Drei Innovationen für den Titel

Mercedes blieb seiner Designphilosophie treu. Der neue Mercedes W11 baut auf den Genen seiner Vorgänger auf. Allerdings mit drei entscheidenden Unterschieden zum Vorjahr. Die Technik-Analyse.
Für den neuen Mercedes W11 gilt das gleiche wie für seine Herausforderer von Ferrari und Red Bull. Auf den ersten Blick vertraut, auf den zweiten viel Innovation im Detail. Mercedes igelte sich für die Präsentation seines neuen Autos in Silverstone ein. Die Bühne des Autos ist nun mal die Rennstrecke. Die Mechaniker hatten am Tag 1 des Unternehmens Titelverteidigung schon um 6.30 Uhr Arbeitsbeginn. Das elfte Formel 1-Auto von Mercedes der Neuzeit wartete in Garage 20 auf seine Ausfahrt. Um 10.01 Uhr verließ Valtteri Bottas das Basislager. Damit lag er eine Minute hinter dem Zeitplan.
Für Teamchef Toto Wolff war es wie immer ein besonderer Moment. „ Der Januar ist nicht Halbes und nichts Ganzes. Das neue Auto entsteht in der Fabrik, aber es fährt nicht. Mit dem Shakedown begann unsere neue Reise. Und sie beginnt für alle bei Null. Für die Erfolge der Vergangenheit bekommen wir keines Bonus.“
Das erste Ziel war noch einfach. Der neue Silberpfeil sollte die erlaubten 100 Kilometer unfall- und defektfrei überstehen und den Piloten einen ersten Eindruck geben, was sie erwartet. „Wir tasten uns Schritt für Schritt an die Aufgabe heran und wollen nicht zu weit nach vorne blicken“, erklärte Wolff.
Auch wenn in Silverstone noch keine Rekorde gebrochen wurden, ist der erste Tag für die Fahrer doch ein Gradmesser. „Du bekommst ein erstes Gefühl dafür, wie das Auto liegt, und wie sich der Motor anfühlt“, erklärte Valtteri Bottas, der den ersten Part der Premierenfahrt abspulte.
Eine Einladung für die Verfolger
Für Mercedes wird die Aufgabe mit jedem Jahr schwieriger. Sechs WM-Titel in Folge, immer im Doppelpack Fahrer und Konstrukteure, ist schon ein Rekord für die Ewigkeit. Wenn dann noch im letzten Jahr einer Ära die Regeln stabil bleiben, dann ist das wie eine Einladung an die Verfolger, die Fehler nicht mehr zu machen, die in der abgelaufenen Saison unterlaufen sind. Konstruktiv und operativ.
2019 hatte Mercedes den Titel bereits in der ersten Saisonhälfte gewonnen. Das Auto kam besser aus den Startlöchern als die von Ferrari und Red Bull. Mercedes.Teamchef Toto Wolff rechnet damit, dass die Gegner diesmal von Anfang an auf Ballhöhe sein werden.
Der Vorteil, ein neues Reglement besser zu lesen, zu deuten oder umzusetzen entfällt. Das ganze wird noch dadurch erschwert, dass die übernächste Aufgabe das Team bereits voll in Beschlag nimmt. In Brackley und Brixworth arbeitet eine Task Force bereits an der Saison 2021. Intensiver und früher als es sonst der Fall wäre.
Für die drei Top-Teams Mercedes, Ferrari und Red Bull geht es nicht nur darum, Autos nach einem völlig neuen Reglement zu konstruieren, sondern ihre Teams auch für die Budgetdeckelung fitzumachen. Das bedeutet intern massive Umstrukturierungen. Wolff: „Eigentlich sprechen wir von einer Zweijahres-WM. Es ist eine riesige Herausforderung, die beiden Projekte unter einen Hut zu bringen. Für das Rennteam gibt es nur einen Fokus, und das ist die Saison 2020.“
Die drei großen Umbauten
Weil Mercedes mehr Gegenwind von der Konkurrenz erwartet, haben sich die Ingenieure nicht auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausgeruht. „Wir hätten die Basis des 2019er Autos weiterentwickeln können, aber mit abnehmendem Ertrag. Deshalb haben wir an drei Stellen das Konzept des Autos geändert“, verrät Technikchef James Allison. Die großen Änderunge betreffen die Vorderachse, die Seitenkästen und die Hinterradaufhängung.
Dem Frontflügelkonzept, der Nase mit seinem Entenschnabel, dem Chassis, das sich im Bereich der Vorderachse sprunghaft verbreitert und dem mächtigen Airbox-Einlass blieb Mercedes treu. Während die Querlenker der Vorderradaufhängung auch beim W11 an der höchstmöglichen Stelle ansetzen, so weit oben, dass die Lenkstange in die unteren Querlenker integriert werden muss, wurde in die Radträger und in die Felgen viel Arbeit investiert. Aerodynamisch und strukturell.
Position und Anlenkpunkt der Druckstrebe sind extrem ausgelegt. Alle Fahrwerkselemente lenken oberhalb der Radmitte am Radträger an. Um unterhalb möglichst viel freien Raum zu haben, die Luft ungestört durchleiten zu können. In der Mitte des Fahrzeuges folgte Mercedes dem Trend, die obere seitliche Crashstruktur auf Höhe der unteren zu legen, um am Kühleinlass mehr aerodynamische Freiheiten zu bekommen.
