Darum hatte Gasly Glück im Pech

Ein Safety-Car, eine gesperrte Boxengasse und eine Strafe haben Lewis Hamilton aus der Bahn geworfen. Doch warum hat ausgerechnet Pierre Gasly profitiert, der vor dem Safety-Car seinen Boxenstopp abspulte? Unser Taktik-Check gibt die Antwort.
Auf so ein Ergebnis wäre wohl vor dem GP Italien niemand gekommen: Pierre Gasly, Carlos Sainz und Lance Stroll sind für sich genommen schon ein riskanter Tipp. Alle drei zusammen ist wie ein Sechser mit Zusatzzahl im Lotto. Beim finnischen Wettanbieter "Veikkaus" soll aber tatsächlich ein Zocker auf das verrückte Podium getippt haben. Aus 20 Cent Einsatz machte er 33.398 Euro.
Kein Mercedes, kein Red Bull, kein Ferrari. Das zeigt schon, dass dieser Grand Prix von Italien alle Gesetzmäßigkeiten der Formel 1 auf den Kopf gestellt hat. Dazu muss man sich nur die Story des Siegers anschauen. Beim Start eine Kollision mit Alexander Albon, nach der ersten Runde Zehnter, ein Boxenstopp eine Runde vor dem ersten Safety-Car, eine gesperrte Boxengasse, Dritter beim Re-Start und Spitzenreiter, nachdem Lewis Hamilton./span> seine Strafe absitzen musste.
Nachdem die ersten 18 Runden nach Schema F verliefen, ging dann zehn Runden lang alles drunter und drüber. Und genau in diesen zehn Runden wurde aus Pech Glück, aus einer unglücklichen Entscheidung der goldene Griff, aus einem Punktekandidat ein Sieger.
Pierre Gasly wäre nach seinem Boxenstopp in der 19. Runde schon froh gewesen, wenn er noch ein paar WM-Zähler abgestaubt hätte. Nur vier Runden später durfte er ganz vorsichtig von seinem ersten GP-Sieg träumen. Und obwohl klar war, dass Lewis Hamilton./span> nach seiner Strafe 30 Sekunden hinter den Spitzenreiter fallen würde, fürchtete Gasly den Mercedes-Piloten mehr als seine direkten Gegner Carlos Sainz und Lance Stroll. "Ich dachte, der Lewis fährt locker durchs Feld und schnupft uns alle noch auf." Hamilton kam aber nur bis zum siebten Platz.
In elf Sekunden von der Hölle in den Himmel
Doch warum wurde aus einem unglücklichen Boxenstopp-Timing der goldene Wurf? Gasly wechselte in der 19. Runde unter Renntempo von Soft-Reifen auf die harte Mischung. Gasly wurde nur deshalb so früh an die Boxen gerufen, weil Teamkollege Daniil Kvyat mit härteren Reifen auf ihn auflief. Um ein internes Duell auf der Strecke zu vermeiden, entschied sich der Kommandostand für die elegante Lösung per Reifenwechsel.
Alpha Tauri ahnte so wenig wie alle anderen auch, dass sich die Bergung des Haas von Kevin Magnussen ausgangs der Parabolica noch zu einem Safety-Car auswachsen würde. Doch weil die Lücke in den Leitplanken für den US-Ferrari zu schmal war und er Richtung Boxengasse weggeschoben werden musste, drückte FIA-Rennleiter Michael Masi die SC-Taste.
In dem Augenblick war das Rennen von Gasly praktisch gelaufen. Alle anderen würden einen Gratis-Boxenstopp bekommen, und er lag nur auf Platz 15. Gasly schmorte nur elf Sekunden lang in der Hölle. Dann wurde die Boxengasse gesperrt. Damit konnte Gasly seinen 24-Sekunden-Rückstand auf das Feld aufholen, ohne dass die anderen das Safety-Car für einen Reifenwechsel nutzen konnten.
Nur Lewis Hamilton./span> und Antonio Giovinazzi stolperten in die Falle und wurden bestraft. In Runde 22 öffnete Masi die Boxengasse wieder. Es kam wie erwartet zum Massenansturm auf die Box. Und Gasly sprang von Rang 14 auf Platz drei.
Da war schon klar, dass der Alpha Tauri-Pilot von nun an um den Sieg kämpfen würde. Hamilton würde nach seiner Strafe ans Ende der Schlange versetzt, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass der Weltmeister 30 Sekunden gutmacht und dabei noch 16 Autos überholt.
So hatte Gasly beim Re-Start eigentlich nur einen Gegner. Lance Stroll stand in der ersten Startreihe schräg vor ihm. Hinter Gasly gaben die beiden Alfa Romeo Rückendeckung. Gasly gewann den GP Italien beim zweiten Start. Jetzt auf frischen Medium-Reifen, die 27 Runden lang halten mussten.
