Red Bull fehlt Mut zum Risiko
Hätte Red Bull in Spa einen zweiten Boxenstopp von Max Verstappen riskieren sollen? Das hätte Mercedes zum Konter gezwungen und Daniel Ricciardo zum Zünglein an der Waage gemacht. Im Taktik-Check blicken wir auf die Strategie-Optionen.
Der GP Belgien war kein aufregendes Rennen. Eigentlich auch eines, das einfach zu verstehen war. Dabei hätte der 53. Auftritt der Formel 1 durchaus Potenzial zu mehr Dramatik gehabt. Wenn Red Bull den Mut gehabt hätte, die Karte Risiko zu spielen.
Dazu aber hätte Max Verstappen einen zweiten Boxenstropp einlegen müssen. In der 24. und 25. Runde war die Gelegenheit am besten dazu. Da hätte mit 1,2 und 1,4 Sekunden Rückstand auf Valtteri Bottas sogar der Undercut funktioniert. Mercedes merkte, dass die Lage brenzlig wurde und gab deshalb seinen Piloten sechs Runden lang die Erlaubnis, Tempo zu machen.
Red Bull sah davon ab, weil Verstappen hinter Daniel Ricciardo gefallen wäre. Der Vorsprung auf den Renault-Piloten betrug in diesen Runden nur 15,1 und 15,5 Sekunden. 18 oder 19 hätten es schon sein müssen, um vor dem Australier zu bleiben.
"Wir wollten nicht hinter Daniel auf die Strecke kommen, weil die Renault so schnell auf den Geraden waren", begründete Red Bull.Teamchef Christian Horner die Entscheidung, Verstappen mit dem zweiten Satz Reifen bis zum Ende fahren zu lassen. Somit war aber auch in Stein gemeißelt, dass dabei nicht mehr als der dritte Platz möglich war. Schon am Freitag zeigten die Reifen am Mercedes weniger Abnutzungserscheinungen als am Red Bull.
Die Chance des Windschattens in der ersten Runde verspielten alle Hamilton-Jäger. Das lag daran, dass ein Quersteher des Weltmeister aus La Source heraus das ganze Gefolge dazu zwang vom Gas zu gehen. Und so konnte der Trainingsschnellste mit einem Beschleunigungsvorteil Richtung Eau Rouge stürmen.
"Außerdem hatten wir auf der langen Geraden Rückenwind. Da wirkte der Windschatten nicht so stark wie sonst", klagte Bottas. Er konnte froh sein. So kamen auch Verstappen und Ricciardo nicht an ihm vorbei.
Beim Massenandrang an die Boxen in Runde 11 hatte Mercedes unverschämtes Glück. Hamilton lag 2,5 Sekunden vor Bottas und 7,9 Sekunden vor Verstappen. "Damit konnten wir Lewis sicher wieder auf den Weg bringen, bevor Verstappen ankam. Andernfalls wären wir dazu gezwungen gewesen, Lewis festzuhalten, was Valtteri wiederum Zeit gekostet hätte, bis er in die Parkposition hätte vorrücken können. So hätte Max ein Auto von uns überholt", erklärten die Strategen.
Hier mussten sich die Ingenieure auf ihre Programme verlassen. "Wir haben Valtteri gesagt, dass er an Lewis dranbleiben soll, auch wenn er kurz warten muss. Es war nicht notwendig, schon auf der Strecke Platz zu schaffen."
Rennen langsamer als 2019
Rückblickend muss man sagen, dass es aus Sicht von Red Bull das Risiko wert gewesen wäre. Verstappen hätte mit einem zweiten Reifen.echsel auf jeden Fall die Mercedes hinterhergezogen. Die konnten gar nicht riskieren mit alternden Reifen gegen einen Verstappen mit frischen Sohlen anzutreten.
Verstappen wäre dann zwar hinter Ricciardo, aber womöglich vor Bottas gelandet. Und mit Ricciardo wäre eine dritte Kraft im Spiel gewesen, um die Mercedes zu ärgern. Der Renault war nicht nur für Red Bull zu schnell auf den Geraden, sondern auch für die Mercedes. Und der Renault hatte von allen drei Autos den geringsten Reifen.erschleiß.
So lief das Rennen in geordneten Bahnen ab. Es war an der Spitze eine reine Reifen.par-Nummer. Das zeigen schon die Zahlen. Statt 59 Überholmanövern wie zwölf Monate zuvor gab es nur 29 Platzwechsel im Rennen.
Der GP Belgien 2020 dauerte 23 Sekunden länger als das Rennen im Vorjahr, obwohl die Autos eigentlich schneller geworden waren. Bei beiden Rennen war übrigens das Safety-Car für je vier Runden auf der Strecke, was sie durchaus vergleichbar macht. Auch die schnellste Rennrunde zeigt, dass auf der Strecke gebummelt wurde. Daniel Ricciardos Bestwert lag eine Sekunde über Sebastian Vettels Rekordrunde von 2019.
Kurz gesagt war der GP Belgien eine Kopie des ersten Rennens von Silverstone. Ein frühes Safety-Car machte den Plan vom Einstopp-Rennen zur Überlebensfrage. Mercedes wollte in den Runden 18 und 19 stoppen. Die Dramaturgie des Rennen zwang alle schon in Runde 11 zum Reifen.echsel. Das bedeutete eine Restlaufzeit von 33 Runden für den zweiten Reifen.atz.
