Interview mit James Allison
Mercedes-Technikchef James Allison erzählt uns im Interview, warum Mercedes bei den Testfahrten nicht geblufft hat, wo das Team in den letzten zwei Jahren den meisten Boden gutgemacht hat und warum die neuen Regeln für 2021 für die Ingenieure ein Weihnachtsgeschenk sind.
Viele Fans glauben immer noch, dass Mercedes während der Wintertestfahrten geblufft hat, um die Gegner in Sicherheit zu wiegen. Stimmt das?
Allison: Das war sicher nicht der Fall. In der ersten Woche kam unser Präsentationsauto zum Einsatz, das wir schon im Oktober 2018 abgesegnet hatten. Das war von Anfang an der Plan. Wir wollten zu Beginn der Testfahrten ein zuverlässiges Auto haben, mit dem wir viele Kilometer abspulen konnten. Die frühe Fertigstellung des Präsentationsautos gab der Mannschaft in der Fabrik genug Zeit, unser Rennauto, so wie es in Melbourne antreten sollte, fertigzustellen.
Wir wollten in dieses Auto so viel Aerodynamikentwicklung einfließen lassen wie möglich. Deshalb wurde es spät fertig. Das hatte zur Folge, dass wir in der ersten Woche mit einem Auto unterwegs waren, von dem wir wussten, dass es nicht konkurrenzfähig sein würde. Nach unseren Berechnungen war es 0,8 Sekunden langsamer als das Melbourne-Auto. Was uns dann etwas verwirrt hat, und offenbar auch unsere Gegner, war, dass wir aus einer Reihe von Gründen nicht sofort das herausholen konnten, was in diesem Auto steckt. Erst am allerletzten Tag haben wir die Rundenzeiten gezeigt, die wir uns erwartet hatten. Viele haben geglaubt, dass wir Benzin abgelassen hatten. Das war natürlich nicht der Fall. Es hat einfach so lange gedauert, bis wir das Auto richtig eingestellt hatten.
Warum war es so schwer, das Optimale aus dem Auto herauszuholen?
Allison: Um ehrlich zu sein: Das Fenster, in dem das Auto funktioniert, ist ziemlich groß. Wir haben nur uns selbst das Leben schwer gemacht und es durch eigene Fehler geschafft, dieses Fenster zu verfehlen.
Haben sie in dieser Phase je an dem Konzept des Autos gezweifelt?
Allison: Wir haben uns darüber natürlich den Kopf zerbrochen. Selbst nach dem letzten Testtag sind wir mit dem Gefühl nach Melbourne gereist, dass wir einen Rückstand haben. Nicht mehr eine halbe Sekunde, aber doch ein Zehntel oder zwei. Selbstverständlich haben wir uns den Ferrari genau angeschaut, und auch einige andere Autos, die dem gleichen Frontflügel-Konzept gefolgt waren. Zum Glück hat uns Melbourne gezeigt, dass wir ein vernünftiges Konzept gewählt hatten. Und wir wussten von unseren Windkanaldaten, dass die nächsten Entwicklungsstufen uns noch viel mehr Rundenzeit bringen würden. Die Entwicklungskurve sah wirklich vielversprechend aus. Die Zweifel sind sehr schnell einem gesunden Selbstvertrauen gewichen.
Hätte es Sinn gemacht, zu diesem Zeitpunkt noch etwas Fundamentales am Auto zu ändern?
Allison: Das hängt davon ab, wie fundamental die Änderungen gewesen wären. Wenn Sie den Frontflügel von unserem Präsentationsauto mit dem des späteren Rennautos vergleichen, dann werden sie da schon große Unterschiede feststellen. Und er hat sich im Laufe der Saison immer weiter entwickelt. In Barcelona war er schon wieder anders als in Melbourne. Sie können also von drei unterschiedlichen „Konzepten“ sprechen, aber sie waren tatsächlich die Fortsetzung einer Entwicklungsrichtung. Es wird erst gefährlich, wenn man im Windkanal Zeit investiert, und in zwei völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Wenn Sie aber Schritt für Schritt auf etwas aufbauen, dann ist damit kein Risiko verbunden.
Kann man bei den Autos von Mercedes und Ferrari von zwei unterschiedlichen Philosophien sprechen: das eine Abtrieb um jeden Preis, das andere mehr Effizienz mit etwas weniger Abtrieb?
Allison: Effizienz ist ein bestimmtes Resultat mit einem Minimum an Aufwand. Wir alle bauen ein Auto nach einem festgelegten Regelwerk. Das Ziel ist es Rennen zu gewinnen. Das Auto, das gewinnt, ist das effizienteste Auto im Feld. Darüber gibt es keinen Zweifel. Die Vorstellung, dass es einen Ansatz gibt, der sich nur auf Abtrieb stützt und einen, der nur dem Gedanken von Effizienz folgt, ist falsch. Wir streben nicht nach Abtrieb um jeden Preis. Wir schauen bei der Konstruktion des Autos in jedem Detail darauf, dass es das Auto schneller macht. Wenn es Luftwiderstand kostet, dann muss es so viel Abtrieb bringen, damit das Auto schneller wird.
