Mercedes W196 gegen AMG W05

60 Jahre liegen zwischen dem Mercedes W196 und dem AMGW05. Für auto motor und sport mussten die beiden Weltmeister-Silberpfeile nicht nur zum exklusiven Foto-Termin sondern auch zum Technik-Vergleich antreten.
Fünf Tage nach dem Titelgewinn in Abu Dhabi. Ein kalter Novembertag in Stuttgart. Einen Tag vor der WM-Party Stars & Cars am Mercedes-Hauptsitz in Untertürkheim. Zwei der Hauptdarsteller waren schon da. Der Mercedes W196 aus den 50er Jahren und sein Nachfolger, das aktuelle Weltmeister-Fahrzeug AMGW05. Um 9 Uhr morgens standen sie zum ersten Mal vereint vor dem Mercedes-Museum.
Der alte Champion W196 hatte es nicht weit. Er musste nur von seinem Stammplatz im Museum vor den Eingang des Gebäudes gerollt werden. Unter Protesten der Traditionswächter. Mit dem eindringlichen Hinweis, dass dieses Auto bei einer Auktion von Bonhams 2013 den stolzen Preis von 31,6 Millionen Dollar erzielt hat und eigentlich nur hinter geschlossenen Türen fotografiert werden sollte.
Das beste Formel 1-Auto des Jahrgangs 2014 kam aus der Ferne. Er hatte die Reise von seinem Geburtsort im englischen Brackley angetreten und stand bereits auf der Präsentationsbühne für die Veranstaltung Stars & Cars am Tag danach. Doch davor musste er aber noch zum Fototermin. auto motor und sport-Fotograf Wolfgang Wilhelm hatte die beiden PS-Ikonen zum Termin vor das Museum gebeten.
Mercedes W196 und Mercedes AMG W05 schreiben Geschichte
Da standen sie nun, zwei höchst unterschiedliche Rennautos, die eine gemeinsame Geschichte vorweisen können. Sie wurden beide Weltmeister. Der eine 1954 und 1955. Der andere 2014. Man muss kein Wahrsager sein um zu prophezeien, dass der Nachfolger des AMGW05 auch den WM-Titel 2015 gewinnen wird. Womit wieder die Brücke zu den 50er Jahren geschlagen wäre. Und noch etwas haben die zwei Silberpfeile gemeinsam. Beide gewannen den Titel mit dem Audi-Slogan: Vorsprung durch Technik.
Der Mercedes W196 war das beste, das die Motorsport-Technik 1954 zu bieten hatte. Nach damaligen Verhältnissen eine S-Klasse für die Rennstrecke. Die Ingenieure unter der Leitung von Fritz Nallinger und Rudolf Uhlenhaut hatten alles in den Einsitzer gesteckt, was gut und teuer war.
Einen Stahl-Gitterrohrrahmen mit Leichtmetall-Karosserie, Einzelradaufhängung vorne und Pendelachse hinten, mit Drehstabfedern und innen liegenden Trommelbremsen. Das Fahrwerk war so ausgelegt, dass sich hinten der Radsturz automatisch dem Tankinhalt anpasste. Beim Start der damals noch bis zu 500 Kilometer langen Rennen schwappten immerhin 240 Liter Kraftstoff an Bord.
Mercedes leistete sich den Luxus, den W196 in zwei Versionen anzubieten. Undenkbar für die Konkurrenz von Ferrari und Maserati. Den W196 gab es als Monoposto mit freistehenden Rädern und in Stromlinienform im Angebot. Mit verkleideten Rädern lief er auch bei seinem Debüt 1954 in Reims. Erst bei dritten Einsatz am Nürburgring tauchte die GP-Version mit offenen Rädern auf. Die Piloten hatten beim Rennen zuvor in Silverstone angemahnt, dass sie mit der geschlossenen Karosserie den Scheitelpunkt der Kurven nicht präzise anvisieren konnten. Das Sichtfeld war eingeschränkt.
Um die Stirnfläche des Autos gering zu halten, wurde der Reihen-Achtzylinder um 20 Grad zur Seite gekippt. Die Radstände variierten je nach Rennstrecke zwischen 2.150, 2.258 und 2.349 Millimetern. Das Trockengewicht wurde von der Erstversion mit 758 Kilogramm im Laufe der 16 Monate Einsatzzeit auf 690 Kilogramm gedrückt. Die Leistung von zunächst 275 und später 290 PS bei 8.500/min wurde über ein Fünfgang-Getriebe mit Sperrdifferenzial abgegeben.