Die Seitenkästen sind ähnlich wie beim McLaren vom Ansatz her schon sehr schlank, so dass man die Verkleidung hinten gar nicht mehr so extrem einziehen muss. Auch die Hinterradaufhängung musste Tribut an die Aerodynamik zollen. Die Querlenker wurden auf maximale Höhe gelegt, um der Diffusoroberseite möglichst viel ungestörte Luft zu gönnen. Allison spricht von einer „mutigen Geometrie.“
Die drei großen Projekte und die vielen Änderungen im Detail haben nach Aussage des Technikchefs im Windkanal bereits den Abtriebsgewinn bestätigt, den sich die Ingenieure zum Ziel gesetzt hatten. Am Luftwiderstand hat sich laut Allison wenig geändert. „ Aerodynamische Effizienz wird durch die Rundenzeit bestimmt, nicht den Top-Speed. Wer mehr Abtrieb bei gleichem Luftwiderstand generiert, ist effizienter geworden.“
Komplett neuer Motor
Der Motor ist komplett neu. Mercedes war da in den letzten zwei Jahren zumindest gegenüber Ferrari ins Hintertreffen geraten. Renault und Honda hatten aufgeholt. Beim früheren Marktführer wollte man sich nicht darauf verlassen, dass ein zweiter Durchflussmengen-Sensor mögliche Trickser ausbremst. Im siebten Jahr der Hybrid-Ära blieb kein Stein auf dem anderen. „Wir haben alle Systeme angefasst. Die Effizienz des Verbrennungsmotors, die Elektromotoren, die Peripherie des Motors“, erklärt Motorenchef Andy Cowell.
Dann geht Cowell ins Detail. Weniger Verlust beim Energietransfer der elektrischen Systeme. Geringere innere Reibung dank neuer Beschichtungen. Weniger Wärmeabstrahlung. Der Motor läuft jetzt auch bei höheren Temperaturen verträglich. Die Chassisingenieure halfen mit. Sie vergrößerten die Kühlflächen ohne mehr Platz für die Kühler selbst zu beanspruchen. Das alles ohne ein Gramm draufzupacken oder einen Zentimeter länger, breiter oder höher zu werden.
Auch im Bereich der Standfestigkeit gab Mercedes Gas. Der dritte Motor von Lewis Hamilton im Vorjahr schaffte zwar einen Distanzrekord, dafür hauchten zwei Triebwerke im Auto ihr Leben lange vor der Mindestlaufzeit aus. Cowell räumt ein: „In dem Moment, in dem wir dem neuen Motor die Rennfreigabe erteilt hatten, wussten wir bereits, dass wir uns in jedem Bereich noch einmal verbessern können.“
Neuer Ansatz im Testprogramm
Die Ingenieure wünschen sich, dass ihr Auto genauso fit in die Saison startet wie seine Fahrer. Lewis Hamilton berichtete, dass er noch nie so gut vorbereitet in eine Saison gegangen sei. „Ich habe auf Anhieb in meinen Sitz gepasst. Im letzten Jahr mussten wir da viel umbauen.“
Der sechsfache Weltmeister fährt nun schon in der achten Saison für den Stern und macht seinem Team eine Liebeserklärung: „Mercedes ist meine Familie.“ Noch nimmt es der 35-jährige Engländer locker: „ Ich spüre keinen Druck und genieße einfach den Moment. Da habe tausend Leute über Monate Tag und Nacht daran gearbeitet ein Auto zu bauen, das am Ende nur zwei Leute fahren dürfen. Und ich bin einer davon.“
Valtteri Bottas will in der Version 3.0 endlich seinen Teamkollegen über die gesamte Saison herausfordern. Im letzten Jahr ist ihm das immerhin öfter gelungen als 2017 und 2018. Auf diesem Trend will der 30-jährige Finne aufbauen. Bei ihm bedeutet Vorbereitung im Winter nicht nur Training im Kraftraum oder beim Sport. Bottas nutzt die Pause immer auch zu einer Abrechnung mit sich selbst: „2019 war eine positive Saison für mich. Ich habe mich verbessert, viele meiner Schwächen abgelegt. Daran will ich anknüpfen. Das ist das Gute an der Winterpause. Du kannst Abstand nehmen, das große Bild betrachten und an dir arbeiten.“
Der Stapellauf vermittelt Fahrern und Ingenieuren nur ein erstes Gefühl. „Die wirkliche Arbeit beginnt nächste Woche in Barcelona“, blickt Bottas voraus. Lewis Hamilton traute sich nach seiner ersten Fahrt trotzdem schon einmal aus der Deckung: „Vor den Testfahrten wissen wir natürlich nicht, wo wir stehen und wie groß der Fortschritt wirklich ist. Es hat sich aber so angefühlt, als würden wir dort weitermachen, wo wir in Abu Dhabi aufgehört haben. Das ist ein guter Start.“
Für das Testprogramm hat der Titelverteidiger seine Taktik geändert. 2019 fuhr Mercedes die ersten vier Tage nur mit einer Basisversion, die noch weit von dem Melbourne-Paket entfernt war. Diesmal kehrt man zurück zu einem konventionellen Ansatz. Der W11 ist schon in der ersten Woche in seiner Entwicklung nah an der Melbourne-Version.
In der zweiten Woche folgen dann noch ein paar Upgrades im normalen Umfang. Vor zwölf Monaten waren es acht hektische Tage für Mercedes. Das Auto lernte erst am letzten Testtag das Laufen. „ Diese Erfahrung“, fordert James Allison, „möchten wir dieses Jahr nicht mehr machen.“ Der Durchbruch am achten Tag käme diesmal nämlich zu spät. Das Winter-Testprogramm wurde 2020 auf sechs Tage reduziert.