Bis Antonio Giovinazzi für seine Strafe in die Boxen abgebogen war und Sainz in der 34. Runde an Kimi Räikkönen vorbeikam, hatte Gasly schon einen Vorsprung von 4,3 Sekunden herausgefahren. Davon zehrte er. Der spätere Sieger war zu Beginn des Stints fast ein bisschen zu aggressiv unterwegs, denn in den letzten fünf Runden gingen seine Reifen in die Knie.
"Ich bin zu Beginn des Stints bewusst hart gefahren, um meinen Verfolgern keinen Windschatten zu geben." Dafür bezahlte er im Finale. "Die Reifen waren total am Ende. Ich bin ein paar Mal in den Lesmo-Kurven und der Parabolica fast abgeflogen, aber ich wollte diesen Sieg unbedingt. Über einen zweiten Platz hätte ich mich nicht mehr freuen können."
Poker von Racing Point mit Stroll
Auch die beiden anderen Fahrer auf dem Podium kamen mit einem Mix aus Glück und Pech durch das verrückteste Rennen des Jahres. Carlos Sainz war vor und nach dem Chaos Zweiter. "Ohne die rote Flagge hätte ich gewonnen."
Den McLaren-Piloten kostete die Schließung der Boxengasse vier Positionen gegen Stroll, Gasly, Räikkönen und Giovinazzi. Sein Pech nach dem Neustart war, dass Giovinazzi sich drei Runden Zeit ließ, die Strafe abzusitzen, und dass Kimi Räikkönen auf seinen Soft-Reifen anfangs schnell unterwegs und unüberholbar war. Sainz musste sich fünf Runden lang hinter dem Alfa Romeo anstellen.
An den 4,3 Sekunden Rückstand auf Gasly knabberte er zwölf Runden lang. Erst in Runde 45 fiel der Abstand zu Gasly unter zwei Sekunden. Doch dann brauchte der Spanier bis zur vorletzten Runde, bis er endlich im DRS-Bereich des Spitzenreiters lag.
"Wir waren schnell auf den Geraden, aber schrecklich im Windschatten. Unser Auto verliert in den Turbulenzen mehr als andere", schimpfte der Madrilene. So konnte Sainz den Top-Speed-Vorteil von 7 km/h nie wirklich ausspielen. Zwei Angriffe in der letzten Runde wehrte Gasly lässig ab.
Lance Stroll ging es wie Gasly. Der Kanadier hing in der Anfangsphase als Achter mitten in einem Zug, der von Lando Norris aufgehalten wurde. Zu dem Zeitpunkt lag Stroll noch zwei Plätze vor Gasly. Dann landete Racing Point den ganz großen Coup, ohne zu ahnen, dass es einer werden würde. Man ließ Stroll mit seinen Soft-Reifen auch dann auf der Strecke, als die Boxengasse wieder aufgesperrt wurde. So sprang Stroll in einem Satz von Platz acht auf Rang zwei.
Offenbar spekulierte Racing Point auf eine weitere Neutralisation, gemäß der Rennsport-Weisheit, dass ein Safety-Car gerne mal weitere Safety-Car-Phasen provoziert. Der Trick hätte aber immer noch nicht funktioniert, wäre das Rennen nach dem Unfall von Charles Leclerc nicht abgebrochen wurden. Und das konnten die Strategen des Teams nicht wissen, noch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen einkalkulieren.
Stroll war der eigentliche Gewinner des Rennabbruchs, denn er durfte wie alle anderen auch in der Pause die Reifen wechseln. Ein größeres Geschenk kann man nicht bekommen. Lando Norris fand das unfair. Und viele andere auch. Sie glaubten sich daran zu erinnern, dass diese Regel nach Monte Carlo 2011 eigentlich geändert hätte werden sollen.
Damals wurde ein spannender Grand Prix kaputtgemacht, weil alle nach einem Abbruch neue Reifen aufziehen durften. Am meisten profitierte Sebastian Vettel, der auf total abgefahrenen Sohlen Fernando Alonso und Jenson Button im Genick hatte.
Die FIA sah aus einem Grund von einer Regeländerung ab: Rennabbrüche sind in der Regel die Folge eines schweren Unfalls mit der Gefahr, dass Trümmer auf der Strecke liegen. Dabei könnten sich theoretisch andere Fahrer die Reifen beschädigen. Man wollte sie nicht dem Risiko aussetzen, beim Re-Start mit einem möglicherweise angeschlagenen Reifensatz weiterzufahren.