Motorleistung steigt von 290 auf 820 PS
Der Achtzylinder-Reihenmotor war das Prunkstück der Konstruktion. Motorenchef Hans Gassmann und seine Kollegen betrieben noch keine Geheimhaltung wie heute. Bei einem Bohrung/Hub-Verhältnis von 76,0 x 68,8 Millimeter kam das Triebwerk auf einen Hubraum von 2.496 Kubikzentimeter. Knapp unter der vom Reglement erlaubten Maximalgrenze von 2,5 Litern.
Die Zwangssteuerung der 16 Ventile zur Steigerung der Drehzahlen und der Ventilbeschleunigung (Desmodromik) war zwar schon 40 Jahre zuvor erfunden worden, doch Mercedes konnte dafür mit einer mechanischen Benzin-Direkteinspritzung mit 100 bar Druck aufwarten. Die Kraft wurde in der Mitte der Kurbelwelle abgegriffen. Man nennt das Mittelabtrieb.
Anno 2014 ist ein Motor kein Motor mehr. Die Branche spricht von einer Antriebseinheit, neudeutsch Power Unit. Der 1,6 Liter Sechszylinder mit einem Bankwinkel von 90 Grad, 24 pneumatisch betätigten Ventilen, einer Direkteinspritzung mit maximalem Einspritzdruck von 500 bar und einem Turbolader mit maximal erlaubten 125.000/min ist nur ein Teil der Kraftmaschine, die auf dem komplizierten Namen PU106A-Hybrid hört.
Dazu kommen zwei Elektromaschinen. Die MGU-K speichert beim Bremsen und im Schleppbetrieb des Motors kinetische Energie in die rund 25 Kilogramm schwere Lithium-Ionen-Batterie, die unter dem Tank in der Sicherheitszelle untergebracht sein muss. Die MGU-H nutzt die Wärmeausdehnung der Abgase zur Wiedergewinnung von Energie. Der Ladedruck wird dabei in einem Fenster von 3,0 bis 3,5 bar so konstant wie möglich gehalten. Die Motordrehzahl bewegt sich zwischen 10.000/min und 12.500/min. Das ergibt den enttäuschenden Sound, der im Teillastbereich an einen Rasenmäher erinnert.
Wenn alle Leistungsträger auf Hochtouren laufen, mobilisiert der PU106A-Hybrid rund 820 PS. 2015 sollen 40 bis 50 PS dazukommen. Dagegen nehmen sich die 290 PS aus dem alten Reihenachtzylinder eher bescheiden aus. Vor allem, weil man dafür rund 40 Liter Spezialgemisch pro 100 Kilometer durch die Einspritzdüsen jagen musste. Heute liegt der Verbrauch auf 100 Kilometer mit maximal 45 Litern kaum höher. Bei zweieinhalbfacher Leistung.
Neuer Mercedes AMG W05 80 Zentimeter länger als der W196
Im direkten Vergleich mit dem aktuellen Formel 1 sieht der Silberpfeil von damals aus wie ein Spielzeugauto. Er ist in seiner Gesamtlänge fast 80 Zentimeter kürzer. Er ist auch um 17,5 Zentimeter schmaler. Dafür aber auch um neun Zentimeter höher. Mit 691 Kilogramm ist der AMGW05 ungefähr gleich schwer wie die letzte Version des W196 am Ende der Saison 1955. Allerdings mit Fahrer an Bord. Die 62 bis 65 Kilogramm der Formel 1-Jockeys Lewis Hamilton und Nico Rosberg müssen also für einen echten Vergleich noch abgezogen werden.
Der Rohrrahmen ist längst Vergangenheit. Colin Chapmans Idee des Monocoques löste ihn 1962 ab. Auch Aluminium und Magnesium taugen nicht mehr als Werkstoffe für die Außenhaut. Das Chassis ist heute eine Karbon-Röhre mit Einlagen aus Kevlar und Cylon. Die Räder sind oben und unten an jeweils zwei Querlenkern aus Kohlefaser angelenkt. Am AMGW05 sind sie aerodynamisch optimiert als Flügelprofil ausgelegt.
Vorne wird die Feder/Dämpfereinheit über Druckstreben, hinten über Zugstreben aktiviert. Dazu gibt es jeweils noch ein drittes Federelement, das die Bodenfreiheit justiert und ein viertes, das beim Ein- und Ausfedern das Nachschwingen des Fahrzeugkörpers dämpft. Man nennt die Technik Massenträgheitsdämpfer.
Flügel sucht man beim W196 vergeblich. Dafür sind gleich hinter der Vorderachse zwei horizontale Finnen zu erkennen, um die von den Vorderrädern aufgewirbelte Luft zu beruhigen. Bei den modernen Autos sind die Flügel Kunstwerke. Der Frontflügel des AMGW05 teilt sich in sieben horizontale und drei vertikale Elemente.
