Nach-Brenner
Bestechende Fahrleistungswerte, beeindruckende Fahr-Kompetenz – und süchtig machende Ausstrahlung nach Art des Hauses. Mit dem F355 katapultierte sich Ferrari aus bloßem Heldenstatus ganz nach vorn
Wer den sport auto-Supertest des Ferrari F355 aus dem Jahr 1997 studiert, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass da eine ganz heiße Rechnung aufgemacht wurde. Quasi die allerletzte Chance für die italienischen Diven, sich nicht nur als Objekte verklärter Verehrung, sondern als wahrlich respektable Sportwagen zu beweisen.
Zitat aus sport auto 6/1997: „Die Roten aus Maranello verlieren fast unmerklich den Anschluss an den Rest der Sportwagenwelt. Die Konkurrenz – vornehmlich Porsche-Fahrer – feiert wahre Schlachtfeste, sobald sich ein Ferrari auf die Rennstrecke verirrt und im Hinterherfahren geschult wird.“
Klare Ansage also. Und eine trotzige Kriegserklärung an die Ferrari-Szene, die auf „exklusiven Meetings und versteckten Sessions“ unter sich blieb, um sich gegenseitig in der „ unumstößlichen Auffassung bestätigen zu lassen, mit einem Ferrari das Schnellste, Beste und Hochkarätigste in den Händen zu halten, das die automobile Welt je hervorgebracht hat.“
Man kann also mit Sicherheit davon ausgehen, dass dem Ferrari F355 im Juni 1997 absolut nichts geschenkt wurde. Kein Legendenbonus für den heißblütigen Italiener, stattdessen die knallharte Supertest-Mühle. Allerdings hätte es noch wenige Monate zuvor auch äußerst schwierig sein können, überhaupt einen Ferrari-Testwagen für derart strapaziöse Zwecke wie den sportauto-Supertest zu bekommen. Die übliche Ausrede in solchen Situationen: Die Sportwagen mit dem springenden Pferd seien ja erwiesenermaßen die Krönung des Automobilbaus, ein banaler Test daher reine Messschreiber-Bürokratie und der Legende nicht würdig. Oder so ähnlich.
Mit dem Erscheinen des F355 konnte es sich Ferrari aber plötzlich leisten, die Qualitäten der neuen Fahrmaschine hieb- und stichfest überprüfen zu lassen. Denn der F355 bot gegenüber seinem Vorgänger 348 nicht nur einen spürbaren Technologie-Sprung (Fünfventil-Technik, elek- tronisch verstellbares Fahrwerk, optionales F1-Getriebe), sondern auch explosive Fahrleistungen, die den Mittelmotor-Zweisitzer vom „Einsteiger-Ferrari“ zum Jäger beförderten. Haarsträubende Beschleu- nigung und ein autoritäres Leistungsniveau machen aus dem F355 ein Über-Auto. Plötzlich war der kleine Ferrari ein ebenso spannendes Fahrzeug wie die großen Zwölfzylinder-Raketen.
Da der unmittelbare Biss des 380 PS starken 3,5-Liter-V8 nun endlich zum herrlich hochfrequent giftenden Motorsound passte, musste als Referenzauto gleich auch der werksgetunte Turbo-Hammer aus Zuffenhausen antreten, um dem roten Teufel Paroli bieten zu können: Nach nur 16,5 Sekunden feuerte der F355 über die 200-km/h-Marke, hart im Windschatten des übermächtigen Porsche 911 Turbo – und hätte wohl noch schneller gekonnt, wenn sich das manuelle Sechsganggetriebe im Test nicht etwas gegen allzu hastige Gangwechsel sperren würde.
Unter optischen Gesichtspunkten mag die stilvolle Schaltkulisse bezaubernd sein, beim Sturm auf neue Beschleunigungsrekorde kostet die klassische Technik aber Zehntelsekunden.
Mit einer Beschleunigung auf 100 km/h in nur 4,9 Sekunden und einer Höchstgeschwindigkeit von 295 km/h gehört der Ferrari F355 allerdings so oder so zu den Überfliegern. Besonders pulsbeschleunigend – und hier steckt auch der Zündstoff aller Legenden – ist aber die ungemein nervenkitzelnd-sinnliche Art, in der der F355 sein Kraftpotenzial entfaltet. 380 PS können ja beinahe nebensächlich herausgerotzt oder eben als großer Auftritt zelebriert werden.
Genau hier schlägt die Stunde des Ferrari: Der hoch drehende V8 murmelt, röchelt, trompetet und geifert sich über die Drehzahlleiter empor, klingt nie nach Einzelinstrument, sondern immer wie ein ganzes Orchester. Und er packt kompromisslos zu. Keine Gedenksekunden. Keine Turbo-Überlagerungen. Keine Faulheiten. Nur wunderbar direkte Kraft- entladung bei jeder Drehzahl. So hat ein Ferrari zu sein, und der F355 transportierte das Spektrum aus italienischer Glorie und zeitgemäßer Sportwagen-Radikalität mit inspirierender Konsequenz.
Aber auch das Fahrwerk des F355 konnte Maßstäbe setzen. Hart abgestimmt zielt das Setup genau auf sportlichen Einsatz, der Alltag kann zwar ertragen werden, stand aber nie oben auf der Liste. Im sport auto-Supertest führt das zu einem eindeutig positiven Urteil: „Der Ferrari liegt ruhig auf der Straße. Er lässt weder auffällige Seitenneigung in Kurven zu, noch offenbart er unruhiges Taumeln auf Fahrbahnen zweiter Ordnung. Auch bei Höchstgeschwindigkeit zeigt der Ferrari nicht die kleinste Unart, etwa in Form von unruhigem Geradeauslauf.“
Dieses Fazit kann umso mehr dem hervorragend abgestimmten Fahrwerk zugeschrieben werden, als dass der F355 trotz seines verkleideten Unterbodens und anderer aerodynamischer Hilfen bei 200 km/h bereits 42 kg Auftrieb an der Hinterachse produziert.
Viel Lob erntet das Auto auch in den Slalom-Disziplinen sowie bei den Auftritten am Hockenheimring und auf der Nürburgring-Nordschleife – hervorragende Stabilität, sehr hohe maximale Querbeschleunigung, direkte Antwort auf Lenkbefehle, vorbildliche Neutralität. Na ja, nicht immer ... „Auf nasser Fahrbahn erfordern die zackigen Reaktionen um die Hochachse eine schnelle Hand.“
Vielleicht ist das ja auch der Grund, weshalb die meisten Ferrari nur bei schönem Wetter bewegt werden?
Der FERRARI F355 im Supertest
„Der Ferrari F355 besitzt jede Menge Ausstrahlung – auch wenn man ihm nur von fern begegnet. Der Tester dieser faszinierenden Materie stellt jedoch mit Freude fest: Der Ferrari F355 ist auch sachlich betrachtet ein respektabler Supersportler. Die Zeiten des Hinterherfahrens sind vorbei.“