Für die Vorderreifen war die Aufgabe ein bisschen einfacher als in Silverstone. Die Kräfte sind in Summe nicht ganz so hoch, Links- und Rechtskurven in Spa besser verteilt und die Abkühlphasen länger. Die niedrigen Temperaturen halfen ebenfalls. Dafür waren die Reifen.ischungen eine Stufe weicher als bei Silverstone 1.
Weniger Abtrieb, weniger Verschleiß
Auf dem Papier war ein Einstopp-Rennen je nach Verkehrslage zwischen drei und acht Sekunden schneller als zwei Boxenstopps. Mit dem frühen Reifen.echsel aber änderte sich das Bild. Jetzt war es für viele eine 50/50-Frage, je nachdem wie weit man ins Feld zurückgefallen wäre.
Hamilton, Bottas und Verstappen hinderte Ricciardo am zweiten Stopp. Dabei konnte Ricciardo nicht einmal sein bestes Rennen fahren, Sergio Perez hielt ihn fünf, Pierre Gasly vier Runden lang auf. Das kostete mindestens neun Sekunden.
Während bei Mercedes und Red Bull die Sorge umging, Silverstone könnte sich wiederholen, durften die Renault-Piloten bis zum Ende mit Volldampf weiterblasen. Das überrascht, weil Renault in dem schmalen Abstimmungsfenster für Spa seine Autos mehr Richtung Top-Speed getrimmt hatte. Und trotzdem streichelten die Renault ihre Reifen besser als die Konkurrenz. Das gleiche traf auf Alpha Tauri zu.
Dieser vermeintliche Widerspruch ist keiner. Mercedes und Red Bull setzten mehr auf Anpressdruck. Die höheren Kräfte auf die Reifen erhöhten den Verschleiß. Bei Mercedes war deshalb über weite Strecken Bummeltempo angesagt. Auch Verstappen musste sein Tempo reduzieren.
In den letzten acht Runden war die Lauffläche der Vorderreifen so weit runter, dass sich bei den Fahrern Vibrationen meldeten. Eine unmittelbare Gefahr bestand aber nicht. Anhand der Reifen.emperaturen lässt sich ganz gut die Gummiauflage berechnen.
Das Dilemma von Gasly
Am Ende entschieden sich nur zwei Fahrer für zwei Stopps. Alle aus der Verzweiflung heraus. Charles Leclerc, Nicholas Latifi und Kevin Magnussen fielen jeweils ans Ende des Feldes zurück. Deshalb zahlte es sich auch nicht aus, dass Pierre Gasly und Sergio Perez das Geschenk des freien Boxenstopps während der Safety-Car-Phase verzichteten. Hinter Hamilton, Bottas, Verstappen und Ricciardo blieb das Feld kompakt. Wer unter Renntempo stoppte, verlor viele Plätze.
Die Taktik von Racing Point bei Perez verstand kein Mensch. Es ist nicht das erste Mal, dass der WM-Neunte Punkte durch Strategiefehler verliert. Der Mexikaner war mit Soft-Reifen gestartet. Es war klar, dass die nach der Safety-Car-Phase nicht lange überleben würden.
Perez verlor auf der Strecke noch sieben Positionen bevor er stoppte und sein Rennen von ganz hinten neu begann. Die Aufholjagd kostete Reifen.ummi. Im Duell gegen Gasly hatte er keine Chance. Gasly hatte seinen Boxenstopp um acht Runden hinausgezögert und im Finale die frischeren Reifen.
Bei Gasly machte die Taktik des Wartens mehr Sinn. Für einen, der auf den harten Reifen gestartet war, kam der Boxenstopp in Runde 11 zu früh. Und er hätte im zweiten Stint Medium-Reifen wählen müssen, die über die lange Restdistanz ein Nachteil gewesen wären. Gasly gewann zwar vier Positionen dadurch dass er draußenblieb, doch die Zweikämpfe mit Fahrern, die auf frischen Reifen von hinten drängelten, kosteten den Franzosen viel Zeit.
Auch für Gasly begann das Rennen auf dem 16. Platz noch einmal neu. Es führte ihn immerhin noch bis auf Rang 8 nach vorne. "Ohne das Safety-Car zur falschen Zeit hätte ich Fünfter werden können", glaubt der Alpha-Tauri-Pilot.
Red Bull versuchte wenigstens mit Alexander Albon gegen den Strom zu schwimmen. Während alle anderen Teams auf harte Reifen für den zweiten Stint setzten, bekam Albon Medium-Gummis mit auf die Reise. Die gingen noch früher in die Knie als Verstappens harte Sohlen. Esteban Ocon verdrängte den Red Bull in der letzten Runde noch vom fünften Platz. Noch ein Umlauf, und auch Lando Norris wäre wohl vorbei gewesen.
Zum Schluss noch eine Frage: Gab es irgendeine Taktik, die Ferrari in die Punkteränge gebracht hätte? Klare Antwort: Nein. Ferrari war schlicht und ergreifend zu langsam. Deshalb war es auch egal, ob Charles Leclerc und Sebastian Vettel mit Plan A, B oder C ins Ziel fuhren.
Die Fahrer kamen auf den Geraden nicht vom Fleck, und sie konnten sich auch in den Kurven keine Luft nach hinten verschaffen. Das Mittelfeld, in dem die roten Autos normalerweise mitschwimmen, war im Ziel 19 Sekunden weit weg.