Jede Kurve, jede Ausbuchtung und jedes Leitblech im Anschluss an den Flügel lenkt die Luft an eine vorbestimmte Stelle. Entweder um möglichst wenig oder möglichst viel Luftwirbel zu erzeugen. Je nachdem, was der Aerodynamik.r damit bezweckt. Manche Turbulenzen werden absichtlich produziert, um schädliche Luftwirbel vom Auto abzulenken.
Aerodynamik diktiert AMG W05 das Aussehen
Mercedes hatte 2014 nicht nur den besten Motor, sondern auch das beste Auto. Ein Alleinstellungsmerkmal des Weltmeisterautos war seine kurze Nase. Die Konstruktion schaffte den Crashtest zwar erst im vierten Anlauf, doch dank des nur 85 Zentimeter kurz Vorbaus konnte die neue Höhenvorschrift von maximal 185 Millimeter für die Nasenspitze umgangen werden. So strömte mehr Luft unter das Auto, was beim Diffusor als zusätzlicher Anpressdruck ankam.
Ansonsten konnte der Mercedes alles so gut wie der bisherige Trendsetter Red Bull. Das Heck war genauso flach und genauso schlank wie das des Konkurrenzprodukts. Die Kühlung effizienter, der Schwerpunkt tiefer, die Gewichtsverteilung dank der um 18 Kilogramm leichteren Antriebseinheit auf natürlichem Weg näher an der Vorschrift. So konnte Mercedes mehr Ballast dort platzieren, wo man wollte.
Der Auspuff des alten Silberpfeils tritt rechts vom Fahrer mit zwei monströsen Endrohren aus. Heute muss das eine Endrohr laut Reglement im Fahrzeugzentrum unterhalb des Heckflügels münden. Eine Airbox gab es vor 60 Jahren noch nicht. Der Motor bekam seine Luft über den Einlass an der Front des Autos. Und doch verläuft im Heck des W196 von der Cockpitrückwand ein Höcker bis zum rundlichen Hintern des Fahrzeugs, rechts und links von Kühlauslass-Öffnungen flankiert. Auch damals verstand man schon etwas von Aerodynamik.
Maßanzug-Cockpit gegen Clubsessel
Die Reifen kamen 1954 und 1955 von Continental und waren knapp 18 Zentimeter schmal. Die Pirelli-Slicks von heute kommen auf eine Breite von 32,5 Zentimetern. Das Cockpit von 2014 ist ein Maßanzug. Dagegen sieht der Sitz des W196 aus wie ein Clubsessel. Die Fahrer saßen breitbeinig in ihrem Cockpit. Links vom Kardantunnel die Kupplung, rechts davon Gaspedal und Bremsen.
Hamilton und Rosberg verfügen nur noch über zwei Pedale. Die Kupplung wird mit der Hand über Wippen hinter dem Lenkrad betätigt. Die Finger bedienen auch die Schaltung über zwei Hebel, ohne dass der Fahrer die Hand vom Lenkrad nimmt. Juan-Manuel Fangio, Stirling Moss und Karl Kling hatten noch einen veritablen Schaltstock rechts neben dem Sitz in der Hand. Und das mit umgekehrten Schaltschema, wie in grauer Vorzeit üblich.
Da war es gut, dass der Mercedes M196-Motor seine Leistung lediglich über fünf Gangstufen abgab. Hamilton und Rosberg zoomen sich durch die acht Gänge ihres Schnellschaltgetriebes wie bei einem Computerspiel. Der achte Gang kam übrigens zunächst nur in Monza zum Einsatz. Mercedes hatte zu lang übersetzt. Das wurde nach dem GP Italien korrigiert.
Das Lenkrad. In der Gründerjahren der Formel 1 war es ein Wagenrad aus Holz. Knöpfe Fehlanzeige. Drei Armaturen haben Fangio und Co mit den wichtigsten Informationen über Drehzahl, Öldruck und Öltemperatur versorgt.
Heute lenken die Piloten mit einem PC. Darauf ein Digital-Display, das auf Abruf jede Art von Nachricht an den Mann im Cockpit weitergibt. Auf der Vorderseite stehen 21 Schalter, Knöpfe und Drehschrauben zur Verfügung. Motor, Elektroantrieb, Kupplung, Getriebe, Bremskraftverteilung können bei Bedarf neu konfiguriert werden.
60 Jahre zählen im Rennsport wegen der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit doppelt. Das zeigt sich auch an den Rundenzeiten. Monte Carlo ist die einzige Rennstrecke, auf der sich die alten mit den neuen Silberpfeilen vergleichen lassen. Die Streckenführung 2014 ist um 160 Meter länger als 1955 und weist sechs Kurven mehr auf. Trotzdem lag die Pole Position von Nico Rosberg von 1.15,989 Minuten um 25,2 Sekunden unter dem Wert von Juan-Manuel Fangio, der 1955 mit 1.41,1 Minuten auf dem besten Startplatz stand.