Emily Watson: Ohne Literatur leidet die Menschlichkeit

Kann ein Buch ein Leben retten? Diese Frage stellt der Film "Die Bücherdiebin". Emily Watson spielt darin die Rolle der Pflegemutter Rosa Hubermann. Im Interview spricht Watson über bewegende Momente während der Dreharbeiten.
"Die Bücherdiebin" ist die Geschichte eines Mädchens, das in den Wirren des Zweiten Weltkriegs seine Liebe zur Literatur entdeckt. Schauspielerin Emily Watson (47, "Breaking the Waves" ) verkörpert in der Verfilmung des Romans von Markus Zusak die Pflegemutter Rosa Hubermann. Im Interview mit spot on news spricht sie über ihre bewegende Rolle und warum sie niemals in Nepal einen Film drehen wird. "Die Bücherdiebin" erscheint am 12. September auf DVD und Blu-ray.
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Glauben Sie, dass Ihre Figur im Buch gemeiner dargestellt wird als im Film?
Emily Watson: Das kann sein, ja. Rosa ist ziemlich gemein zu ihrem Ehemann Hans. Sie ist der Meinung, er sei faul und zu nichts nütze. Trotzdem glaube ich, dass sie ihn wirklich liebt. Obwohl sie es niemals zugeben würde, schätzt sie seine Art.
Wie haben Sie sich auf diese Rolle vorbereitet?
Watson: Ich habe versucht, ihre verärgerte Einstellung zu übernehmen. Sie ist unzufrieden mit ihrem Leben und lebt nie im Jetzt. Sie belastet sich ständig mit irgendwelchen Dingen. Wenn man die ganze Zeit angespannt ist, passiert es eben, dass man zu anderen gemein ist und seine Kinder anschreit! Ich habe Rosa als ganz normale Frau gesehen. Zu dieser Zeit starben in ganz Europa junge Männer im Krieg und jeder in Deutschland musste unter dieser Unterdrückung leiden - es war einfach jeder damit beschäftigt, sich selbst durchzubringen. Rosas Erwartungen an das Leben wurden wohl einfach nicht erfüllt - sie wollte immer, dass die Dinge anders laufen.
Aber die Ankunft ihrer Pflegekinder Liesel und Max verändert ihre Anschauung?
Watson: Dieser Einschnitt in ihr Leben beginnt sie sofort zu verändern. Die Entscheidungen, die an einem kleinen Familientisch in einer kleinen Stadt getroffen wurden, waren die Bausteine des Nationalsozialismus. Wenn du dich damals dafür entschieden hast, deine eigene Haut, aber nicht die deines Nachbarn zu retten, dann bist du auf den Zug aufgesprungen. Hans und Rosa treffen eine andere Entscheidung. Als dieser arme jüdische Junge durch die Tür kommt, gibt sich Rosa als jemand zu erkennen, der seinen moralischen Kompass noch nicht verloren hat - was aber einem Großteil der Nation geschah. Dass sie eine dringende Aufgabe zu erledigen hat, beginnt sie zu verändern. Sie muss wegen der allgegenwärtigen Gefahr, die die Familie bedroht, immer in Alarmbereitschaft sein.
Sie haben zuerst das Drehbuch gelesen, dann das Buch. Haben Sie dadurch einen engeren Bezug zu Ihrer Rolle bekommen?
Watson: Das Buch beinhaltet viele Anekdoten, die sehr nützlich für mich waren. Es gibt diesen einen Moment, in dem Hans zu Liesel sagt, dass Rosa einmal sehr schön gewesen sei und bei ihrem ersten Treffen ganz sanft mit ihm gesprochen habe. Wenn man das weiß, versteht man, dass unter ihrer harten Schale etwas ist, dass Hans geliebt hat und immer noch liebt.
Was war das für ein Gefühl, im Schatten von Nazi-Symbolen zu drehen - wie zum Beispiel in der Szene am Bahnhof?
Watson: Ich habe diese Szene am Bahnhof in Görlitz, in der Hans abreist, als sehr schockierend empfunden. Wenn man im echten Leben unter diesen gut sechs Meter hohen Hakenkreuzen steht, ist das furchteinflößend. Und auch die Szene, in der die Gefangenen durch die Straße laufen, war sehr interessant. Währenddessen gab es nicht einen Darsteller ohne ein großes Maß an Anstand und Respekt. Es war eine sehr ruhige, bewegende und kraftvolle Szene.
Ist das einer der Erfolge des Films und des Buchs? Dass das jüngere Publikum an den Holocaust erinnert wird?
Watson: Auf jeden Fall. Die Zielgruppe des Films sind junge Leute. Die keine Liesel lernt im Film lesen und benutzt die Bücher, um zu überleben. Gewissermaßen ist das die Intention des Buchs: Wenn man den Menschen Literatur und Kunst entzieht, wird das zum Problem, denn daher stammt der Sinn für Menschlichkeit - aus den Geschichten, die einem erzählt werden, den Märchen und den Legenden. So bekommt man einen Sinn dafür, was es bedeutet ein guter Mensch zu sein. "Die Bücherdiebin" liefert eine interessante Interpretation der ganzen Sache.
Welche Projekte stehen demnächst bei Ihnen an?
Watson: Ich drehe einen Film, der den Titel "Everest" trägt - unter der Regie von Baltasar Kormakur. Es ist eine Geschichte über die Besteigung des Mount Everest, bei der eine Menge Dinge schief laufen. Ich spiele dabei die Managerin des Basis-Camps und das witzige ist, dass ich nur in Rom in den Studios gefilmt werde. Nepal ist bei mir nicht drin! Nach Nepal zu fahren hätte mir Spaß gemacht, aber es wäre schwierig gewesen, das mit meiner Familie und den Kindern zu vereinbaren.
Spielt die Tatsache, dass Sie eine Familie haben, bei der Auswahl Ihrer Filme eine wichtige Rolle?
Watson: Enorm! Eine Familie zu haben, ist sehr einschränkend. Meine erste Frage ist immer "Wo? Und wie lange?" - ist die Antwort "Vier Monate in China", sage ich nein. Drei Monate in Berlin, bei denen nur an zwei von drei Tagen gedreht wird, das ist möglich.
Wissen Ihre Kinder viel über den Zweiten Weltkrieg?
Watson: Ich glaube nicht, dass sie das in der Schule schon gemacht haben. Aber sie haben eine Menge von mir und meinem Mann gelernt. Sie wissen, wer Hitler war, dass er ein böser Mann war und versucht hat viele Menschen zu ermorden. Meine Kinder sind fünf und acht Jahre alt. Sie sind noch ein bisschen jung, um alles genau zu wissen.