Racing Point verliert keine Token
Es gibt viele neue Regeln in der Formel 1. Da verliert man schnell einmal den Überblick. Wir haben uns mit FIA-Technikchef Nikolas Tombazis über die Beschränkung auf einen Motor-Modus, die Copyright-Maßnahmen und die umstrittene Token-Regelung für Racing Point unterhalten.
FIA-Technikchef Nikolas Tombazis und seine Mannschaft sind nicht zu beneiden. Sie ersticken in Arbeit. Nach dem Tod von Charlie Whiting im März 2019 mussten die Verantwortlichkeiten neu aufgeteilt, das für 2021 geplante und mittlerweile auf 2022 verschobene neue Technik-Reglement geschrieben, Verdachtsmomenten wie den Motor-Tricksereien von Ferrari nachgegangen, Regeln als Reaktion auf die Corona-Krise umgeschrieben, der Protest von Renault gegen Racing Point behandelt und die Regeln zum Schutz von Kopien und zur besseren Überwachung der Motoren angepasst werden.
Eine immer komplexere Technik zwingt die FIA dazu, Schlupflöcher zu schließen, Grauzonen zu verbannen, Trickser aufzuspüren und Beteiligten und Fans das Gefühl zu geben, dass alles fair und im Rahmen des Reglements abläuft. Dass man nicht immer dazu in der Lage ist, sieht der FIA-Technikchef Nikolas Tombazis nicht unbedingt als Kapitulation: "Wenn sich unsere Aufgabe darauf beschränken würde, nur die Länge und Breite des Autos zu überprüfen, wäre mein Job zwar sehr viel einfacher, aber ich würde ihn nicht mehr so gerne mögen. Mit der Komplexität kommt auch die Herausforderung."
Bei der Vielzahl der Regeln, die allein seit Ausbruch der Corona-Krise neu geschrieben oder modifiziert wurden, ist es für den Fan schwierig, den Überblick zu behalten. Wir haben deshalb bei Nikolas Tombazis nachgefragt, um uns in in einigen Bereichen Durchblick zu verschaffen.
Hardware legal, Betrieb illegal
Eines der emotionalsten Themen der letzten Wochen war die Beschränkung der Motoreinstellungen auf einen Power-Modus von der Qualifikation bis zum Rennende. Verschiedene Teams hatten den Schritt schon länger gefordert, in der Hoffnung damit Mercedes einzubremsen, nur um jetzt feststellen zu müssen, dass sich wenig bis gar nichts geändert hat. Die FIA hat den Schritt schließlich vollzogen, um sich selbst zu schützen. Es war bei der Vielzahl der vorher eingesetzten Einstellungen fast unmöglich geworden, den regelkonformen Betrieb der Antriebseinheiten zu jeder Zeit zu garantieren.
Tombazis erklärt, mit welchen Problemen die FIA-Prüfer zu kämpfen haben. "Es ist leider nicht mehr so simpel, wie zu Zeiten der V8-Motoren. Damals musste nur sichergestellt sein, dass die Maximaldrehzahl eingehalten wird, die Abmessungen des Motors stimmen oder die Kraftstoffspezifikation den Regeln entsprach. Das Problem mit den aktuellen Antriebseinheiten ist, dass die Hardware zwar völlig legal sein kann, es aber trotzdem möglich ist, sie illegal zu betreiben."
"Dazu müssen wir im Fahrbetrieb laufend unzählige Parameter über die Software, Signale und Sensormeldungen überwachen. Wenn ein Fahrer jede Runde die Motoreinstellungen ändert, wird es schwierig den Betrieb des Motors regelmäßig jede Runde exakt auf die Einhaltung der Regeln zu überprüfen. Vor allem in speziellen Momenten eines Rennens, zum Beispiel der Runde vor einem Boxenstopp oder danach, oder beim Überholen."
Der 52-jährige gebürtige Grieche nennt ein Beispiel. "Wir haben den Ölverbrauch auf 0,3 Liter pro 100 Kilometer beschränkt, um zu verhindern, dass Öl im Verbrennungsprozess eingesetzt wird. Diesen Verbrauch messen wir aber nicht über die gesamte Distanz, sondern nach jeder Runde. Es ist verboten ihn kurzfristig zu überschreiten und sich das dann später wieder einzusparen. Wenn jetzt zwischen unterschiedlichen Motoreinstellungen hin- und her geschaltet wird, ist es extrem schwierig, den Ölverbrauch zu jeder Zeit nachzuvollziehen. Das war einer der Gründe, warum wir diese Technische Direktive herausgegeben haben."
