„Hatten Rückschritte erwartet“
Racing Point ist die Überraschung der Saison. Dabei wurde das Team selbst davon überrascht, dass es nach dem Konzeptwechsel direkt so gut läuft. Bei den ersten Windkanalversuchen war diese Entwicklung noch nicht abzusehen.
Als Racing Point bei den Wintertests in Barcelona erstmals mit dem neuen RP20 die Garage verließ, trauten Beobachter ihren Augen kaum. Das Auto erinnerte verdächtig an den Silberpfeil des Vorjahres. Beim genaueren Blick fielen dann immer mehr Gemeinsamkeiten ins Auge. Nicht nur die einzelnen Bauteile glichen dem Vorbild, auch die ganze Aerodynamik-Philosophie wurde von Mercedes übernommen.
Setzte Racing Point zuvor noch auf ein Auto mit hoher Anstellung, das mit der vergrößerten Diffusorfläche in der Theorie mehr Abtrieb im Heck produziert, so lag das neue Auto plötzlich viel flacher auf dem Boden. Der niedrigere Schwerpunkt bringt den Vorteil eines stabileren Fahrverhaltens. So konsequent hatte man das Abkupfern eines anderen Autos noch nie gesehen.
"Wir hatten schon immer eine talentierte Gruppe von Leuten, die ihr Potenzial mangels finanzieller Mittel nicht zeigen konnte. Wir wollten diesen Schritt schon lange gehen, hatten aber nie das Geld dafür", so Teamchef Otmar Szafnauer über die Entscheidung. Die Ingenieure wollten aber nicht einfach nur plump das schnellste Auto kopieren. Es gab auch noch einen zweiten Grund.
"Wir kaufen unser Getriebe von Mercedes. Es ist speziell für Ihre Entwicklungsphilosophie ausgelegt. Wir waren somit bei unserem Design immer eingeschränkt. Von diesen Kompromissen wollten wir eigentlich immer schon weg. Und jetzt waren wir finanziell erstmals in der Lage diesen Schritt zu gehen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass wir erst einmal einen halben Schritt zurück machen, bevor es vorwärts geht. Aber das ist so nicht eingetreten."
Dabei hätte es den Teamchef eigentlich gar nicht überraschen dürfen, dass seine Ingenieure beim Abkupfern so erfolgreich sind. Kopieren hat im Technik-Büro in Silverstone schon seit alten Force-India-Zeiten Tradition: "Wir waren 2009 das erste Team, das den Doppel-Diffusor von Brawn, Toyota und Williams nachgebaut hat – sogar noch vor Red Bull. Auch als McLaren 2010 mit dem F-Schacht kam, waren wir nach ihnen wieder die ersten, die den Trick implementierten", erinnert sich Szafnauer.
Racing Point kopiert besser als Konkurrenz
Der gebürtige Rumäne bedauert, dass seine Mannschaft in den letzten Jahren nicht zeigen konnte, was sie drauf hat. "Wir hatten leider nicht das Geld. Wir kamen zum Beispiel im Sommer 2015 mal mit einem kompletten B-Auto nach Silverstone, mit dem wir einen großen Sprung nach vorne machten. Wir hatten die Entwicklung damals eigentlich schon im Winter in der Pipeline, aber es war kein Geld da, um die neuen Teile ans Auto zu bringen."
Diese Tage sind zum Glück vorbei. Racing Point steht dank der Millionen der kanadischen Investoren finanziell auf festem Boden. Nun kommt das Talent im Technikbüro endlich zum Tragen. Den Vorwurf, sich beim Kopieren illegaler Methoden bedient zu haben, weist Szafnauer energisch zurück.
"Wir kennen die Regeln, wir wissen was erlaubt ist. Wir haben uns zu 100 Prozent daran gehalten. Die FIA war ja schon im März bei uns in der Fabrik. Dabei konnten wir ihnen gut vermitteln, wie wir zu diesem Auto gekommen sind. Und sie sind der Meinung, dass wir es 100 Prozent legal gemacht haben. Jetzt müssen wir es nur noch den Rennkommissaren erklären, die damals natürlich nicht dabei waren."
Der 55-Jährige versteht die Aufregung der Konkurrenz nicht. Jedes Team schieße schließlich Fotos von anderen Autos. "Manche machen aber einfach einen besseren Job beim Kopieren, bzw. beim Integrieren der Erkenntnisse aus den Fotos in das eigene Auto", bemerkt Szafnauer mit einem Grinsen im Gesicht.
Erste Windkanaltests enttäuschend
Die Aufregung sei nur deshalb so groß, weil Force India das Auto nicht kontinuierlich weiterentwickelt sondern sein komplettes Aerodynamik-Konzept auf den Kopf gestellt hat. Dabei habe man vorher auch schon kopiert: "Die Idee für das Auto mit hoher Anstellung und dem Anblasen des Diffusors kam von Adrian Newey. Das wurde von fast allen Teams kopiert – uns eingeschlossen. Bei uns hat das am Anfang mit dem Versiegeln des Unterbodens durch die Strömung auch nicht richtig funktioniert. Von ihrem Auto haben wir gelernt, wie groß die Abstände sein müssen."
