Noch ist Vettel nicht gescheitert
Wieso konnte Sebastian Vettel bislang nicht mit Ferrari Weltmeister werden? Was unterscheidet ihn von Lewis Hamilton? Und was würde ein Rücktritt für die Formel 1 und Deutschland bedeuten? F1-Reporter Andreas Haupt kommentiert.
Auch wenn viele Medien das Vettel-Aus bei Ferrari am Ende des Jahres mit einem Scheitern des Ex-Weltmeisters gleichsetzen: Wir dürfen zum aktuellen Zeitpunkt auf keinen Fall voreilige Schlüsse ziehen. Weil es unfair ist, die Schuld allein auf den Fahrer abzuwälzen. Und weil das Scheitern ja noch gar nicht feststeht. Wir alle hoffen, dass das Coronavirus in diesem Jahr noch eine Formel-1-Saison zulässt. In der Theorie kann Vettel dann also mit Ferrari noch Weltmeister werden. Und seine Mission doch noch erfüllen.
Zugegeben, die Chancen dafür sind gering. Weil Mercedes und Red Bull bei den Wintertestfahrten stärker waren. Weil Ferrari offensichtlich die Strukturen für den großen Wurf fehlen. Weil Ferrari selbst beim Motor ins Hintertreffen geraten ist. Weil Lewis Hamilton nach dem siebten Titel giert. Und weil Verstappen und Red Bull die Mercedes-Dominanz endlich brechen wollen.
Aber: Unterschätze nie das Herz eines Champions. In den letzten Jahren wurde der Druck auf Sebastian Vettel immer größer. Mit jeder verlorenen Weltmeisterschaft wurde die Last auf seinen Schultern größer. Die ist ihm 2020 genommen durch den beschlossenen Ferrari-Ausstieg zum Saisonende. Keiner erwartet von ihm den WM-Titel.
Ferrari hat seine Jetons auf Charles Leclerc gesetzt. Im Prinzip kann Vettel befreit auffahren. Der Heppenheimer muss sich auch nicht um die Teamtaktik scheren. Ferrari weiß, dass man von einem vierfachen Weltmeister nicht verlangen kann, einen 22-jährigen Teamkollegen mit zwei Siegen auf der Habenseite zu unterstützen. Zumindest am Saisonbeginn muss der Rennstall der Herzen die Chancengleichheit gewährleisten. Sonst würde man sich selbst verwunden.
Zwei Saisons ohne einen Sieg
Wer gewinnt, ist in unserer Gesellschaft der Größte. Bei Niederlagen sind alte Erfolge schnell vergessen. Je mehr Pokale man in der Vergangenheit gewonnen hat, desto tiefer kann man in der Wahrnehmung fallen. Selbst an einem Michael Jordan wurde nach seiner Rückkehr zum Basketball gezweifelt. Das ist leider so.
Zuerst wurde der vierfache Weltmeister von Daniel Ricciardo geschlagen. Red Bull war ein Vettel-Team. Doch Ricciardo gewann drei Rennen. Vettel keines, weil ihm das Auto nicht passte. Sein Fahrstil ist auf eine stabile Vorderachse ausgelegt. Adrian Newey beschreibt es in seinem Buch so: "Vettel lenkt sehr hart und spät, um das Auto durch die Kurve zu bekommen, was ein sehr stabiles Heck erfordert." Das hatte der Red Bull RB10 nicht mehr.
Auch 2016, in seinem zweiten Jahr bei Ferrari, blieb Vettel ein Sieg vergönnt. Lewis Hamilton hat in jeder seiner Formel-1-Saisons seit 2007 mindestens einen Grand Prix gewonnen. Auch solche, die er eigentlich nicht hätte gewinnen können. Wie zum Beispiel in Deutschland vor zwei Jahren.
Damals rodelte Vettel in seinem Ferrari bei stärker einsetzendem Regen in der Sachskurve von der Strecke. Es war die psychologische Wende der Weltmeisterschaft. Plötzlich hatte Hamilton Oberwasser.
Und bei Ferrari schlichen sich die Fehler ein: in der Fahrzeugentwicklung, bei der Strategie, in den Abläufen an der Rennstrecke. Vettel trug seinen Teil dazu bei. Er machte Fahrfehler. Im direkten Zweikampf hieß der Sieger Hamilton. Vettels Ferrari zeigte hingegen oftmals in die falsche Richtung.
Das soll aber nicht heißen, dass der 32-Jährige keine Rad-an-Rad-Duelle kann. Man muss es von der anderen Seite betrachten: Keiner versteht es, in diesen engen Situationen sein Auto so zu platzieren, wie Hamilton. Ohne schmutzige Tricks.
