Die Technik des neuen Porsche 911 RSR (2017)
Porsche hat den Renn-Elfer neu erfunden: Der Motor wanderte in die Mitte, was Gewichtsverteilung, Reifennutzung und Abtrieb verbessert. Bemerkenswert: Porsche bleibt im GT-Rennsport dem Sauger treu.
„Da fehlt ja nicht mehr allzu viel zum GT1-Auto von 1996.“ Joest-Teamchef Ralf Jüttner nimmt einen kräftigen Zug an seiner Zigarette, wirft noch einen prüfenden Blick auf die Heckpartie des neuen Porsche 911 RSR für die GT-LM-Klasse, grinst und fügt eine punktgenaue Ergänzung hinzu: „Außer dem Turbomotor natürlich.“
Neuer Porsche 911 RSR soll wieder ein Siegertyp sein
Jüttner weiß genau, wovon er redet: Das Joest-Team siegte 1996 in Le Mans mit dem TWR- Porsche WSC-95, das Porsche-Werksteam belegte Platz zwei und drei beim Debüt seines nagelneuen 911-GT1-Auto für die GT-Weltmeisterschaft. Der damalige GT1 sah aus wie ein platt geklopfter Elfer, in Wahrheit bestand er hinter der originalen 911-Vorderpartie aus Elementen des legendären Gruppe-C-Porsche 962 – inklusive einer Mittelmotor-Einbaulage Biturbo-Technik.
Der neue Porsche 911 RSR für die GT-Le-Mans-Klasse ist in Bezug auf seine spektakuläre Optik und seine Mittelmotor-Bauweise in der Tat ein enger geistiger Verwandter des GT1-Autos von 1996. Porsche karrte den Newcomer fürs Saisonfinale der Sportwagen-WM extra nach Bahrain, dort durfte die Konkurrenz erstmals einen Blick auf die radikale Neuentwicklung werfen. Unter den Augenzeugen war auch Joest-Teamchef Jüttner, der nach längerer Betrachtung noch sagte: „ Wenn er so schnell ist, wie er aussieht, dann Gnade den Gegnern.“
So etwas hört Marco Ujhasi gerne. Der Bayer ist bei Porsche Motorsport für die Werkseinsätze im GT-Rennsport verantwortlich, der neue Porsche 911 RSR ist sein Baby – und nach Gnade steht ihm nicht der Sinn. Nach einem flauen letzten Einsatzjahr des aktuellen 911 RSR muss in der nächsten Saison nun der große Turnaround geschafft werden – vom Hinterherzuckler zum Siegertypen.
Kein Turbo – 911 RSR bleibt beim 4,0-Liter-Boxer-Saugmotor
Jüttner hatte die größten Zielkonflikte in zwei Sätzen angeschnitten: Mittelmotor und Turbotechnik. Porsche hat für 2017 eine mittelmotorähnliche Einbaulage umgesetzt, auf die Turbotechnik aber verzichtet, obwohl alle neuen GT-LM-Modelle der Gegner genau auf die Kombination dieser beiden Kernelemente setzten – siehe Ferrari und Ford.
„Produktpolitisch war die Ausgangslage völlig klar“, so Ujhasi, „ der 911 ist die Ikone und das Rückgrat von Porsche, damit schied ein anderes Auto als Basis für den GT-Sport aus.“ Fakt ist aber auch, dass die Heckmotorbauweise in der aktuellen Gefechtssituation nicht mehr das Nonplusultra sein konnte, Stichwort Reifennutzung. „ Im Rennsport geht es um Speed und besonders um die Konstanz von Rundenzeiten. Das ist ein spezielles Anforderungsprofil – und deswegen benötigten wir beim neuen RSR ein spezielles Konzept.“
Ujhasi verweist darauf, dass die neue Motoreinbaulage nichts weiter sei als eine Skalierung für eine spezielle Anwendung. „Auf der Straße haben wir beim Elfer ja auch mehrere Varianten, mit Heckantrieb und Allradantrieb oder Sauger und Turbotechnik. Im Rennsport benötigen wir auch eine spezielle Adaption, um den Performance-Ansprüchen gerecht zu werden.“ Das technische Reglement der GT-LM-Klasse bietet mittlerweile diese Freiheit: Ein Hersteller darf die Orientierung und die Position des Antriebs frei wählen – eine technische Sondergenehmigung (Waiver) ist für so einen Kraftakt heute nicht mehr nötig.
