Urteil ist Auslegungssache
Der Protest von Renault gegen Racing Point könnte zum Streit der Ansichten ausarten. Weil die Bremsbelüftungen 2019 noch nicht zu den Teilen zählten, die man zwingend selbst konstruieren musste. Wir haben mit dem FIA-Technikchef gesprochen.
Die Grube hat sich die FIA selbst gegraben. Natürlich ohne zu wissen, dass sie einmal in diese hineinfallen könnte. Im letzten Jahr zählten die Bremsbelüftungen noch nicht zu jenen Komponenten, die ein Team zwingend selbst ohne Hilfe eines Mitbewerbers konstruieren muss. Seit 2020 sind sie Teil der sogenannten "Listed Parts".
Die Status-Änderung kann bei dem Urteil der Sportkommissare eine große Rolle spielen. Ist ein Vorgang, der bis zum 31. Dezember 2019 noch erlaubt war, aus heutiger Sicht illegal? "Das ist mehr eine philosophische als eine technische Frage", räumt FIA-Technikchef Nikolas Tombazis ein. Auch weil das Urteil am Ende darüber entscheiden wird, wie viel Kundenauto in Zukunft möglich ist.
Die Bremsbelüftungen wurden auf Bitten vieler Teams aufgewertet. Die Mehrheit wollte sie in den "Listed Parts" sehen, weil ihr Einfluss auf die Aerodynamik mit den Jahren immer weiter gestiegen ist. Nicht nur wegen der vielen kleinen Flügel und Deflektoren, die an die Karbonschächte geklebt sind. "Der entscheidende Part für die Aerodynamik spielt sich dort ab, wo die Lufthutze in den Radträger übergeht. Das ist ein besonders sensibler Bereich", erklärt Tombazis.
Er selbst steht unabhängig vom Fall Racing Point vor der Frage: "Nehmen wir an, ein Team hätte sich 2019 legal die Bremshutzen eines anderen Autos oder Informationen dazu als Vorlage besorgt. Was bedeutet das? Hätten sie diese Information in die Mülltonne werfen sollen? Oder durften sie dieses Wissen in das Design einfließen lassen? Das wird ein komplizierter Fall für die Kommissare."
Laut Tombazis ist damit zu rechnen, dass Renault aus formalen Gründen ab jetzt bei jedem Rennen gegen Racing Point in gleicher Angelegenheit protestieren wird, und zwar so lange, bis ein endgültiges Urteil gefällt wird.
Das kann dauern. Die FIA hat zwei der insgesamt acht konfiszierten Bremsschächte des Racing Point für Analysen behalten, je eine vorne und hinten. Gleichzeitig wurde Mercedes gebeten die Vergleichsteile von seinem W10 einzuschicken. Dazu forderte der Verband von den beiden Designabteilungen noch CAD Computer-Daten an, um sie auf Übereinstimmung hin zu untersuchen.
Endgültiges Urteil spätestens nach GP Spanien
Racing Point hat jetzt drei Wochen Zeit, der FIA und offenzulegen, auf welcher Basis die Bremsbelüftungen konstruiert wurden und um etwaige Ähnlichkeiten zu erklären. Tombazis rechnet mit den Dokumenten allerdings bereits in der Woche vor dem ersten Rennen in Silverstone. Dann könnten die Sportkommissare anhand der Unterlagen und der Einschätzung der FIA-Techniker auch relativ zeitnah zu einem Urteil kommen.
Da es in diesem Fall um eine Grundsatzfrage geht, ist mit einem Antrag auf Berufung zu rechnen. Dafür hat die unterlegene Partei vier Tage Zeit. In diesem Fall ist mit einem Urteil des Berufungsgerichts frühestens in der Woche nach dem GP Spanien zu rechnen.
Die Komplexität der Angelegenheit lässt schnelle Entscheidungen nicht zu. Zunächst einmal muss abgeklärt werden, wie ähnlich Original und Kopie sein müssen, um den Verdacht fremder Hilfe zu rechtfertigen.
Tombazis hebt zwei Wasserflaschen hoch und meint: "Wenn diese zwei scheinbaren gleichen Flaschen sich nur in einem Millimeter unterscheiden, sind sie dann noch gleich? Und wie signifikant ist der Unterschied auf das Ergebnis. Das ist eine von vielen grundsätzlichen Fragen, mit denen wir uns jetzt herumschlagen müssen."
Sollte Renault mehrfach protestieren, wären jedes Mal andere Sportkommissare mit unterschiedlichen Meinungen involviert. Um ein heilloses Durcheinander zu verhindern, will die FIA nur die vier Sportkommissare mit dem Fall betrauen, an die der Protest zuerst herangetragen wurde.