Überholen nicht viel schwieriger
Schon im Vorfeld hatten die FIA-Prüfer aufwändige Untersuchungen der ERS-Systeme von Ferrari, Honda, Mercedes und Renault durchgeführt. Scheinbar aus heiterem Himmel. Tombazis erklärt, wie es zu solchen Razzien kommt: "Wir führen regelmäßig Überprüfungen aller Art durch, und wir würden das gerne noch häufiger tun. Diese Autos sind sehr komplex. Leider haben wir nicht die Zeit immer jedes einzelne System zu überprüfen."
"Oft kommen Teams zu uns und fragen nach, ob dies oder das erlaubt ist. Oder sie warnen uns, dass man durch eine bestimmte Maßnahme die Regeln austricksen könnte. Sie sagen dann zu uns: Wir tun es nicht, aber andere könnten es tun. Wir schauen uns das an, und wenn wir der Meinung sind, dass da eine Möglichkeit besteht, foul zu spielen, dann führen wir eine entsprechende Untersuchung durch. Manchmal ist es wie gesagt aufgrund eines spezifischen Verdachts, manchmal weil wir der Meinung sind, dass da tatsächlich Potenzial besteht, die Regeln auszutricksen."
Die Kritik einiger Fahrer, dass die neue Motor-Regel das Überholen erschwert, kann der 2018 von der FIA angeheuerte Ingenieur nur zum Teil nachvollziehen. "Das Überholen kann schon ein bisschen schwieriger werden als vorher, weil die Fahrer nicht mehr die volle Überschuss-Power wie früher haben. Sie können aber immer noch die volle elektrische Leistung abrufen. Wir haben bei unseren Gedankenspielen zum 2022er Reglement auch viel über das Überholen nachgedacht. Eine Idee war, dem Fahrer kurzfristig mehr Leistung zu geben. Doch wenn man sich dabei allein auf die Motorleistung stützt, bräuchte man ein sehr großes Delta. Das, was die Fahrer jetzt durch die Beschränkung auf einen Motor-Modus verlieren, ist vergleichsweise gering."
Neue Motorregeln ab 2026
Die theoretischen Möglichkeiten das Motorreglement auszutricksen, sind teilweise hausgemacht. Würde man die Beschränkung der Durchflussmenge und die Restriktionen bei der Abgabe der elektrischen Energie vergessen und sich auf eine maximale Spritmenge für das Rennen und feste Größen und Gewichte für Batterien beschränken, wären die Motoren immer noch effizient, und die FIA müsste nicht jede Sekunde messen, ob alle Parameter eingehalten werden.
Tombazis kann sich mit dieser Idee unter Einschränkungen anfreunden: "Es gibt solche Überlegungen. Wenn wir so etwas machen sollten, dann würden wir aber die Spritmenge nicht auf eine Renndistanz, sondern auf eine Runde beschränken. Wir können nicht Monte Carlo wie Spa behandeln."
Dieser Ansatz würde der Sportbehörde das Leben wesentlich erleichtern. Das Problem ist, dass eine solche Regelung für die aktuellen Motoren nicht anwendbar ist. Die wurden nach Regeln gebaut, die 2012 geschrieben wurden. "Eine solche Reform käme einer kompletten Regeländerung gleich, bei der jeder neue Motoren bauen müsste. Wir denken aber jetzt schon über die Motorregeln ab 2026 nach, wo wir einen weiteren großen Schritt hin zu grüner Technologie und Nachhaltigkeit machen wollen. Wir wollen mit dem neuen Reglement auch den Überwachungsprozess vereinfachen und uns das Leben leichter machen."
Motorenhersteller sparen 25 Millionen
Die FIA hat in der Corona-Krise viele Sparmaßnahmen eingeleitet. Zum Beispiel limitierte Prüfstandstunden und Entwicklung für die Motoren. Einfacher wäre es allerdings, den Motorenhersteller einen Kostendeckel aufzuzwingen. Damit liebäugelt auch der Weltverband. Es ist aber nicht so einfach, wie es sich anhört, wirft Tombazis ein.
"Das hätten wir gerne und dazu wird es am Ende vielleicht auch kommen. Der Grund, warum es noch nicht passiert ist, liegt darin, dass es bei Motorherstellern schwieriger einzuführen ist als bei den Teams. Das hat mit anderen Aktivitäten der Hersteller zu tun und auch mit unterschiedlichen Gesetzesvorgaben in den einzelnen Ländern. Es ist schwierig, da eine klare Trennung vorzunehmen, was mit der Formel 1 zu tun hat und was nicht."
FIA-Präsident Jean Todt hält die Formel 1 immer noch für viel zu teuer. Dabei hat der Verband mit den im Mai beschlossenen Maßnahmen Motorherstellern und Teams schon ordentlich Geld gespart. Sein Technik-Experte zählt auf: "Wir gehen beim Motor von 25 Millionen Euro Ersparnis pro Jahr aus. Das wird von Hersteller zu Hersteller schwanken. Es ist viel Geld, aber noch nicht so viel, wie wir es gerne hätten."