Selbst wenn sich der Luftwiderstand um zehn Prozent erhöhen würde, wäre es egal, wenn der Gewinn an Anpressdruck 30 Prozent betragen würde. Wenn du dann auf weniger Luftwiderstand aus bist, musst du nur einen kleineren Heckflügel ans Auto schrauben. Das Ergebnis ist immer noch besser, weil du vom Verhältnis her mehr Abtrieb gewonnen hast. Was immer du machst, mit Motorleistung, Kühlung, Abtrieb, es muss unter dem Strich einfach schnellere Rundenzeiten ergeben.
Warum war dann Mercedes bis zur Sommerpause haushoch überlegen und bekam danach mit Ferrari einen ernsthaften Gegner?
Allison: In der ersten Saisonhälfte hatte Ferrari mit Ausnahme von Melbourne gegenüber uns einen Vorteil auf den Geraden. Wir haben das in den Kurven mehr als kompensiert. Deshalb war unser Auto effizienter als ihres. Nach der Sommerpause hat Ferrari ein Upgrade gebracht, dass ihre Kurvengeschwindigkeiten verbessert hat, ohne dass sie auf den Geraden verloren hätten. Das hat ihnen gereicht, in den meisten Rennen auf die Pole Position zu fahren. Aber nicht genug, um auch am Sonntag das bessere Paket zu haben. Ihre Kurvengeschwindigkeiten sind immer noch nicht ganz auf unserem Niveau, und über eine Renndistanz nutzen wir die Reifen etwas besser als sie. Das hat aber nichts mit einer Fahrzeug-Philosophie zu tun. Sie haben einfach die Aerodynamik weiterentwickelt, und das hat sie einen guten Schritt nach vorne gebracht.
Hat Mercedes die 2019er Reifen besser verstanden als der Rest?
Allison: Das wichtigste heute ist es, das Maximum aus den Reifen herauszuholen, egal in welcher Saison. Wir haben das Glück, dass wir in unserem Team, in unserer Fahrdynamik-Gruppe ausgezeichnete Ingenieure haben. Sie bringen genau dieses Verständnis und Wissen mit sich. Der größte Fortschritt, den dieses Team in den letzten zwei oder drei Jahren gemacht hat, war es das Auto so zu entwickeln, dass es besser mit den Reifen umgeht. Wir hatten immer ein schnelles Auto, aber es harmoniert heute besser mit den Reifen als früher. Deshalb sehen sie nicht mehr diesen Jo-Jo-Effekt von außergewöhnlich guten bis hin zu schwachen Rennen. Wir hatten dieses Jahr keine echten Einbrüche. Die anderen Teams arbeiten auch daran, aber Stand heute würde ich unserem Team die größte Chance geben, in das Arbeitsfenster der Reifen zu kommen und dort auch den Rest des Wochenendes zu bleiben. Das hat sich für uns zu einer echten Waffe entwickelt.
Haben Sie letztes Jahr bei den Testfahrten in Abu Dhabi einfach einen besseren Job gemacht, diese Reifen zu verstehen?
Allison: Die Reifen sind nicht so viel anders als im letzten Jahr. Wir sind 2018 bei drei Rennen diese Reifen mit dünnerer Lauffläche gefahren. Sie werfen nicht so schnell Blasen, das ist ein Fakt. Ich weiß nicht, was die anderen getan haben oder auch nicht. Alles was ich sagen kann ist, dass wir das Glück haben, viele kompetente Leute in unserem Team zu haben. Für uns war es eine wichtige Aufgabe, die Reifen zu verstehen, wie die Kräfte des Autos auf sie einwirken, damit Aerodynamik und Mechanik gut zusammenarbeiten.
Hat die neue Frontflügel-Regel Autos mit geringer Anstellung wie den Mercedes gegenüber dem anderen Extrem wie dem Red Bull bevorzugt?
Allison: Ich habe nicht das Experiment gemacht, beide Konzepte miteinander zu vergleichen. Ich kann nur sagen, dass wir überrascht waren, wie viel Abtrieb wir beim ersten Windkanalversuch mit einem Flügel nach den neuen Regeln verloren haben. Das waren 25 Prozent. Es waren aufregende, aber auch manchmal angstvolle Monate, diesen Abtrieb wieder zurückzufinden. Ich habe keine Ahnung, wie diese Phase ausgefallen wäre, wenn wir sie mit einem Auto mit starker Anstellung begonnen hätten. Wäre der Verlust zu Beginn kleiner, dafür der Weg zurück härter gewesen oder umgekehrt? Ich weiß es nicht. Wir haben versucht, das Beste aus unserer Situation zu machen. Da geht mein ganzer Dank an unsere Aerodynamikabteilung, dass sie das so gut hingekriegt haben.