Nur der Fahrer reicht nicht
Ich finde, Hamilton, Schumacher und auch ein Fernando Alonso haben Vettel etwas voraus. Sie gewinnen nicht nur mit dem schnellsten Auto, sondern auch in einem unterlegenen. Schumachers Ferrari F310 war 1996 eher eine Gurke. Trotzdem holte Schumi darauf drei Grand-Prix-Siege. Alonso wäre 2010 und 2012 in einem unterlegenen Ferrari fast Weltmeister geworden. Vettel hat in einem nicht siegfähigen Rennwagen nur einmal gesiegt: im Toro Rosso 2008 in Monza.
Anders gesagt: Vettel braucht ein Auto, das auf seinen Fahrstil zugeschnitten ist. Die anderen können Probleme eher umfahren. Aber auch, aber nur bis zu einem gewissen Maß.
Vettel hat seine vier Titel aber nicht allein wegen Red Bull gewonnen. So etwas zu behaupten, wäre falsch. Vettel machte auch in diesen Jahren seine Fehler. Aber er machte sie nicht zweimal. Er lernte und verbesserte sich. Vettel brachte das Team hinter sich. Er drehte vor allem in der zweiten Saisonhälfte auf. Er wuchs mit dem Druck, statt sich ihm zu beugen. Das macht die großen Fahrer aus. Das zeugt von einem starken Nervenkostüm. Eines, das er über die Jahre bei Ferrari nicht immer an hatte. Warum?
Und jetzt kommt der springende Punkt: Red Bull war zwischen 2010 und 2013 die beste Organisation in der Formel 1. Mercedes ist es seit 2014. Von A bis Z. Vom Teamchef bis zur Putzfrau. In diesem Team operiert jeder Mitarbeiter am Maximum. Fehler werden akzeptiert und abgestellt. Sie wiederholen sich nicht. Ganz anders als bei Ferrari.
Vettel immer loyal
Hamilton genießt dieses perfekte Umfeld. Er vertraut dem Team. Das Team vertraut ihm. Vettel hatte diesen maximalen Rückhalt bei Ferrari nie. Mercedes-Teamchef Toto Wolff ist ein Menschenfänger. Einer, der zusammen mit Niki Lauda die Puzzlestücke an die richtigen Stellen gesetzt hat. Einer, der Druck vom Team nimmt. Einer, der seinen Ingenieuren und Fahrern Freiheiten einräumt, um sich zu entfalten.
Bei Mercedes wird nach Niederlagen analysiert. Das Team wird stärker. Bei Ferrari ist das Gegenteil der Fall. Niederlagen sind Staatsdramen. Es wird angeprangert, statt sich zusammen zu raufen. In diesem Umfeld kann kein Fahrer Weltmeister werden. Kein Alonso, kein Vettel. Und auch kein Hamilton. Würde Vettel in einem Mercedes sitzen und Hamilton im Ferrari, wären die Duelle der letzten Jahre anders herum ausgegangen. Ein Fahrer braucht dieses perfekte Umfeld. Sonst droht er sein Auto zu überfahren, um Defizite auszugleichen. Dann passieren Fehler.
In diesem Zusammenhang muss man Vettels Loyalität und Verhalten gegenüber Ferrari noch höher einschätzen. Er hat seine Mannschaft nie öffentlich an den Pranger gestellt. Er handelte wie einst Michael Schumacher. Kritik wird hinter verschlossenen Türen geübt. Ganz anders als Alonso zwischen 2010 und 2014. Der Spanier ließ zwischen den Zeilen anklingen, dass der Fahrer Heldentaten vollbringen würde und das Auto mehr oder weniger Mist sei. Vettel kann ein Team führen. Alonso, sagen viele im Fahrerlager, kann das nicht.
Was bedeutet das Aus für Vettel bei Ferrari für die Formel 1? Zunächst einmal, dass die Königsklasse des Motorsports vermutlich bald ohne eines ihrer größten Zugpferde auskommen muss. Dass einer der erfolgreichsten und besten Fahrer der Geschichte – und das ist Vettel zweifellos mit vier WM-Titeln, 53 GP-Siegen und 57 Pole-Positions – auf der großen Bühne fehlen wird.
Vettel ist der Gegenpol zu Superstar Hamilton. Der eine trägt goldene Halsketten, Ohrringe, Tattoos. Jettetet um die Welt. Hat eine eigene Modedesign-Linie. Tritt sein Leben zum Teil auf den sozialen Netzwerken breit. Der andere ist eher der Typ Polo-Shirt. Ein Familienvater mit drei Kindern. Einer, der alte Motorräder und Autos restauriert. Einer, der Fiat 500 fährt und nicht Pagani.
Wohl kein Platz 2021
Bei all den Gegensätzen sind sich Vettel und Hamilton doch ähnlich. Beide respektieren sich im höchsten Maß. Beide treten für ihre Werte ein. Vettel versperrt sich den sozialen Netzwerken, weil er keinen Sinn darin sieht. Er ist ein Mann des Bargelds, nicht von Kreditkarten und PayPal. Einer, der Zwölfzylinder-Saugmotoren liebt und nicht die aktuellen 1,6-Liter-V6-Hybridmonster.
