eine mächtige, bösartige Figur verfolgt ein Kind mit übernatürlichen Kräften, um diese für seine Zwecke zu missbrauchen. In "Der dunkle Turm" war es noch Matthew McConaughey, der den Part des Schurkens "overactet" hat - nun ist es Rebecca Ferguson.
Und noch ein Punkt, der "Doctor Sleep" nicht zum Vorteil gereicht: Das Shining ist, wenn man so will, Kings Version der Macht aus "Star Wars". Und wir alle erinnern uns mit einem Schaudern daran zurück, wie George Lucas die sagenumwobene Macht mit einem Schlag durch seine Midi-Chlorianer entmystifizierte. Wenn nun aber die Sektenmitglieder wie Junkies kleinen Kindern das Shining aus dem Leib saugen, geschieht etwas Vergleichbares. Dann wirkt es so, als wäre die geheimnisvolle Kraft einfach nur eine physikalische Einheit, die es zu messen gilt. Ein Bub mit 6,7 Shining auf der Shining-Skala? Lecker!
Auch als kurzweilig kann "Doctor Sleep" nicht bezeichnet werden, mit beinahe zweieinhalb Stunden ist er sogar noch länger als der Director's Cut von "Shining". Und so dauert es über eine Stunde, ehe der Film Fahrt aufnimmt. Ohne zu viel verraten zu wollen - die letzten 30 Minuten sorgen dank einer besonderen Barszene sogar für schaurig schöne Gänsehaut. Auch sie können in der Gänze aber nicht über die Erkenntnis hinwegtäuschen: "Doctor Sleep" erwacht zu spät.
Fazit:
"Doctor Sleeps Erwachen" ist sehr nah an Stephen Kings Vorlage gehalten und das werden Fans von ihr sehr zu schätzen wissen. Manchmal bedarf es aber den Mut, sich von der Buchvorlage abzuwenden, um großes Kino zu erreichen. Christopher Nolan schaffte das etwa mit "The Prestige". Stanley Kubrick, da mag der Autor aus Maine zwar widersprechen, mit "Shining". King ist halt nicht immer König.