Boxermotor vor der Hinterachse
Im Prinzip hat Porsche die aus dem Elfer bekannte Anordnung umgedreht: Der Boxermotor sitzt nun vor der Hinterachse, das Getriebe wanderte nach achtern, der Radstand wurde um 60 mm gestreckt. Doch das ist nur eine ungefähre Beschreibung der Komplexität, „denn das Getriebe musste ja so positioniert werden, dass man mit den Gelenkwellen dahin kommt, wo man hinmuss – also zu den Rädern“, wie Ujhasi augenzwinkernd erklärt.
Beim Umbau bediente sich die Rennabteilung aus vorhandenen Mittelmotor-Baukästen (Cayman und 918), „dadurch war der Aufwand erfreulich gering“, erläutert Ujhasi. Die Vorteile der neuen Einbaulage liegen auf der Hand: Erstens wird die Gewichtsverteilung verbessert, was der Reifennutzung hilft, und zweitens profitiert die Aerodynamik, weil nun endlich Platz war, um einen größeren Heckdiffusor zu integrieren – Porsche hat damit zwei Probleme auf einen Streich gelöst.
Vor allem das Aero-Argument sollte in seiner Wucht nicht unterschätzt werden: „So wie sich der Wettbewerb entwickelt hat, kommt dem Thema effizienter Abtrieb im GT-Sport eine entscheidende Bedeutung zu“, erklärt Ujhasi, „und hier waren uns beim Heckmotor bisher die Hände gebunden.“ Weil das hinten sitzende Getriebe natürlich viel flacher baut als der Motor, konnte der Heckdiffusor breiter und vor allem deutlich höher ausfallen.
Das Heck zaubert Abtrieb vorne
Abtrieb durch die Unterströmung am Fahrzeugboden ist effizienter als der Abtrieb durch Überströmung. „Im Optimalfall braucht man aber beides, die Unterströmung ist besonders im dichten Verkehrsgetümmel weniger stabil als die Überströmung. Und der GT-Ford hat beides – deshalb ist er so gut“, sagt Ujhasi.
Natürlich generiert der Heckdiffusor Abtrieb hinten, noch wichtiger ist aber seine Gesamtfunktion: „Der Heckdiffusor ist die Voraussetzung dafür, dass man den Vorderachsabtrieb zustande bringt, denn vorne ist man wegen der Form der Autos stärker limitiert. Im Prinzip saugt der Heckdiffusor die Luft ab, so entsteht vorne der notwendige Unterdruck.“ Um die Interaktion zwischen Diffusor und Heckflügel zu optimieren, wanderte die Halterung auf die Oberseite des Heckflügelblattes, um so Störkonturen zu eliminieren und einen größeren Verstellbereich zu ermöglichen.
Der zweite Aspekt der neuen Motoreinbaulage ist die Gewichtsverteilung. Porsche rückt zwar keine Zahlen heraus, aber Ingenieure der Konkurrenz schätzen, dass Porsche die prozentuale Vorderachslast beim neuen 911 RSR in einen Bereich von über 45 Prozent verschoben haben dürfte – damit sind jetzt die Karten beim Reifenverschleiß komplett neu gemischt.
Bisher 35.000 Testkilometer für neuen 911 RSR
Marco Ujhasi gibt zu: „Beim Set-up und bei der Reifennutzung haben wir eine neue Welt betreten. Wir können alle Erfahrungswerte aus der Vergangenheit wegwerfen und fangen wieder bei null an – aber das ist eine gute Nachricht!“ Nun muss man wissen, dass 2017 das Reifenkontingent für die GT-Autos in der Sportwagen-WM weiter reduziert wird, was bedeutet, dass man in den Rennen nahezu durchweg Doppelstints fahren muss – und das im Optimalfall mit einer möglichst linearen Rundenzeitenentwicklung.