Vettel hat sich nie verbiegen lassen. Das soll aber nicht heißen, dass sich der Heppenheimer nicht anpassen kann. Erst kürzlich hat er sich einen Simulator für zu Hause angeschafft, weil er gesehen hat, was die jungen Kollegen da so anstellen. Genau solche Typen, Typen wie Vettel, braucht die Formel 1. Vettel ist vernarrt in technische Details. Er ist detailbesessen. Er ist ein Siegertyp. Er ist einer, der Ungerechtigkeiten nicht ertragen kann. Siehe Montreal 2019. Vettel zeigt Emotionen – ob positive oder negative. Davon lebt der Sport, vor allem in Zeiten, in denen Pressesprecher wie Bodyguards an der Seite der Fahrer stehen.
Es gibt wohl leider keinen Unterschlupf mehr für ihn 2021. Bei Red Bull und Mercedes sind die Türen zu. Sie haben ihre Starfahrer, um die das Team aufgebaut ist. McLaren und Renault wären Rückschritte. Sie werden 2021 nicht um Siege fahren. Die Krise macht die Großen stärker und nicht die Kleinen. Und Vettel ist keiner, der um kleine Punkte fahren will. Er will gewinnen.
Ist Vettel vor Leclerc weggelaufen? Nein. Es ist einfach das passiert, was im Sport gang und gäbe ist. Ein aufstrebender Youngster beeindruckt ein festgefahrenes Team. Leclerc kämpfte mit ausgefahrenen Ellbogen, statt vor dem vierfachen Weltmeister zu kuschen. Er protestierte lautstark über den Teamfunk. Mit seiner Art hat er den Respekt der Mechaniker und Ingenieure gewonnen. Ferrari spürt: Hier wächst ein kommender Weltmeister heran. Im Hintergrund macht Manager Nicholas Todt für ihn Politik. Leclerc schwamm 2019 mit der Strömung, Vettel gegen sie.
Was bedeutet die gescheiterte Vertragsverlängerung für Ferrari? Dass der erfolgreichste Rennstall der Formel-1-Geschichte bald von einem Jungstar angeführt wird. Ab 2021 wird Ferrari die Erfahrung wegbrechen, die Vettel ins Team einbrachte. Die könnte vor allem in der Fahrzeugentwicklung fehlen. Vettel ist einer, der auf mechanische Defizite hinweist, der sie im Auto nicht nur spürt, sondern auch benennen kann.
Wellenbewegungen in Deutschland
Man vergisst schnell, dass der Erfolg an beiden Seiten hängt. 2017 führte Vettel bis zur Halbzeit die Weltmeisterschaft mit 14 Punkten an. Doch Ferrari machte Kimi Räikkönen nicht zur Nummer zwei. Gut für das Wohl des Sports, schlecht für Vettel. In Singapur krachte er am Start mit Kimi Räikkönen zusammen. In Malaysia und Japan ließ ihn die Technik im Stich.
Vettel zählt ohne Zweifel noch immer zu den Top-5-Piloten im aktuellen Feld. So einer gehört in die Formel 1, gehört in ein Topauto. Doch Deutschland droht, ab 2021 weder einen Grand Prix noch einen Fahrer in der Formel 1 zu haben. Das ist schlecht für uns, aber wäre zunächst kein Untergang.
2010 stellte Deutschland noch sieben Formel-1-Piloten. Das war eine Ausnahme. Genauso, wie es 2021 dann eine wäre. Das sind vermutlich Wellenbewegungen, die eine motorsportbegeisterte Nation ertragen muss. Ob es mehr ist, vielleicht ein Grundsatz-Problem, wird erst die Zukunft zeigen.
Ein generelles Problem gibt es überall im Nachwuchs: Motorsport ist zu teuer. Wer vom Kartsport bis ganz nach oben kommen will, muss siebenstellige Summen aufbringen. Dafür braucht es reiche Eltern und/oder Sponsoren. Und die werden vermutlich wegen der Coronakrise weniger werden. Dann bleiben nur noch die Hersteller übrig. Wer es nicht in deren Kader schafft, hat dann verspielt.
Hier hätten die Verantwortlichen schon länger gegensteuern müssen. Vielleicht wäre Vettels Rückzug, sofern es tatsächlich so kommt, ein letzter Weckruf, an die Strukturen zu gehen, und den Motorsport in den Nachwuchsklassen wieder zu öffnen. Damit er nicht mehr nur einer Elite zugängig ist. Damit talentierte Nachwuchsfahrer, deren Elternhaus nicht mit Millionen gesegnet ist, es von unten nach ganz oben schaffen können. Aber wie gesagt: Dieses Problem kennt nicht nur Deutschland, sondern auch andere Nationen.