Für Stroll bot der stehende Start die Chance seines Lebens. Der WM-Vierte gilt als einer der besten Starter im Feld. Doch diesmal versemmelte der Kanadier den Start, fiel auf Platz sechs zurück, ging einmal noch kurz an Sainz vorbei, wurde aber sofort wieder ausgekontert. "Ich hatte beim Start keinen Grip. Die Reifen haben nur durchgedreht", entschuldigte sich der spätere Dritte, gab aber auch zu: "Wir hatten Glück mit der roten Flagge."
Deshalb saß Hamilton sofort die Strafe ab
Mercedes ging leer aus, wenn man 17 Punkte so bezeichnen kann. Kein Mercedes-Fahrer auf dem Podium ist dennoch eine Notiz wert. Lewis Hamilton./span> hätte ohne die Strafe das Rennen haushoch gewonnen. Sein Pech war, dass er nur noch acht Sekunden von der Boxeneinfahrt entfernt war, als die Rennleitung entschied, die Boxengasse zu sperren.
Hamilton hätte die Warnung an den Leuchttafeln auf der Außenseite der Parabolica erkennen können, doch wer schaut da schon hin, wenn er innen den Scheitelpunkt anvisiert und gleichzeitig die Safety-Car-Deltazeit auf dem Display im Auge behalten muss?
Der Kommandostand hätte die Nachricht auf der Informationsseite der Rennleitung lesen können, war aber abgelenkt durch die Vorbereitung für den Boxenstopp. Nur ein Mitarbeiter des Mercedes-Teams hat es gemerkt, doch der saß 1.500 Kilometer entfernt in Brackley. Der Notruf aus der Mission Control in der Fabrik erreichte die Strategen zu spät.
Man kann jetzt diskutieren, ob es gerecht ist, für ein vergleichsweise harmloses Vergehen die Höchststrafe zu bekommen. "Ich finde, eine Stop and Go-Strafe sollte für Leute sein, die absichtlich oder fahrlässig andere in Gefahr bringen", maulte Hamilton. Man kann allerdings auch argumentieren, dass die Boxengasse aus Sicherheitsgründen geschlossen wurde. Es hätte dort ja auch eine echte Gefahrenstelle lauern können, nicht nur ein Haas, der am Streckenrand weggeschoben wird.
Egal, Hamilton hatte in diesem Augenblick das Rennen verloren. Mercedes holte ihn bewusst sofort nach dem Re-Start an die Box anstatt drei Runden zu warten, wie es die Regeln erlauben. "Lewis hätte so oder so freie Bahn vor sich gehabt, entweder vorne oder hinten im Feld", erklärten die Strategen.
"Wenn es aber noch ein Safety-Car gegeben hätte, und das Risiko ist hoch nach einem Re-Start, wäre das für uns der maximale Schaden gewesen. Kommen wir gleich an die Box, und es gibt dann ein Safety-Car, sind wir die Gewinner, weil Lewis dann gleich wieder zum Feld hätte aufschließen können."
So musste Hamilton 29,9 Sekunden auf Spitzenreiter Pierre Gasly und 18,4 Sekunden auf das Ende des Feldes aufholen. Die Strategie-Software prophezeite dem neuen Letzten noch einen fünften Platz. Es wurde aber nur Rang sieben daraus. Das hatte Gründe.
Überholen war in Monza noch nie einfach. DRS und Windschatten haben wegen der flachen Flügel weniger Wirkung als anderswo. Die Beschränkung auf einen Motor-Modus reduzierte den Leistungsüberschuss bei aktiviertem Überholknopf auf 163 PS aus der Elektroreserve.
Mercedes tat sich besonders schwer, weil die Autos mehr auf Abtrieb als auf absoluten Top-Speed getrimmt waren. Mit acht Überholmanövern war der Weltmeister trotzdem der Mann, der die meiste Action in das Rennen brachte. Hamilton hatte dennoch das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Besonders sein erstes Opfer Alexander Albon kostete ihn viel Zeit.
Immerhin ging es ihm besser als Valtteri Bottas, der in der Startrunde auf Rang sechs zurückgefallen war und sich davon nie mehr erholte. Der Finne überholte in den 53 Runden nur ein einziges Auto. Und das auch nur, weil Kimi Räikkönen auf Soft-Reifen mit dem Rücken zur Wand fuhr.
Das Alfa-Team musste dem Iceman die weichste Mischung mit auf die Reise geben, weil nichts anderes mehr da war. Bottas vermutete einen Schaden in seinem Mercedes. "Das Auto wollte in Rechtskurven nicht einlenken. Leider gibt es fast nur Rechtskurven in Monza. Ich konnte in Lesmo, Ascari und Parabolica nicht dicht genug aufschließen, um auf den Geraden danach anzugreifen."