Hamilton besser ohne Stopp?
Der GP Türkei war ein Rennen, bei dem man sich hinterher fragte: Was wäre gewesen, wenn? Kamen Lewis Hamilton und Charles Leclerc zu spät an die Box oder die Red Bull-Piloten zu früh? Und warum hatte Valtteri Bottas keinen Gegner? Im Taktik-Check blicken wir auf die Zahlen.
Der Türkei-Grand-Prix war in der Theorie ein Nullstopp-Rennen. Doch nur Esteban Ocon brachte seinen Alpine mit einem Satz Reifen über 57 Runden, der bis auf die Karkasse durchgefahren war. Für Ocon lohnte sich der riskante Poker. Er holte den letzten WM-Punkt, den er sonst nie bekommen hätte. Pirelli übte hinterher Selbstkritik. "Wir hätten den Teams sagen sollen, dass es zu gefährlich ist durchzufahren", gab Sportdirektor Mario Isola zu.
Viele hatten noch das Rennen aus dem Vorjahr im Gedächtnis, als die Intermediates scheinbar eine Ewigkeit hielten und immer schneller wurden, je mehr sich das Profil abrubbelte. Der 2020er Sieger Lewis Hamilton./span> hatte schon in der achten Runde frische Intermediates abgeholt und mit seiner Durchhaltetaktik gewonnen. Doch vor einem Jahr war die Strecke um fünf Sekunden pro Runde langsamer. Die Reifen mussten viel weniger aushalten.
In diesem Jahr lagen die Boxenstopps weit verteilt. Daniel Ricciardo machte in der 21. Runde den Anfang. Lewis Hamilton./span> war mit Runde 50 das andere Extrem. Der eine Reifenwechsel kam zu früh, der andere zu spät. Die ideale Runde zum Stopp war im Rückblick ein Fenster zwischen den Runden 34 und 39.
Wenn man die Positionen vor den Boxenstopps und danach vergleicht, dann ist eigentlich gar nicht viel passiert. Sergio Perez, Carlos Sainz und Esteban Ocon machten eine Position gut, Charles Leclerc und Lance Stroll gaben eine ab. Valtteri Bottas, Max Verstappen, Lewis Hamilton./span>, Pierre Gasly und Lando Norris behielten ihre Plätze.
Durchfahren lohnte sich nur für Ocon
Doch darum geht es bei diesem Rennen gar nicht. Die interessante Frage lautet: Wo wären Hamilton und Leclerc gelandet, wenn sie früher gestoppt hätten? Oder wie Ocon bis zum Ende des Rennens durchgehalten hätten? Und wo wären Verstappen und Perez bei einem anderen Boxenstopp-Timing ins Ziel gekommen? Gab es überhaupt den perfekten Zeitpunkt zum Boxenstopp oder spielten die individuelle Position und der Zustand der Reifen die Hauptrolle?
Lewis Hamilton./span> und Charles Leclerc wollten wie Ocon bis zum bitteren Ende fahren. Der eine sah eine Chance auf einen Podiumsplatz, der andere auf den Sieg. Mercedes zog in der 50. Runde die Reißleine. Alle Daten sagten den Ingenieuren, dass Hamilton schon auf der Leinwand fuhr.
Ferrari ist der Meinung, dass Leclerc die Distanz geschafft hätte. Das Reifenbild am Sainz-Auto ließ das vermuten. Doch das kann trügerisch sein. Sainz kam schon in der 36. Runde an die Box. Da waren noch 22 Runden zu fahren.
Durchfahren hätte keinem der beiden geholfen. Die Reifen waren so am Ende, dass die Rundenzeiten sprungartig anstiegen. Hamilton wäre nach Berechnungen von Mercedes noch hinter Pierre Gasly und Lando Norris gefallen. Leclerc hätte es auf den 4. Platz schaffen können, den er am Ende auch mit Boxenstopp erreicht hat. Er hatte elf Runden vor Schluss 37 Sekunden Luft auf Gasly.
Der Monegasse ließ sich vom Rundenzeitenvergleich mit Bottas in die Irre führen. "Ich war mit meinen alten Reifen fünf, sechs Runden lang fast so schnell wie Valtteri mit frischen." Das bestätigte ihn in seinem Plan auf der Strecke zu bleiben. Was Leclerc nicht mit einrechnete: Da waren die Reifen von Bottas noch in der Phase des Körnens.
Hamilton zu aggressiv aus der Box
Wäre Hamilton, wie von seinem Kommandostand gewünscht, in der 41. Runde zu Reifenwechsel gekommen, wäre er zwar wieder hinter Sergio Perez gefallen und Ferrari hätte mit Leclerc vermutlich reagiert, was dem Titelverteidiger zunächst keinen Platzgewinn gebracht hätte. Doch dann hätte der Weltmeister die Chance gehabt, mit gleichen Waffen auf der Strecke gegen die beiden um Platz 3 zu kämpfen. Leclerc wäre bei einem früheren Boxenstopp vermutlich Dritter geworden. Er hatte in der 42. Runde 15,7 Sekunden Vorsprung auf Hamilton.