Ein weiteres Beispiel für erfolgreich praktiziertes Kopieren in der Vergangenheit sei die Luftdurchführung durch die Radnabe. "Am Anfang hatten das nur wenige", erinnert sich Szafnauer. "Interessanterweise war Haas eines der ersten Teams, das damit fuhr. Obwohl sie erst ein Jahr in der Formel 1 waren, hatten sie kapiert, wie das mit der Luftdurchleitung funktioniert. Sie haben es natürlich nicht selbst kapiert. Die Teile wurden einfach von Ferrari geliefert. Aber das gehört in unserem Sport dazu."
Dass der riskante Konzeptwechsel jetzt bei Racing Point so fulminant eingeschlagen ist, konnte man vorher nicht ahnen. Szafnauer wundert sich warum nicht noch mehr Teams schon längst diesen Weg gegangen sind. Stattdessen setzt die Mehrzahl der Autos auf das Red-Bull-Prinzip mit dem hohen Heck – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen.
Szafnauer gibt zu: "Wir haben nie gewusst, dass es so gut funktionieren würde, wie wir es jetzt sehen. Es war immer zu befürchten, dass wir erst einen Schritt zurück machen. Als wir das Modell mit den neuen Ideen erstmals in den Windkanal geschoben haben, war es zunächst viel schlechter als vorher. Damit wären wir mehrere Sekunden pro Runde langsamer gewesen. Erst mit Hilfe von CFD und Windkanal sowie einigen Designänderungen haben wir gelernt, wie das neue Aero-Konzept funktioniert."
Konzeptwechsel macht Angst
Am Rande des Grand Prix von Ungarn wurde in der offiziellen FIA-Pressekonferenz auch Mercedes.Technikchef James Allison danach gefragt, warum nicht mehr Teams auf den Weg des Weltmeisterteams umschwenken. Der Ingenieur gab darauf eine interessante und ausführliche Antwort:
"Wenn man ein Auto entwickelt, dann ist es so, als steigt man im Nebel auf einen Berg. Wenn es gut läuft, dann geht es auf dem Weg immer weiter nach oben und das Auto wird schneller. Aber weil es neblig ist, weißt Du nicht, was auf den Berg.n um dich herum passiert. Dort sind auch Berg.teiger unterwegs und sie klettern auch so schnell es geht nach oben."
"Wenn der Anstieg des Berg.s plötzlich flacher verläuft, dann fragt man sich, ob man sich vielleicht schon in der Nähe des Gipfels befindet. Und ob es nicht langsam Zeit wird, sich einen anderen Berg auszusuchen. Ob man also auf ein anderes Fahrzeugkonzept umschwenkt und mutig den eigenen Berg verlässt, von dem man denkt, dass er nicht gut genug ist, weil man nicht mehr lange weiterklettern kann."
"Aber weil es neblig ist, weiß man nicht, wie viel Weg noch vor einem liegt. Beim Wechsel auf einen anderen Berg weiß man, dass es in der Übergangsphase erst einmal wieder nach unten geht. Man muss durch ein Tal schreiten, bevor der Aufstieg beginnt."
Allison beschreibt bildhaft, was in den "Bergsteigern" unter den Ingenieuren vor sich geht: "Der Poker kann aufgehen, wenn man sich plötzlich auf einem besseren Berg befindet und man schnell höher kommt als zuvor. Aber diese Entscheidung ist furchteinflößend. Die Versuchung, den alten Pfad weiter hochzulaufen und die begonnene Arbeit fortzuführen, ist sehr groß."
"Die meisten Teams investieren nur einen Teil ihrer Ressourcen für den Gang auf dem eigenen Pfad. Parallel versuchen sie auszuloten, ob es auf anderen Pfaden nicht vielversprechender sein könnte. Sieht das Tal vielleicht etwas weniger tief aus als vorher befürchtet? Lohnt es sich, mehr Aufwand in diesem Bereich zu betreiben?"
"Und wenn man erst einmal auf den Geschmack der neuen Pfade gekommen ist, dann versetzt man immer mehr Leute auf diesen Weg und hoffentlich klettert man damit in neue Höhen. Aber dieser Prozess kann einem schon Angst machen, weil man sich ja immer noch im Nebel befindet. Der Sprung auf den nächsten Berg könnte auch ja ein Fehler sein."
Um bei dieser Analogie zu bleiben: Aktuell kraxeln Racing Point und Mercedes beide mit großen Schritten auf dem Mount Everest hinauf, wenn auch in verschiedenen Höhen. Der Rest der Formel-1-Welt bemüht sich dagegen verzweifelt an deutlich niedrigeren Alpengipfeln. Man darf gespannt sein, ob das erfolgreiche Beispiel von Racing Point auch anderen Kletterern Mut macht den Berg zu wechseln.