Die Angst um die Hinterreifen

Mercedes-Doppelsiege sehen so einfach aus. Aber sie sind es nicht immer. Und sicher nicht der von Imola. Viele Hindernisse gingen im Siegestaumel unter. In Imola machten dem alten und neuen Weltmeister das Fremdteil im Auto von Bottas, die Hinterreifen von Hamilton und die Boxenstopps Sorgen.
Siege hängen oft am seidenen Faden. Am Ende sah es ganz leicht aus, wie Lewis Hamilton./span> mit 5,7 Sekunden Vorsprung auf Mercedes.Teamkollege Valtteri Bottas ins Ziel fuhr, und Bottas in den letzten sechs Runden Daniel Ricciardo im Renault noch um weitere 8,5 Sekunden abhängte. Die wahre Story, wie es zum fünften Mercedes.Doppelsieg in dieser Saison kam, warum Hamilton vor Bottas ins Ziel fuhr, und dass sich diese Reihenfolge beim zweiten Boxenstopp um ein Haar noch einmal umgedreht hätte, ging in der Feier um den siebten Konstrukteurs-Titel in Folge unter. Sie ist trotzdem eine Story wert.
Das Rennen von Mercedes lief beileibe nicht nach Plan. Man könnte sogar von einer Serie von Pannen sprechen. Dass Mercedes dann trotzdem noch im Doppelpack gewinnt, zeigt ihre Überlegenheit. Es ging schon in der zweiten Runde los, als Bottas ausgangs Tosa die abgebrochene Endplatte von Sebastian Vettels Ferrari traf. Das Teil war nach Auskunft der Mercedes.Ingenieure stolze 40 mal 70 Zentimeter groß. Es verfing sich zwischen linkem Leitblech, Chassis und Unterboden. Die Aerodynamiker errechnet einen Abtriebsverlust von 50 Punkten. Auf der Uhr waren das fünf bis sieben Zehntel pro Runde. Bottas spürte eine leichte Unruhe des Autos in schnellen Kurven, und er vermisste ein konstantes Fahrverhalten beim Bremsen.
Crew-Wechsel verlangsamt Stopps
Bottas war schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass er das Rennen verloren hatte, obwohl er es anführte, mit Max Verstappen als Puffer zwischen sich und Hamilton. Und die Strategen wussten es auch. Ein solches Szenario war am Morgen im Strategie-Meeting besprochen worden. Er hätte auch Lewis Hamilton./span> treffen können, doch der Weltmeister hat halt einfach mehr Glück als die Nummer zwei im Stall. Weil Bottas nicht sein Tempo fahren konnte, musste er auf Verstappens frühen Boxenstopp reagieren. "Hätten wir das nicht getan, hätten wir den Sieg herschenkt", rechneten die Strategen vor.
Der Overcut war nur mit einem intakten Auto die bessere Taktik. "Verstappen hat durch den Undercut seinen Rückstand in nur einer Runde um eine Sekunde verkürzt. Wäre Valtteri auf der Strecke geblieben, hätte er seinen Platz innerhalb weniger Runden an Verstappen verloren und mit ihm auch Lewis, weil ihm Valtteri ja das Tempo diktierte." Der Aufschrei, Mercedes hätte Bottas taktisch benachteiligt, hatte diesmal sicher keine Grundlage. Selbst Bottas räumte ein: "Ich hatte mit meinem Handikap keine Chance länger draußen zu bleiben und den Vorsprung auf Max zu halten."
Auch der weitere Rennverlauf meinte es gut mit Hamilton. Er vergrößerte an der Spitze zwar seinen Vorsprung, doch es dauerte bis zur 29. Runde, bis zum ersten Mal das Boxenstopp.Fenster für ihn aufging. Obwohl der Weltmeister auf überrundete Fahrzeuge auflief, ließ ihn Chefstratege James Vowles auf der Strecke. Das Polster von 0,6 Sekunden erschien ihm zu gering.
Der Grund liegt daran, dass bei Mercedes die Boxenstopps seit dem Nürburgring nicht mehr in der gewohnten Geschwindigkeit ablaufen. Wegen Corona-Fällen in der Crew mussten bis zu zehn Positionen umbesetzt werden, darunter auch einer der vier Männer am Schlagschrauber. Und das sind die wichtigsten. Wer diesen Job nicht tagaus, tagein trainiert, hat nicht die Präzision und Schnelligkeit des Stammpersonals. "Deshalb müssen wir bei unseren Stopps immer etwas mehr Puffer einplanen", heißt es bei Mercedes.
Hamilton-Sieg am seidenen Faden
Hamilton wurde für das Warten belohnt. Eine VSC-Phase schenkte ihm rund zehn Sekunden beim Boxenstopp. Doch was ab jetzt wie eine Spazierfahrt aussah, wurde 15 Runden später wieder zur Zitterpartie. Hamilton meldete Vibrationen an den Hinterreifen. Seit dem Reifendrama von Silverstone ist Mercedes übervorsichtig bei diesem Thema. Vibrationen kündigen meist ein strukturelles Problem an. Dafür hätte es in Imola eine Erklärung gegeben. Der alte Asphalt bot extrem viel Grip, und die Randsteine malträtierten die Reifen zusätzlich.
Beim Beschleunigen entstehen dabei Frequenzen, die einen Reifen killen können. Kimi Räikkönen verlor 2018 in Monza, weil an seinem Ferrari aus diesem Grund ein Hinterreifen kurz vor dem Exitus stand. Mercedes hat in der Zwischenzeit Rechenmodelle erstellt, die anhand des Grades der Vibrationen den Ingenieuren die Entscheidung abnehmen. Ist eine bestimmte Grenze überschritten, wird der Fahrer an die Box geholt. Auch wenn er deshalb das Rennen verliert.
Als Verstappen mit einem Reifenschaden ins Kiesbett flog, läuteten bei Mercedes alle Alarmglocken. Man fürchtete, der Holländer hätte das gleiche Problem gehabt. Auch ohne Safety Car hätte die Kommandobrücke beide Autos aus Sicherheitsgründen an die Box geholt. Der Vorsprung auf den neuen Dritten Sergio Perez war groß genug. Mit Safety Car war es ein Muss. "Der Hinterreifen von Lewis hätte einen Re-Start nicht überstanden." Die Strategen nahmen in Kauf, dass Hamilton damit den Sieg verlieren könnte. Weil das SC-Signal für ihn denkbar ungünstig, für Bottas dagegen zum perfekten Moment kam.
Als die Rennleitung das Rennen neutralisierte, hatte Hamilton zum ersten Mal Pech an diesem Tag. Er war gerade an der Boxeneinfahrt vorbei, und er musste sich eine ganze Runde hinter Bernd Mayländers Mercedes AMG GT R anstellen. Bottas konnte sofort seinen Reifenwechsel abspulen und dann wieder auf das Feld aufschließen. Das wäre die Chance für den Finnen gewesen, das Rennen doch noch zu gewinnen. Er war bei seinem zweiten Boxenstopp den Fremdkörper in seinem Auto losgeworden und konnte wieder Gas geben. Wäre Mayländer nur eine Sekunde langsamer gefahren, hätte es einen Führungswechsel gegeben. Hamilton kehrte 0,6 Sekunden vor Bottas auf die Strecke zurück.