Tombazis, der auf seiner langen Wanderschaft in der Formel 1 auch bei Ferrari und McLaren gearbeitet hat, weiß, wovon er spricht. "Zuerst einmal sollten wir uns von dem Gedanken verabschieden, dass ein Design mit einem weißen Blatt Papier beginnt. Keiner fängt bei Null an, sondern greift auf eigene Erfahrungen oder Ideen anderer zurück. Die Ingenieure haben Tausende von Fotos von jedem Detail des Autos in ihrem Archiv."
"Kopieren wurde immer akzeptiert. Alle tun es, auch die Top-Teams. Ob wir es nun wollen oder nicht. Das führt uns zu legitimen Fragen wie viel Übernahme und Kundenauto wir haben wollen oder nicht. Und genau darum geht es Renault nach meiner Einschätzung. Sie sind generell nicht glücklich damit, dass man anhand von Fotos ein fremdes Auto nachbauen darf, speziell in dem Ausmaß, in dem das Racing Point getan hat."
Mercedes wäre nur bei zwei Szenarien schuldig
Racing Point-Technikchef Andy Green hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass der 2019er Silberpfeil seine Blaupause war. Er hat aber auch immer wieder versichert, dass die Arbeitsgrundlage für seine Ingenieure ausschließlich Fotos des Mercedes W10 waren.
Da die Konkurrenz bereits bei den Wintertestfahrten Giftpfeile Richtung Racing Point abschoss, entschloss sich die FIA in vorauseilendem Gehorsam zu einer Untersuchung des RP20 und seiner Konstruktionsgeschichte.
"Wir sind vor dem Grand Prix von Australien in der Fabrik aufgetaucht und haben uns im Detail erklären lassen, wie die Ähnlichkeiten der in Frage stehenden Komponenten zustande gekommen sind. Leider haben wir ausgerechnet auf eine Untersuchung der Bremsschächte verzichtet, aus der Problematik heraus, dass man sich dieses Teil 2019 noch hätte auf legalem Weg besorgen können. Bei allen anderen Komponenten konnte uns Racing Point lückenlos nachweisen, dass sie diese auf der Basis von Fotos konstruiert haben", verrät Tombazis.
Renault hat sich mit Bedacht die komplizierteste Komponente auf der schwarzen Liste ausgesucht. Ein Lüftungsschacht besteht heute aus bis zu 50 Einzelteilen. Und da ist die Chance am größten, Racing Point einen illegalen Nachbau nachzuweisen. Nach Einschätzung von Tombazis liegt der Schlüssel weder im sichtbaren Bereich des Schachts noch in seiner Luftführung im Inneren. Hier könne man aus einer Übereinstimmung nicht zwangsläufig ableiten, dass dies mit Hilfe eines anderen Teams geschehen sein muss.
"Kompliziert wird es am Ansatz zum Radträger. Da geht es um Kleinigkeiten, davon gibt es kaum Fotos. Jede Übereinstimmung müsste erklärt werden." Die Aufgabe der FIA-Inspektoren ist somit zweigeteilt. Zuerst werden sie die Vergleichsteile auf Ähnlichkeiten untersuchen. Und dann müssen sie ermitteln, welcher Design-Prozess dazu geführt hat.
Mercedes würde sich nur in zwei Fällen schuldig machen. Entweder, wenn sie Racing Point bei einem der Komponenten unter die Arme gegriffen haben, die bereits 2019 Teil der "Listed Parts" waren. "Dafür gibt es keinerlei Indikation", wirft Tombazis ein.
Oder wenn Mercedes im Jahr 2020 nach der neuen Klassifizierung Informationen zu den 2019er Bremshutzen weitergeleitet hätte. Wobei es hier darauf ankommt, was Racing Point bei Bestätigung dieses Verdachts daraus gemacht hätte. Auch dieses Szenario ist nur schwer vorstellbar. Das Weltmeister-Team ist viel zu clever als sich auf solches Glatteis zu begeben.
Keiner der Experten würde im Moment Wetten darauf abschließen, welches Urteil die Sportkommissare fällen. Man muss zwar davon ausgehen, dass Racing Point wie bei allen anderen Teilen auch diesmal den Nachweis führen kann, alles selbst konstruiert zu haben.
Doch in diesem speziellen Punkt wäre entscheidend, auf welche Weise der Informationsaustausch, den es 2019 möglicherweise gab, genutzt wurde. Es bleibt eine Ermessensfrage, ob die Ingenieure dieses Wissen hätten vergessen müssen, wenn sie es je gehabt haben. Racing Point wäre bei einer Verurteilung gezwungen, neue Bremsbelüftungen einzusetzen. Die Ergebnisse bis dahin würden aberkannt.