Auch bei den Teams muss man differenzieren zwischen denen, die über dem Budgetdeckel liegen und denen, die ihn noch nicht einmal erreichen. "Den großen Teams sparen wir mit dem Budgetdeckel wahrscheinlich über 100 Millionen", glaubt Tombazis. "Die kleineren Teams sparen nächstes Jahr durch die Homologation vieler Teile. Ich schätze mal so um die 20 Millionen. Sie sparen aber auch indirekt durch die Budgetdeckelung. Weil sie in Zukunft eine bessere Chance haben gute Ergebnisse zu erzielen. Und damit können sie ihre Einnahmen erhöhen."
Der Sturm im Wasserglas./strong>
Nikolas Tombazis kennt die Formel 1 auch von der anderen Seite. Er war früher Ingenieur in leitender Stellung bei Benetton, McLaren und Ferrari. Deshalb weiß er auch ganz genau, was die Teams unternehmen, um Ideen der Konkurrenz zu kopieren. Der Fall Racing Point wird ihn in einigen Punkten auch an seine eigene Vergangenheit erinnert haben.
Alle Technikbüros haben Tausende von Fotos der anderen Autos auf ihrem Tisch liegen, und je besser die Technologien zum Scannen und Reproduzieren werden, desto einfacher ist es, bestimmte Details fast original nachzubauen. Racing Point überspannte den Bogen, weil man gleich den ganzen Mercedes der Vorsaison kopiert hat.
Das führte zu einem Grundsatzstreit in der Königsklasse. Renault verlangte federführend, dass dem Kopieren Grenzen gesetzt und die echten Konstrukteure vor den Nachahmern geschützt werden. Die FIA hat diesem Wunsch entsprochen und Artikel 22.3.3. des Sportlichen Reglements entsprechend modifiziert, was unter anderem zu einem Verbot von 3D-Kameras, Scannern oder Software führt, die anhand von Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven Designvorlagen für komplexe Formen berechnet.
In Monza haben alle Teams dem Vorschlag zugestimmt. Doch ab wann tritt er eigentlich in Kraft? Dazu Tombazis: "Diese Saison ändert sich nichts mehr. Die Regeln werden erst eine Auswirkung ab 2021 haben. Der Prozess die 2021er Autos zu entwickeln, hat gerade begonnen. Die neuen Regeln schreiben den Teams also schon jetzt vor, wie sie die nächstjährigen Autos bauen müssen."
Die FIA hat einen klaren Schnitt gemacht. Aus ihrer Sicht sind nun alle Autos, die beim Saisonstart 2020 in Spielberg am Start standen, eine legale Basis für die weitere Entwicklungsarbeit. Alles, was danach ans Auto kommt, darf nicht mit Hilfe von "Rekonstruktion" anhand von Fotos erfolgen.
"Die Regeln erwarten nicht, dass Racing Point oder irgendein anderes Team alles auf den Müll wirft, was sie sich dieses Jahr erarbeitet haben. Käme jetzt aber einer daher und würde in Abu Dhabi plötzlich mit einer Kopie des Mercedes auftauchen, dann würden wir das nicht akzeptieren. Und das wäre auch keine akzeptable Basis für das nächstjährige Auto", schränkt Tombazis ein.
Der Token-Streit um Racing Point ist aus Sicht des Verbandes vom Tisch. Verschiedene Teams hatten sich darüber aufgeregt, dass Racing Point im nächsten Jahr für das Upgrade auf das Getriebe und die Aufhängungen des 2020er Mercedes keine Token in Anspruch nehmen muss, während die Ferrari.Kunden Haas und Alfa Romeo ihr komplettes Token-Kontingent verlieren, wenn sie das neue Getriebe von Ferrari kaufen.
Tombazis hält diese Diskussion für einen Sturm im Wasserglas. "Hier wird mit zweierlei Maß gemessen und nicht immer korrekt argumentiert. Einige Teams, zum Beispiel Haas, setzen Teile von dem Ferrari aus dem gleichen Jahr ein. Racing Point kauft Teile vom Vorjahresauto. Wir haben die Homologation aus Kostengründen eingeführt. Was Mercedes und Racing Point machen, spart beiden Parteien Geld, weil es überschüssiges Material aus dem Lager von Mercedes weiterverwendet, und weil der Kunde nicht in die Entwicklung dieser Komponenten investieren muss. Racing Point setzt diese Teile nicht ein, um das Auto schneller zu machen. Das muss man aber von einem Team behaupten, das immer beim aktuellen Auto des Herstellers zugreift. Deshalb wollen wir Racing Point dafür nicht Token wegnehmen."