Sie haben also nicht für diese Frontflügel-Regelung gestimmt, weil Sie der Meinung waren, er würde ihrem Konzept Vorteile bringen?
Allison: Unser Ansatz war: Änderung ist eine Chance. Stabilität fördert Zusammenschluss. Die Saison 2018 war schon ziemlich eng. Deshalb waren wir der Meinung, dass wir eine Änderung nicht fürchten, sondern sie annehmen sollten. Wir waren selbstbewusst genug, dass wir mit unseren Leuten in der Aerodynamik und Fahrdynamik das Beste aus den Möglichkeiten herausholen.
Ferrari war zumindest phasenweise sehr stark auf den Geraden. Wie viel davon ist Motorleistung, wie viel weniger Luftwiderstand?
Allison: Es bringt nichts, darüber zu spekulieren. Wir müssen auf uns selbst schauen. Wir müssen über den Winter so viel Motorleistung wie möglich finden, und ich kann Ihnen sagen, dass unsere Kollegen bei HPP bis zu den Ellbogen in dieser Aufgabe stecken. Die Chassisgruppe wird der Frage nachgehen, wo wir effizient Luftwiderstand reduzieren können. Sollten wir aber in der Lage sein, so viel Abtrieb draufzupacken, dass unser Auto unter dem Strich schneller wird, dann darf es das auch für mehr Luftwiderstand sein. Wir versuchen also unseren Nachteil auf den Geraden von zwei Seiten her einzukreisen.
Ferrari scheint den Ansatz zu haben: Lass uns in die erste Startreihe fahren und dann im Rennen auf das Beste hoffen. Wenn sie es schaffen sollten, noch mehr Abtrieb zu finden, könnte das ein gefährlicher Gegner werden.
Allison: Ja, aber wir müssen nicht nur Ferrari fürchten. Auch Red Bull ist ein extrem starkes Team. Wir gehen in kein einziges Rennen mit dem Vertrauen darauf, dass wir gewinnen werden. Es ist uns klar, dass wir unser Auto zwischen heute und Melbourne 2020 erheblich schneller machen müssen, wenn wir eine Chance gegen die beiden haben wollen. Aber diese Aufgabe ist nicht dafür da, einfach zu sein. Es ist die ultimative Herausforderung.
Nach der Sommerpause sah es so aus, dass Sie sich gegen Ferrari hauptsächlich deshalb durchgesetzt haben, weil Mercedes als Team weniger Fehler gemacht hat oder bessere Strategien hatte. Ihr Auto war im Rennen zwar meistens schneller, aber die Ferrari waren wegen ihres Vorteils auf den Geraden auf der Strecke schwer zu überholen.
Allison: Der Speed im Rennen ist ein wichtiger Faktor. Weil du auf deinen Gegner Druck ausüben kannst, Fehler zu machen. Wenn sie mit einem schnelleren Auto dem Gegner im Getriebe sitzen, hat der nicht viele gute Optionen. Du kannst entweder extrem früh Reifen wechseln, um einen Undercut abzuwehren, doch dann überlässt du deinem Gegner das Feld mit dem besseren Rennspeed wegzuziehen oder du kassierst einen Undercut. Der Vorteil des schnelleren Autos im Rennen spielt dir strategisch viele Vorteile in die Hand. Natürlich wären wir glücklicher, wenn wir den Rennspeed hätten und dazu noch von der Pole Position starten könnten. Das muss unser Ziel nächstes Jahr sein.
Sie sind schon lange in der Formel 1, haben viele Regelreformen erlebt. Ist 2021 die größte, die Sie je erlebt haben?
Allison: Es ist in meinen 29 Jahren sicher die größte Reform. Massive Änderungen bedeuten eine massive Herausforderung. So musst du das als Ingenieur sehen. Als Chance statt als Risiko. Die Regeln wurden aus einem ganz bestimmten Grund so geschrieben wie sie geschrieben worden sind. Als Team sind wir nur dazu da, das schnellstmögliche Rennauto daraus zu bauen. Wir betrachten es als ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk.
Es wird weniger Freiheiten geben. Wird es noch wichtiger, Schlupflöcher zu finden und Grauzonen auszuloten?
Allison: Es gibt nicht weniger Freiheit, die Freiheit ist eine andere. Es wird Bereiche geben, wo es mehr Freiheiten gibt oder Bereiche, die früher vielleicht nicht so viel Rundenzeit gebracht haben, in Zukunft aber schon. Formel 1 ist wie ein Kriegslager. Die Regularien sind die Grenzen oder die Wächter. Du musst dir innerhalb dieser Beschränkungen das Beste heraussuchen.
Gefallen Ihnen die 2021er Autos von der Ästhetik?
Allison: Das ist eine persönliche Sache. Mir gefallen Sie nicht. Aber wie gesagt, das hat keinerlei Bedeutung außer für mich selbst.