Motor oder Heckflügel?
Lewis Hamilton hat trotz Disqualifikation und Motorstrafe in Sao Paulo gewonnen. Seine Trumpfkarte war das bessere Auto. Red Bull schiebt alles auf den überragenden Top-Speed des Mercedes und sucht nach Gründen. Ist es der neue Motor oder ein Heckflügel-Trick?
Der Freitag deutete es bereits an. Mercedes hatte für Interlagos das bessere Auto. Ein Vorsprung von 0,438 Sekunden in der Qualifikation ist eine Hausnummer. Doch dann gab es Ohrfeigen für Lewis Hamilton./span>. Eine Disqualifikation am Freitag verbannte ihn auf den letzten Startplatz im Sprint. Eine weitere Motorstrafe kostete im Hauptrennen weitere fünf Startplätze.
Trotzdem stand der Weltmeister am Ende ganz oben auf dem Siegerpodest. Mit 10,4 Sekunden Vorsprung auf Max Verstappen. Hamilton hatte in den Startrunden fünf und vier Positionen gutgemacht und überholte auf seinem Weg nach vorne im Sprint neun und im Rennen sechs Konkurrenten. Er flog teilweise an ihnen vorbei als würden sie parken. Was den Argwohn bei WM-Gegner Red Bull nur noch verstärkte.
Zuerst ein Blick auf die nackten Zahlen. Im Sprint flog Hamilton um 21,7 km/h schneller durch die Messstelle am Ende der Zielgerade. Im Hauptrennen betrug der Unterschied 15,2 km/h. Diese Überlegenheit spiegelt sich auch in den besten Sektorzeiten wieder. Im ersten Sektor und im dritten Sektor liegen die beiden Geraden der Strecke.
Beide Abschnitte gehen deutlich an Hamilton. Sektor 1 mit 18,281 zu 18,643 Sekunden, Sektor 3 mit 16,396 zu 16,744 Sekunden. Im kurvenreichen Mittelabschnitt gewinnt Verstappen in seiner schnellsten Runde nur eine Zehntelsekunde auf den Mercedes-Piloten.
Zu heiße Reifen im Mittelsektor
Red-Bull-Technikchef Adrian Newey erklärt den Vorsprung von Mercedes so: "Sie haben uns mit ihrem überragenden Top-Speed zu zwei Dingen gezwungen. Erstens sind wir mit etwas weniger Abtrieb gefahren als geplant. Zweitens mussten unsere Fahrer im Mittelabschnitt attackieren, um das wieder aufzuholen. Das hat uns die Reifen heiß gekocht."
Red Bull ist schon seit Monaten dem Rätsel auf der Spur, warum Mercedes auf den Geraden eine Macht ist. Es gab viele Theorien, aber keine führte zu einem klaren Ergebnis. Sportchef Helmut Marko schrieb einen Teil der Überlegenheit dem neuen Mercedes-Motor zu. "Er war viel schneller als die anderen Mercedes-Piloten. Da ist Mercedes ein Meisterwerk gelungen, so eine Rakete im entscheidenden Teil der Meisterschaft herbeizuzaubern."
Nach Meinung von Red Bull beträgt der Unterschied von alt zu neu rund 20 PS. Honda profitiere höchstens mit sechs bis acht PS bei einem neuen Triebwerk. Mercedes weist das zurück. Der Vorteil des frischen Motors betrage maximal eine Zehntelsekunde. Valtteri Bottas hat nach seinem Motorwechsel in den USA ebenfalls ein noch ein relativ frisches Aggregat im Auto.
Überhol-Geheimnis liegt in der Traktion
Das Überhol-Geheimnis von Hamilton liegt nach Ansicht der Mercedes-Ingenieure nicht nur an einem gesunden Top-Speed. "Wir hatten die bessere Traktion aus den Kurven 3 und 12. Das sind die Kurven vor den Geraden. Traktion ist in Interlagos eine Frage der Reifentemperatur hinten und wie du in die Kurven einlenken kannst. Unsere Vorderachse war sehr stabil. Und unsere Fahrer haben besonders in den schnellen Kurven 6 und 7 auf ihre Reifen aufgepasst. Da war Red Bull klar schneller. Doch in den zwei Kurven richtest du deine Reifen hin, wenn du zu aggressiv fährst. Und das bezahlst du später, wenn es drauf ankommt."
Eineinhalb Stunden vor dem Start des Hauptrennens waren Adrian Newey und Chefingenieur Paul Monaghan erneut mit zwei Kladden im Arm in das Büro von FIA-Technikdirektor Nikolas Tombazis gelaufen. Es ging wieder um das gleiche Thema wie am Freitag. Momentan will Red Bull nur eine Klarstellung.
"Wir warten ab, wie die FIA die Sache interpretiert", richtete Newey aus. Marko hält einem Protest für verfrüht: "Wir haben noch nicht genug Fakten, um dagegen vorzugehen. Das wäre das letzte Mittel." Mercedes sieht einem Protest gelassen entgegen. "Sie werden nichts finden", verspricht Teamchef Toto Wolff.
Der umgekehrte Red Bull Trick
Mercedes weiß, um was Red Bull da bei der FIA Beanstandet hat. "Sie machen etwas Ähnliches, was wir bis zum Rennen in Baku gemacht haben", hatte Teamchef Christian Horner angedeutet. Am Red Bull und einigen anderen Autos im Feld klappte der Heckflügel-Flap ab einer bestimmten Last nach hinten. Die FIA führte auf Betreiben von Mercedes ab dem GP Frankreich strengere Regeln für die Biegsamkeit von Heckflügelelementen ein. Das zwang sechs Teams dazu, ihre Flügel zu versteifen.
Bei Mercedes soll der Trick umgekehrt funktionieren. Im Visier ist das Hauptblatt des Flügels. Es verformt sich angeblich gezielt nach unten und öffnet so die Heckflügelspalte mehr als erlaubt. Von außen ist das praktisch nicht zu sehen, weil der Flap das untere Element verdeckt.
Man muss schon genau wissen, wo man hinschauen muss, um überhaupt etwas zu erkennen, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Wie zu hören war, hat ein ehemaliger Mercedes-Mitarbeiter geplaudert. Verstappen war in diese Theorie offensichtlich gut eingeweiht. Als er Hamiltons Heckflügel im Parc Fermé begutachtete, drückte er auf das untere, nicht das obere Element.
Der Verdacht von Red Bull und der DRS-Verstoß an Hamiltons Auto sind allerdings zwei unterschiedliche Fälle. Sie spielen sich nur zufällig im gleichen Bereich des Autos ab. Das was Red Bull moniert, ist ein absichtlich herbeigeführter Effekt. Das was Mercedes die Disqualifikation einbrachte, war ein Defekt. Es deutet alles darauf hin, dass sich zwei Schrauben gelockert hatten, die den Flap an der rechten Endplatte befestigen.