„Bei den bisherigen Tests über 35.000 Kilometer waren wir positiv überrascht, wie nahe unsere Simulationen an der Realität lagen – das war auf Anhieb sehr gut“, erläutert Ujhasi. „Die neue Gewichtsverteilung schafft viele neue Möglichkeiten, und wir sind zuversichtlich, dass wir die richtigen Schlüsse gezogen haben, auch weil das Auto logisch auf Set-up-Veränderungen reagiert.“ Süffisante Nachbemerkung: „Ja, wir können jetzt verstehen, warum andere Hersteller bisher nicht verstanden haben, was für uns früher so schwierig war.“
Die Vorzüge der Motoreinbaulage wurden also erfolgreich ausgeschöpft, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Doch die dritte Fliege im Elfer-Gesurre ließ man am Leben – den Saugmotor, obwohl hier ein Trendwechsel in Richtung Turbotechnik offensichtlich ist. Warum? Ujhasi nennt drei Gründe: „Ein Rennauto ist ein Gesamtkunstwerk, bei jeder Einzelentscheidung muss man mit Blickrichtung auf das Fahrzeugkonzept die Parameter priorisieren. Und da wäre die Turbo-Lösung ein Gewichtsnachteil gewesen, der große Stücke vom Vorteil der neuen Motorpositionierung wieder aufgefressen hätte.“
Die Rechnung für das Argument ist komplex: Abhängig vom Basismotor kostet eine Turboumrüstung zwischen 15 und 40 Kilo. „ Unser Saugmotor ist sehr leicht, und deshalb hätten wir mehr Gewicht investieren müssen, um hier ein Aufladungskonzept umzusetzen.“ Dazu spielen Randfaktoren wie der Platz- und Kühlbedarf eine Rolle. Zweitens lag der Sportabteilung die Erhaltung der Produktidentität am Herzen – denn schließlich verfügt ja der Top-Sport-Elfer (911 GT3) für die Straße auch über einen hochdrehenden Saugmotor.
Zwei Konzepte in einer Klasse
Hinter dem dritten Argument steckt ein gewisses Risiko: Das Ansinnen der GT-Regelmacher besteht ja darin, Turbos und Sauger fair gegeneinander zu balancen – doch genau das ist 2016 in der Sportwagen-WM gründlich misslungen, um es vornehm zu sagen. Trotzdem ist Ujhasi für 2017 zuversichtlich: „Die Regelgeber haben im ersten Jahr mit den neuen Turbomotoren viel gelernt, die richtigen Schlüsse gezogen und Verbesserungen für 2017 umgesetzt, wie zum Beispiel eine zusätzliche Kontrolle der Ladelufttemperaturen.“
Theoretisch soll die Leistungskurve eines Saugmotors mit einem Referenzhubraum von 4,5 Litern die Grundlage für die drehzahlabhängige Ladedruckeinstufung der Turbos bilden. Die von Porsche geforderte Einführung eines Torque-Meters zur Bestimmung der realen Drehmomentwerte wird allerdings für die Saison 2017 nicht umgesetzt – was als ein Nachteil gewertet werden muss.
Marco Ujhasi bleibt positiv, was das Thema BOP und Parität von Saugern und Turbos betrifft:„“Da besteht prinzipiell ein Risiko, aber man hat in der Saison 2016 mit Ferrari und Ford viel gelernt, was das Monitoring angeht. Die Definition von Referenzkurven ist das eine, die Überprüfung der Einhaltung das andere. Die theoretische Idee ist da, man hat erkannt, welche Lücken beim Monitoring unter Realbedingungen vorhanden sind. Wenn man diese Lücken schließt, können wir 2017 einen guten Wettbewerb haben.„
4,0-Liter-Boxermotor um Direkteinspritzung ergänzt
Am Ende kann niemand ein Interesse daran haben, dass die Motorenproblematik eine Zweiklassengesellschaft im GT-Sport heraufbeschwört: “Wir glauben daran, dass es möglich ist, Turbos und Sauger gegeneinander zu balancen. In der Theorie wäre der Motor vom Reglement damit teilweise neutralisiert. Und deshalb haben wir entschieden, die Gesamtfahrzeugvorteile des Saugmotors wie sein geringeres Gewicht, die bessere Balance und den Benefit bei der Aerodynamik zu nutzen.„
Der frei saugende Vierliter-Boxermotor (Basis 911 GT3) wurde übrigens um eine Direkteinspritzung ergänzt. Seinen Saft bezieht er weiterhin von einem im Vorderwagen installierten Tank. Bei reinrassigen Mittelmotorautos ist der Tank im Fahrzeugzentrum, also zwischen Fahrer und Motor, installiert, was die negativen Effekte des Füllstands eliminiert. Ein Nachteil für Porsche? “Damit ist eine Balanceverschiebung zwischen vollem und leerem Füllstand da, die ist auch weiter relativ massiv„, gibt Ujhasi zu. “Und sie fällt sogar noch einen Tick größer aus als früher, weil der Tank noch mehr auf der Vorderachse liegt – aber damit müssen wir leben.„
Getriebe mit Magnesiumgehäuse
Wer den neuen RSR ausschließlich auf seine Motoreinbaulage reduziert, liegt jedoch daneben: Das neue Aushängeschild im GT-Sport wurde auch in vielen anderen Aspekten grundlegend optimiert, beispielsweise beim Thema Sicherheit. Die Fahrerposition wanderte um 50 mm in Richtung Fahrzeugmitte, was den Überlebensraum bei einem Seitenaufprall deutlich vergrößert. “Hier haben wir viel aus einem Unfall von Richard Lietz auf dem Virginia Raceway im August 2014 gelernt„, so Marco Ujhasi. Porsche hat daraufhin ein neues Lastenheft erstellt – und nun umgesetzt.