Die Hochrechnungen sind nicht ganz einfach, weil die Intermediates bei 18 Grad Asphalttemperatur und Nässe seltsame Eigenschaften an den Tag legten. Sie waren schnell aus der Box raus, brachen dann aber erst einmal für vier bis sieben Runden ein, bis genug Profil abgerubbelt war, um wieder flotte Rundenzeiten zu fahren. Die Länge des Körnens hing davon ab, wie aggressiv der Fahrer die erste Runde anging.
Ausgerechnet der Reifenflüsterer Hamilton machte mit einer OUT-Runde von 1.50,546 Minuten zu viel Krawall. Der Mercedes-Pilot kam in den restlichen acht Runden nie mehr auf Speed. Leclerc ließ es mit 1.54,102 Minuten in der Runde aus den Boxen raus wesentlich ruhiger angehen. So konnte der Ferrari.Pilot in den letzten fünf Runden noch einmal Tempo machen. Das brachte ihn noch auf 4,3 Sekunden an Perez heran.
Nachdem Hamilton und Leclerc den ersten Aufruf zum Boxenstopp ignorierten, machte es durchaus Sinn, sie danach so lange wie möglich auf der Strecke zu halten. Nicht nur in der Hoffnung bei einem Safety-Car einen Gratis-Boxenstopp zu bekommen.
"Wir hatten auch immer noch die Hoffnung, dass es vielleicht doch noch abtrocknet. Wenn wir am Ende Slicks aufziehen, gewinnen wir sogar", waren die Mercedes-Strategen überzeugt. Am Ende war Hamilton als Fünfter eine Position schlechter als die Simulationen des Teams. Die hatten einen 4. Platz vorhergesagt.
Tsunoda kostet Hamilton 12 Sekunden
Die Red-Bull-Piloten haben mit ihren Boxenstopps in den Runden 36 und 37 alles richtig gemacht. Sie zogen Bottas mit in die Box, den sie sowieso nicht schlagen konnten. Aber sie machten Hamilton und Leclerc Hoffnung, aus einer alternativen Strategie Profit zu schlagen. Dass schaffte ihnen die beiden vom Hals. Bei gleicher Taktik hätten ihnen beide noch gefährlich werden können.
Bottas musste sich bei sechs Sekunden Vorsprung über einen Undercut von Verstappen keine Sorgen machen. Die heiklen Intermediates verboten eine schnelle erste Runde. Damit war auch der Undercut wirkungslos. Trotzdem ging Red Bull mit Perez auf Nummer sicher. Er bog vor Hamilton in die Boxengasse ab.
Der Mexikaner hatte seine Arbeit bis dahin schon getan und Hamilton genügend lange aufgehalten. Das gelang auch Yuki Tsunoda zu Beginn der Rennens ganz gut. "Der hat Lewis zwölf Sekunden in der Rennzeit gekostet", bestätigten die Ingenieure.
Red Bull war für Mercedes weder bei trockener noch bei nasser Strecke ein Gegner. Man stolperte darüber, dass die Strecke fünf Sekunden schneller war als im Vorjahr. Mercedes reagierte viel treffsicherer mit seiner Fahrzeugabstimmung auf die neuen Eckdaten. "Die Strecke war eine völlig andere als letztes Jahr", bestätigte Hamilton. Red Bull schaffte die Balanceprobleme nie ganz aus der Welt. "Sogar Alpha Tauri hat die Abstimmung besser hingekriegt", ärgerte sich Sportdirektor Helmut Marko.
Im Rennen fiel auf, dass die Red Bull in den Sektoren 1 und 3 Zeit auf die Silberpfeile verloren, im Mittelsektor aber ständig um zwei bis vier Zehntel schneller waren. Das hatte jedoch nichts mit dem Abtriebsniveau oder besserem Top-Speed zu tun, wie die Mercedes-Ingenieure verraten: "Wir hatten früh den Plan durchzufahren. Um das möglich zu machen, müssen die Fahrer speziell in Kurve 8 auf ihre Reifen aufpassen. Valtteri hat das extrem gut gemacht. Die Red Bull-Fahrer dagegen haben ihren rechten Vorderreifen in dieser Kurve hingerichtet, weil sie dort voll gefahren sind. Wir waren nicht langsamer dort, sind nur absichtlich langsamer gefahren."
Mit Abtrieb in die Aufholjagd
Interessant war die Wahl der Fahrzeugabstimmung bei Mercedes und Ferrari. Ausgerechnet die beiden Fahrer, die von hinten nach vorne fahren mussten, wurden mit etwas mehr Anpressdruck ins Rennen geschickt als ihre Teamkollegen.
Ein Mercedes-Ingenieur erklärt warum. "Auf dieser Strecke ist für das Überholen nicht der Topspeed entscheidend, sondern wie du aus Kurve 9 kommst. Dazu ist es wichtig in Kurve 8 am Vordermann dranzubleiben und in Kurve 9 stabil auf der Bremse zu sein. Dafür brauchst du Abtrieb."
Obwohl es während des Rennens höchstens nur leicht nieselte, trocknete die Ideallinie nicht genügend ab. Sebastian Vettels Versuch mit Slicks ging gründlich in die Hose. Der Intermediate war wegen des niedrigeren Arbeitsbereiches das ganze Rennen über die bessere Wahl. Weil er leichter die gewünschte Temperatur erreichte. Das Wasser lief nie wirklich ab, weil der Asphalt im Istanbul Park extrem dicht ist. Das sorgte immer wieder dafür, dass die Reifen auskühlten.