“Der Unfall hatte viele Berechnungen zur Folge, daraus haben wir Konsequenzen gezogen: Die Fahrzeugstruktur muss viel Energie aufnehmen, bevor es zur finalen Blockbildung kommt, was zur Folge hatte, dass wir den Überlebensraum für den Fahrer vergrößert haben. Dabei ist es wichtig, dass der Energieeintrag in den Fahrer gering ausfällt, und das geht nur mit viel Deformationsweg. Am Ende dieser Verformungsphase muss ein absoluter Schutz durch den Überlebensraum erfolgen.„ Dazu wurde der Sitz nun fest mit dem Fahrzeug verschraubt, die individuelle Anpassung für den Fahrer erfolgt über eine verstellbare Pedalerie sowie eine Lenkradverstellung.
“Der Fahrer sitzt jetzt immer an derselben Position, was auch wegen der obligatorischen Bergeluke im Dach wichtig ist„, so Ujhasi. Porsche profitierte beim neuen Sicherheitskonzept auch von der optimalen Ausgangslage beim Straßen-Elfer: “Die guten Strukturen vom Serienauto haben uns natürlich geholfen, der Schweller ist zum Beispiel schon serienmäßig sehr massiv und sicher„ , betont Ujhasi.
“Wir erfüllen theoretisch die FIA-Anforderungen sogar ohne Käfig, die Sicherheitszelle ist nur eine Zusatzeinrichtung, da sind jetzt viele Reserven drin. Die Stahlholme in der A-Säule sind zum Beispiel so stark, dass wir den Drücktest auf den oberen Käfigpunkt am Dach auch ohne Käfig bestehen würden!„
Das Sechsgang-Renngetriebe wurde beim RSR neu aufgesetzt: “Das ist eine komplette Neuentwicklung. Das oberste Ziel war hier nicht Performance, sondern Haltbarkeit. Man gewinnt wegen des Getriebes keine Rennen – kann deswegen aber sehr wohl Rennen verlieren!„ Porsche verwendet bei der Schaltbox keine pneumatischen oder hydraulischen Lösungen mehr: “Wir fahren als einziger GT-Hersteller mit einer Schaltwalze, also mit einem elektromechanischen System, das ist unser Highlight beim Getriebe-Layout. Damit sinken die Schaltzeiten, außerdem erfolgt das Einlegen der Gänge deutlich sanfter als früher, was auch die Störeinflüsse aus dem Getriebe heraus reduziert. Das Entwicklungsziel bestand darin, das Gewicht zu halten – deswegen verwenden wir ein Magnesiumgehäuse –, die Laufzeit und Robustheit aber zu erhöhen.„
Gewichtsersparnis durch Fahrwerksänderungen
Beim Fahrwerk des 911 RSR verwendet Porsche nun auch an der Hinterachse ein Doppelquerlenker-System, also keine Multi-Link-Achse mehr. “Damit konnten wir die Einstellbarkeit und Servicefreundlichkeit verbessern, was die Track-Time in den Trainingssitzungen erhöht„, erklärt Ujhasi. Dazu wurden die Stahlschweiß-Radträger durch Alufrästeile ersetzt. “In Summe haben wir aus dem Fahrwerk am meisten Gewicht herausgeholt.„
Der neue Porsche 911 RSR bietet also viele große und kleine Revolutionen – ähnlich wie der 911 GT1 aus dem Jahr 1996. Ob Porsche die Rennsport-Innovationen in Zukunft auch den Straßenkunden in Form eines Sondermodells anbieten wird, ist noch nicht entschieden – aber, so hört man, sehr wahrscheinlich. Das würde ja passen, denn anno 1996 gab es auch einen 911 GT1 für die Straße.